Lieber Detlev,
danke für Deine ausführliche Email. Nachdem ich Deinen Text in mein Online-Tagebuch gestellt hatte, bin ich mit Feedback von Achgut-Lesern geradezu überschüttet worden. Die Spanne reichte dabei von enthusiastischer Zustimmung bis zu schroffer Ablehnung, was zumindest dafür spricht, dass Du mit Deinem „Nie wieder Deutschland!“ einen wunden Punkt getroffen hast.
Dass es aus Sicht eines Liberalen oder Libertären vieles gibt, das einen an Deutschland stören kann, ist zwischen uns sicherlich unstrittig. Du hast dafür schon sehr gute Beispiele gefunden. Aus liberaler Perspektive ist es selbstverständlich bedrückend, wenn sich wie in der von Dir zitierten Umfrage der ZEIT große Mehrheiten für einen (noch) stärkeren Staat in Deutschland aussprechen. Aber was würde wohl bei einer solchen Umfrage in Großbritannien herauskommen? Glaubst Du wirklich, dass die Mehrheitsverhältnisse hier so viel anders ausfielen?
Was mich aber grundsätzlich an Deiner Argumentation irritiert, sind ihre biologistischen Züge. Du schreibst: „Die Deutschen wollen den starken Staat. Basta. So ist ihr Denken. Das ist ihr genetischer Code. ... Das ist der deutsche Geist.“ Und an anderen Stellen schreibst Du, dass die Engländer noch mehr „liberales Blut“ in den Adern hätten als die Deutschen.
Aber ist das nicht eine – in dem von Dir kritisierten Sinne – sehr „deutsche“ Argumentationsweise? Sie spricht zumindest nicht für ein besonders liberales, individualistisches Denken, denn sie geht merkwürdigerweise von Kollektiven aus. „Die“ Deutschen und „die“ Engländer gibt es meiner Meinung nach nicht. Und auch keinen quasi-biologischen Determinismus, der die Deutschen in die Armes des Staates leitet und die Engländer zur Freiheit führt. Weder Staatsgläubigkeit noch Liberalismus haben eine Heimat, sondern sie sind Geisteshaltungen von Individuen.
Sowohl in England als auch in Deutschland habe ich Staatsgläubigkeit und Staatsskepsis erlebt, und wenn mich mein Eindruck nicht trügt, dann sogar in vergleichbarer Weise. In Deutschland stellt man in diesen Tagen mit Verwunderung fest, dass es dort seit neuestem angeblich eine strukturelle linke Mehrheit gibt. Wenn ich mir die Wahlergebnisse der letzten Unterhauswahlen ansehen, dann gibt es diese im Vereinigten Königreich aber schon viel länger. Margaret Thatchers bestes Ergebnis waren 43,9 Prozent der Stimmen, die nur dank des britischen Wahlrechts zu einer deutlichen Parlamentsmehrheit reichten. Spätestens seit Mitte der 1970er Jahre entfielen mehr Stimmen auf „linke“ Parteien als auf (klassisch) liberale oder konservative. Ganz so weit her kann es mit der Verbreitung des Liberalismus im Vereinigten Königreich also nicht sein.
Kennst Du eigentlich noch den Ausdruck „The man in Whitehall knows best“? Das ist das britische Pendant zum deutschen „Der Staat wird es schon richten“ – aber es ist doch ein und dieselbe Staatsgläubigkeit.
Und wo war der „liberale genetische Code“ der Briten, als sie bis weit in die Nachkriegszeit die Planwirtschaft ausprobierten, große Industrien unter die Kontrolle des Staates stellten, den staatlichen Gesundheitsdienst einrichteten, die Eisenbahn und die Bank of England verstaatlichten? All dies übrigens, als Ludwig Erhard in Deutschland die Preiskontrollen aufhob und die Soziale Marktwirtschaft einführte (von der Erhard übrigens immer wieder betonte, dass die Marktwirtschaft in sich sozial sei und nicht durch den Staat „sozial“ gemacht werden müsse).
Natürlich hat es nach der unmittelbaren Nachkriegszeit in Großbritannien eine Margaret Thatcher gegeben, während Erhards Ideen in Deutschland schleichend in den Hintergrund gedrängt wurden. Aber zumindest halte ich es für falsch, den Liberalismus ausschließlich in dem einen und die Staatsgläubigkeit ausschließlich in dem anderen Land zu verorten. Um es auf den Punkt zu bringen: Großbritannien und Deutschland sind für mich letztlich beide Beispiele der „mixed economy“. Sie unterscheiden sich weniger als die Deutschen denken und die Briten (und Du) vielleicht wahrhaben möchten.
Detlev, Du schreibst über Deutschland: „Als Libertärer kann ich dort nicht sein.“ Aber wo soll ein Libertärer dann schon sein können? Besuche die Länder, die Du für einigermaßen liberal hältst und frage Deine libertären Freunde nach ihrer jeweiligen politischen Zufriedenheit. Sie werden Dir überall ihr Leid klagen, und Du wirst nirgendwo ein Land finden, das Deinen politischen Vorstellungen entspricht. Aber darauf kommt es doch auch gar nicht an. Denn Du kannst Dich dort, wo Du bist, für Deine Ansichten engagieren, in welcher Form auch immer.
Kann ich also als Liberaler in Deutschland sein? Ja, natürlich. Und kann man sich in Deutschland wohlfühlen? Warum denn nicht? Wenn man sich die deutsche Lebensqualität ansieht, dann würde ich behaupten, dass sich mindestens drei Viertel der Weltbevölkerung über einen vergleichbaren Wohlstand freuen würden. Wenn ich nach der Zeit, die ich inzwischen im Ausland gelebt habe, überhaupt irgend etwas als „typisch deutsch“ betrachten würde, dann ist es die Tatsache, dass „die“ Deutschen dazu neigen, das, was sie haben, als selbstverständlich hinzunehmen und sich dafür lieber mit Inbrunst der Analyse ihrer Fehler widmen.
Wenn Du Deine Zukunft in England siehst, dann wünsche ich Dir dafür alles Gute. Es gibt auch ohne Zweifel Dinge, die man an England schätzen und lieben kann: den Humor oder ein gutes Ale zum Beispiel. Aber es gibt auch Entwicklungen, die ich für beunruhigend halte, zum Beispiel die britische Regulierungswut oder die merkwürdig unschlüssige Haltung gegenüber den immer klarer zutage tretenden Segregationstendenzen (Stichwort „Londonistan“). Und dann gibt es auch ganz praktische Dinge, die es einem schwerfallen lassen, England – oder zumindest London – zu genießen: der täglich kollabierende Nahverkehr, die exorbitanten Hauspreise oder die dreckigen Krankenhäuser mit ihren monatelangen Wartelisten.
Und daher kann ich mir sehr wohl vorstellen, dass mich mein Weg irgendwann wieder nach Deutschland zurück führt. Und wo sonst könnte ich mich als Liberaler so schön grün, gelb, rot und schwarz ärgern?
Alles Gute,
Oliver