Würde man nicht noch immer in Supermärkten und Geschäften – wenn auch neuerdings sehr höflich – um das Anlegen des „Mundschutzes“ gebeten werden, würde einem nicht der altvertraute Gastronom im altvertrauten Lieblingslokal in alberner Zwangsmaskierung begegnen müssen – man hätte es wohl bereits vergessen, warum man bis vor kurzen ein übles Fehlkonstrukt war. Eine Virenschleuder. Handeln sollte man, um „Millionen Tote“ (Horst Seehofer, noch immer Bundesinnenminister) zu verhindern.
Ein Fehlkonstrukt ist man geblieben, ein übles ebenfalls. Nur eben jetzt nicht mehr als Gefahr für die unmittelbare physische Gesundheit seiner Mitmenschen. Handeln ist nach wie vor gefragt. Seit wenigen Wochen ist man nämlich Rassist. Oder nein, das war man schon immer, nur heißt es nun, die vakanten Anti-Corona-Kampf-Energien im Kampf gegen den Rassismus und alle daraus ableitbare Unbill einzusetzen. Historische Schuld und Schulden sind momentan noch angesagter als früher, zumal der Schuldenberg, wie es diese Dinger eben oft so an sich haben, nahezu täglich zu wachsen scheint. Und wenn beim – in Gänze eigentlich gar nicht möglichen – Abzahlen das eine oder andere gleich mit bereinigt wird, umso besser. Spart Energie – aber das wäre ein anderes Thema.
Falls es jemand noch nicht verstanden hatte – von höchster Instanz, vom Herrn Bundespräsidenten persönlich, wurde es dekretiert. „Nein, es reicht nicht aus, ‚kein Rassist‘ zu sein. Wir müssen Antirassisten sein!“ Allerdings ist es so einfach nicht. Herr Steinmeier belehrt uns: „Rassismus erfordert Gegenposition, Gegenrede, Handeln, Kritik und – vielleicht am schwierigsten – Selbstkritik, Selbstprüfung. Antirassismus muss gelernt, geübt und vor allem gelebt werden.“ Gab es etwa jemanden im Lande, der bislang der Meinung war, dass er da einfach so unschuldig rauskäme? Dass ihn das Thema schlicht und einfach nicht beträfe? Dass er mit sich, Menschen, die etwas anders aussehen, reden, leben als er selbst (das betrifft so ziemlich alle anderen), ja eigentlich mit der Welt im Großen und Ganzen im Reinen ist? Nix da! Schuldig. Und da gilt es nun, sich zu verhalten.
Irrtümer über Kant?
Ansätze und Wege in der Lage, wenn auch selbstredend keine endgültigen Auswege, zeigen dieser Tage so einige auf. Die Last der drückenden Vergangenheit kann zumindest etwas abgemildert werden. Der Wind weht in Richtung der aufgesteckten Fahnen, Aufmerksamkeit ist gewiss. Und da braucht man nicht alte Anliegen aus den Schubladen holen, da kann man ganz Neues ventilieren. Vor der Phantasie, die allerdings recht handfeste Ziele verfolgt, fallen Grenzen in bislang unbekanntem Ausmaß. Dass die Gier nach Schlagzeilen eine gewisse Rolle spielen könnte oder in einigen Kreisen – zum Beispiel akademischen – zu viel seltsames Zeug geraucht wird, vermuten dabei allenfalls einige niedere Existenzen. Oder eben Rassisten.
Bislang hielten sicher die meisten Immanuel Kant, auch wenn sie keine Zeile von ihm gelesen hatten, für einen der ganz großen Aufklärungsphilosophen, einen der Deutschen, mit denen man ohne Wenn und Aber überall punkten konnte. Ein Irrtum, wie sich nun herausstellt. Michael Zeuske, Lateinamerika-Historiker, Professor und offenbar ein intimer Kenner des Königsberger Denkers, weiß das richtigzustellen. Dunkeldunkle Schatten auf dem Werk von Meister Kant. In etwas verquerem Deutsch verkündet Herr Zeuske im Deutschlandfunk: „Man muss nur sich klarmachen, was das dann für ‘ne Dimension annimmt, was das ist ja gigantisch, also in Deutschland wird es, gerade wenn man Rassisten bezeichnet und dann Denkmäler stürzen will, muss man eben beispielsweise an Immanuel Kant rangehen. Der hat in seinen anthropologischen Schriften, hat der den europäischen Rassismus mitbegründet.“
Ein wahres Meisterstück ist Jürgen Zimmerer gelungen. Herr Zimmerer, ebenfalls Professor, ebenfalls für Geschichte, und zwar für afrikanische, schafft den Brückenschlag vom Kampf gegen Corona zum Kampf gegen Rassismus. Er plädiert für die Umbenennung des Robert-Koch-Instituts. Besagte Einrichtung und damit auch ihr Namensgeber waren in den vergangen Monaten dauermedienpräsent. Entsprechende Bekanntheit ist also vorhanden. Stimmen, dem Institut solle der Name entzogen werden, gab es in jüngster Vergangenheit ebenfalls. Allerdings mit dem Argument, das Robert-Koch-Institut habe in der „Corona-Krise“ ein erbärmliches Bild abgegeben und sei den von Koch hochgehaltenen wissenschaftlichen Standards in keiner Weise gerecht geworden.
Zimmerer will aus einem ganz anderen Grund umbenennen. Irgendwie sei dieser Koch zwar ein Medizin-Pionier, Bakteriologie, Tuberkulose, Milzbrand, Infektionskram und so weiter, aber… aber eben vor allem ein Rassist. Der „koloniale Rassismus“ sei es gewesen, der ihm bei seinen Forschungen in Afrika über die Schlafkrankheit – die er ausschließlich aus kolonial-wirtschaftlichen Gründen vorgenommen habe – weniger Rücksicht auf die „Afrikaner*innen“ nehmen ließ. Bei seinen Forschungen nach einer wirksamen Therapie habe Koch Nebenwirkungen „offenbar billigend in Kauf genommen“, so der Afrika-Historiker. Und er fragt: „Ist der Name Robert Koch für das 21. Jahrhundert noch geeignet? Kann er wirklich als Leitbild dienen, hat er die Ehre verdient, Namensgeber eines so wichtigen Instituts zu sein? Das ist nicht zuletzt auch eine Frage an die Bundesregierung. Denn wenn es die Große Koalition ernst meint mit der Aufarbeitung des kolonialen Erbes, zu der sie sich im Koalitionsvertrag verpflichtet hat, dann kann man den in kolonialen Diensten reisenden Mediziner Robert Koch wohl kaum als Vorbild hinstellen.“
Kommunismus in einem Höhlen-Paradies?
Robert Koch ist natürlich nur eine der unsäglichen Erscheinungen der Vergangenheit. Daher holte Herr Zimmerer vor wenigen Tagen auch gleich zum Rundumschlag in puncto Denkmäler aus. Im ARD-Morgenmagazin konnte man es sehen und hören: „Solche Statuen“ – Ausgangspunkt war hier die Edward-Colston-Statue in Bristol, die von geschichtsbereinigenden „Aktivisten“ kurzerhand im Avon versenkt wurde, was der Professor für ein „Event“ hält – „muss man nicht nur kommentieren, das ist das Mindeste, sondern man muss sie zu Gegendenkmälern machen und mein Vorschlag wäre, solche Statuen einfach hinzulegen oder auf den Kopf zu stellen oder zu brechen. Man könnte auch andere Denkmäler, wie zum Beispiel das Humboldt-Forum, das ja neugebaut wird, das preußische Schloss, die Fassade mit Stacheldraht aus den Konzentrationslagern brechen, so dass die Sehgewohnheit herausgefordert wird und wir in eine Auseinandersetzung mit der Geschichte, die dahinter steht, gezwungen werden.“
Es gab einmal eine Generation von Historikern, die hätte eingewandt, dass das Erklären und das Einordnen Aufgabe ihrer Profession sei, nicht das Richten. Oder das Vergleichen, die Hinweise auf Dimensionen, Unterscheidungen, vergangene Epochen. Dass nicht jede Passage eines vor über 200 Jahren verfassten Werkes auch heute vorbehaltlos bejubelt werden muss und es trotzdem von einem Meisterdenker verfasst sein kann. Dass Persönlichkeiten die Wissenschaft vorangebracht haben – zu unserer aller Segen übrigens –, deren ethische Maßstäbe in ihrer Zeit als völlig normal galten, nach unserer Auffassung jedoch als inhuman angesehen werden. Dass kaum eine mittels Denkmal geehrte Persönlichkeit der Gutmenschenvorstellung auf Zwölfjährigen-Niveau entspricht. Dass wir seit Anbeginn der Geschichte in einer Art paradiesischem Kommunismus leben würden, allerdings möglicherweise noch immer in Höhlen, wenn der Mensch nicht so wäre, wie er ist. Dass sich Beifall für den spontan denkmalstürzenden Mob in jedem Fall verbietet, insbesondere in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen, welches zivilisierte Wege der Konsensfindung in Streitfragen kennen sollte. Dass man nicht auf Gräber spuckt. Aber das ist wohl dann schon eher eine Benimm-Frage.
Hypermoral, ahistorische Beschränktheit, Hermeneutik, verpenntes Proseminar, Barbarei oder Dummheit wären weitere Stichworte. Besagte Historiker-Generation, die derartige Dinge aufs Tableau bringen würde, ist offenbar ausgestorben. Vielleicht gut so, denn damit bleibt es ihr erspart, darüber nachzudenken zu müssen, warum man die wiederaufgebaute Berliner Schlossfassade mit KZ-Stacheldraht „brechen“ sollte.