Nichts über den real existierenden Sozialismus gelernt

Ein Grund für den allgemeinen Niedergang dieses Landes dürfte auch darin zu suchen sein, dass viele Schülergenerationen nichts über den real existierenden Sozialismus gelernt haben. Zum Tag der deutschen Einheit. 

Ohne Dringlichkeit, ohne Materialität ist Erinnerung nicht möglich“ (Hannah Arendt)

Neulich hatte ich ein Déjà-vu, als ich auf das Zitat aus einer Reportage von Steve B. Peinemann im Merian, Ausgabe „Schleswig-Holstein“ (Heft 12/1985, Seite 52f.), „Autostopp ins Abseits – Erlebnisse in lauenburgischen Randlagen“, stieß. Scharfsichtig schrieb er damals:

Der neue Tag findet mich in Lübeck an der Moltke-Brücke, wo die Wakenitz-Schiffe starten sollen. Natürlich können Sie bis Ratzeburg durchlösen, das wird dann billiger, sagt der Jüngling in Uniformjacke ... Wir wollen, sagt der Schiffsführer, uns hier nicht mit Politik aufhalten, sondern die wunderbare Landschaft genießen. Bei sonnenblauer Hitze zieht auf dem linken Ufer die offene deutsche Frage an uns vorbei. Keinen kümmert das: Dies könnte auch Italien sein oder Mallorca. Wieder zwinge ich einer Schülergruppe ein Gespräch auf und erhalte die gewohnten Antworten: Klassenreise, den Schiffsausflug mitnehmen, die Grenze im Unterricht nicht durchgenommen, wieso auch.

Verblüffend die Übereinstimmung mit meinen eigenen verstörenden Erfahrungen. In etlichen Gesprächen schlugen mir bei diesem Thema nicht selten peinlich berührte Gesichter oder Unkenntnis und Desinteresse entgegen, sofern man nicht selbst durch familiäre Bande von der Teilung Deutschlands unmittelbar betroffen war. Doch auch dann wurde dieser Umstand oft kleingeredet. Es ist dies für mich bis heute Ausdruck eines gestörten Verhältnisses der Deutschen zu ihrem eigenen Land geblieben.

Katastrophale Bildungslücken

In meiner Schule wurde das Thema ebensowenig behandelt. Weder im Unterricht noch auf einer Klassenreise in unmittelbarer Nähe zur innerdeutschen Grenze wurde auch nur ein einziges Wort über die Teilung verloren. Letzteres war besonders grotesk, da wir die Grenzsperranlagen aus der Ferne sehen konnten und weil hier ihre mörderische Brutalität nackt und ungeschminkt zum Ausdruck kam.

Über den real existierenden Sozialismus, über das Menschenverachtende dieser Ideologie, des SED-Regimes gar, erfuhren wir als Schüler nichts; überhaupt war es verpönt, daran Kritik zu üben. Wer es dennoch wagte, oder wer offen für Freiheit und Selbstbestimmung für die Deutschen „drüben“ seine Stimme erhob, erst recht aber, wer für die Wiedervereinigung plädierte, konnte sicher sein, mindestens schief angesehen zu werden. Um die offene deutsche Frage machten die meisten Lehrer lieber einen großen Bogen. Auffallend verklärt wurde der Sozialismus von den 68er-Lehrern. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt?

Es fällt schwer, da nicht an eine wohlkalkulierte Absicht zu denken, zumal wir aktuell gerade die Vollendung des lange angekündigten „Marsches durch die Institutionen“ erleben. Die 68er haben uns nicht die Freiheit gebracht – das ist ein unausrottbarer Mythos –, sie haben vielmehr dazu beigetragen, sie immer mehr zugunsten einer vermeintlichen Gleichheit zu opfern und viel zu oft empathielos auf das Schicksal unserer eigenen Landsleute zu schauen, obwohl die Deutschen 1989/90 so eindrucksvoll das Gegenteil bewiesen hatten. Dazu passt, dass der Soziologe Klaus Schroeder regelmäßig (siehe hier und hier) nicht nur Jüngeren, sondern ebenso der Durchschnittsbevölkerung eklatantes Nichtwissen über Mauerbau und SED-Diktatur bescheinigt. Fragen nach dem Cui bono? kann jeder selbst beantworten.

In der grassierenden Geschichtsvergessenheit ist mit Sicherheit eine der Ursachen für den beklagenswerten Niedergang dieses Landes zu suchen. Oder, wie Helmut Kohl, der auch ausgebildeter Historiker war, es in einer Bundestagsrede (Plenarprotokoll 13/41 vom 01.06.1995, S. 03183sagte: „Wer von bestimmten Erfahrungen und Leiden nichts mehr hören will, der wird für den, der sie in ihrer ganzen Schrecklichkeit erleben musste, weniger glaubwürdig. [...] Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“ Liest man dies, ist man geneigt, ihm zuzustimmen.

Ringen der Deutschen um Freiheit kein Thema im Unterricht

Es dürfte auch kaum Zufall sein, dass sich der Eindruck verfestigt hat, den Deutschen sei die Freiheit egal, obwohl dagegen der Befund spricht, sie fühlten sich unfrei wie schon lange nicht mehr. Wie auch immer, um den Wert der Freiheit erfassen zu können, erscheint es unerlässlich, ihm auch das Los der Unfreiheit gegenüberzustellen. Das ist nicht geschehen. Nicht etwa aus Unvermögen oder Dummheit, sondern vor allem aus Leisetreterei gegenüber sämtlichen sozialistischen Diktaturen, zu einer Zeit, als der Unterschied zwischen Freiheit und Unfreiheit noch buchstäblich erfahrbar war, und zwar mitten im eigenen Land – falls man denn genau hinzuschauen gewillt war. Doch genau das waren viele nicht, erst recht nicht in der Schule.

Das Ringen der Deutschen um Freiheit und Einheit wurde im Unterricht vielerorts geradezu peinlich verschwiegen. Im Osten aus Prinzip. Im Westen aus Feigheit und Charakterlosigkeit. Erst recht wurde nicht über den 17. Juni 1953 gesprochen – außer vielleicht in bayrischen Schulen. Folgerichtig kann so gut wie niemand beispielsweise mit dem Namen Paul Othma, dem „Löwen von Bitterfeld“, etwas anfangen. Sehr im Gegensatz zu Rosa Luxemburg, von der zwar das schöne Zitat stammt, Freiheit sei immer auch die Freiheit des Andersdenkenden, nur dass wohlweislich verschwiegen wird, dass gerade sie als waschechte Kommunistin in Wahrheit mit der Freiheit Andersdenkender nichts am Hut hatte.

Seltsam sollte auch anmuten, dass zum 60. Jahrestag des Mauerbaus am diesjährigen 13. August – soweit ich es überblicke – niemand auf die Idee kam, gerade darin auch einen Beweis für den unbeugsamen Willen vieler Deutscher zur Freiheit zu sehen. Die Mauer wurde schließlich deshalb errichtet, um dem Streben von Millionen Deutschen nach einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung einen Riegel vorzuschieben. Die Errichtung der Mauer wurde von den Deutschen dabei keineswegs protestlos hingenommen, weder im Westen noch im Osten, wie Hubertus Knabe dankenswerterweise richtiggestellt hat.

Und so, wie das ausgedehnte Spitzelnetz des Staatssicherheitsdienstes zeigte, dass die SED keinerlei Vertrauen in die eigene Bevölkerung besaß, bewies es doch zugleich auch, dass die Partei nur zu gut wusste, dass sie dem Drang der Menschen nach Freiheit nur mit Überwachung, Einschüchterung, Druck, Zwang und Folter in ihren Gefängnissen (lesen Sie dazu auch den Bericht von Achgut-Autor Manfred Haferburg und diesen Artikel von Gastautor Hubertus Knabe) beikommen konnte. Die nahezu lückenlose Überwachung der Menschen erfolgte nach der Devise: „Jeder ist ein potentielles Sicherheitsrisiko. Um sicher zu sein, muß man alles wissen. Sicherheit geht vor Recht.“ [1] Das alles ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Kann es da verwundern, wenn die Freiheit heute wieder auf vielfältige Weise bedroht ist, dass selbst ausgewiesene Verfassungsrechtler wie etwa Rupert Scholz und Hans-Jürgen Papier Alarm schlagen?

Vom Todesstreifen zum „Lebensstreifen“

Begibt man sich aber auf die Spuren der fast 1.400 Kilometer langen ehemaligen innerdeutschen Grenze, werden Erinnerungen auf Schritt und Tritt wieder wach. Auf diesen Pfaden zu wandern, kann deshalb – so man nicht total gefühlskalt und geschichtsvergessen ist – zu einem emotionalen Wechselbad werden.

Während die Natur sich ihr Gebiet zurückerobert hat und in der Regel die Augen, aber auch die Ohren des Betrachters zu erfreuen imstande ist, ist die Beschäftigung mit der Historie dieses Gebietes eine eher aufwühlende Angelegenheit, weil unmittelbar erfahrbar. Gefühle von Entsetzen und Trauer, von Erleichterung und Dankbarkeit vermischen sich miteinander wie sonst selten an anderen Orten.

Diese über Jahrzehnte äußerst lebensfeindliche Demarkationslinie, die Deutschland – um das Wort einmal zu gebrauchen: brutalstmöglich – in zwei Teile zerschnitt, „Grünes Band“ zu nennen, klingt mir in Kenntnis ihrer Geschichte deshalb einerseits reichlich euphemistisch. Andererseits finde ich die Idee auch wieder nicht schlecht. Im Gegenteil. Aus dem ehemaligen Todesstreifen einen Streifen sprichwörtlich blühenden Lebens zu machen – darin kann man, wenn man so will, auch einen Sieg über die menschenverachtende Diktatur sehen. Einen Sieg des Lebens über den Tod. „Lebensstreifen“ statt Todesstreifen.

Vergessene Realität im geteilten Deutschland

Als mich mein Urlaub kürzlich nach Norddeutschland, und dort in einen Teilabschnitt des „Grünen Bandes“, verschlug, stieß ich auf eine Tafel mit einem Zitat von Marion Gräfin Dönhoff: „Nirgendwo sonst in der Welt gibt es eine Grenze, die so verschiedene Welten voneinander trennt, nirgendwo sonst spielt es eine so entscheidende Rolle, ob man 100 Meter weiter rechts oder links geboren wird.“ In der Tat war das viel zu lange die heute fast schon vergessene Realität im geteilten Deutschland.

Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ vom 10. Dezember 1948, Art. 13, musste da für die betroffenen Menschen wie Hohn klingen: „Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“ Davon konnte gerade für Deutsche östlich des Stacheldrahtes keine Rede sein. Nicht einmal in ihrem eigenen Land, in Deutschland, durften sie sich frei bewegen.

Doch nicht nur das. Mit der Teilung Deutschlands wurden Familien auseinandergerissen, zahlreiche historisch gewachsene und gemeinsam verwaltete Ortschaften und Regionen getrennt, Wirtschaftsräume zerstört, Verkehrswege unterbrochen und Städte wie etwa Lübeck und Hamburg ihres Hinterlandes beraubt. Die westlich der Grenze liegenden Gebiete wurden zu abgeschlagen liegenden Zonenrandgebieten. Ihren allgemeinen Verfall vermochte bis 1990 auch die Zonenrandförderung nur abzumildern, nicht aufzuhalten.

Der Wirkung dieses Ortes konnte ich mich nur schwer entziehen

Eine Station meiner Wanderung galt der kleinen Gedenkstätte zu Ehren Michael Gartenschlägers in dem nach ihm benannten „Gartenschläger-Eck“. Nach einem langen Weg durch den Wald gelangte ich schließlich zu der Stelle, an der Michael Gartenschläger am 30. April 1976 von einem Stasi-Sonderkommando aus einem Hinterhalt erschossen worden war.

Die Gedenkstätte ist schlicht gehalten, aber vielleicht wirkte sie deshalb umso eindrücklicher auf mich. Ein Metallkreuz ist dem ursprünglichen Holzkreuz mit Messingschild gewichen. In der Mitte steht, weiterhin nach Osten gerichtet, eine kleine Tafel mit Name, Geburts- und Sterbedatum. Am Fuße des Kreuzes befindet sich ein gerahmtes Bild von dem jungen Mann, versehen mit der Aufschrift „Michael Gartenschläger – Opfer der SED-Diktatur“. An Elementen des einstigen Metallgitterzauns sind Informationstafeln angebracht, auch ein deaktivierter Selbstschussautomat SM 70 ist dort als Anschauungsmaterial montiert. Tritt man aus dem Wald heraus, wird der Blick auf eine mit Heidekraut bewachsene Lichtung frei.

Es gelang mir nicht, mich an dem gerade wunderbar blühenden und sonnenbeschienenen Heidekraut zu erfreuen, in dem es von Bienen nur so wimmelte – eigentlich eine wahre Augenweide. Denn an dieser Stelle kann man den einstigen Verlauf des Todesstreifen nicht nur erahnen, sondern durch die erhaltene, endlos lange, schnurgerade Schneise durch den Wald wirklich noch sehen. Die hier weit und breit nicht mehr vorhandenen Sperranlagen tauchten mühelos vor meinem geistigen Auge wieder auf; der Wirkung dieses Ortes konnte ich mich nur schwer entziehen. Ich habe ihn bald wieder verlassen.

Lauter vergessene Geschichten

Etwas weiter im Norden, zwischen Fortkrug und Leisterförde, sind auf einer winzigen Außenfläche einzelne Elemente der Grenzsperranlagen zur Erinnerung und Mahnung aufgestellt worden und mit kleinen Infotafeln versehen. Ehemalige Grenztürme sucht man in dieser Gegend vergebens – eine aufgebrachte Bevölkerung hatte sich aus durchaus nachvollziehbaren Gründen gegen ihren Erhalt gewehrt. Das hätte ich damals auch. Nicht etwa, um zu vergessen, sondern um die viel zu lange offene und schmerzhafte Wunde zu heilen. Heute, denke ich manchmal, sind eher zu viele Spuren verwischt worden, um der Nachwelt die ganze Widerwärtigkeit dieser Grenze vor Augen führen zu können.

Weiter nördlich gelangt man zum Ratzeburger See und Schaalsee. In dieser Umgebung liegt das Museum Grenzhus Schlagsdorf, das ausführlich über die Auswirkungen der Teilung in diesem Gebiet zwischen den Kreisen Herzogtum Lauenburg und dem heutigen Nordwestmecklenburg mit einem 2018 neu gestalteten Ausstellungskonzept informiert. Es beherbergt ein Museum mit einer Außenanlage, in der Originalteile der Grenzsperranlagen ausgestellt sind. Sie stehen hier nicht am Originalstandort, sondern sind aus verschiedenen Standorten der Umgebung auf kleinem Raum zusammengetragen worden. Hier findet man einen alten Wachturm. Informationstafeln in einem „Grenzparcours“ rund um den Mechower See runden das Angebot ab.

Auch an Flüchtlingstrecks aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die hier das Gebiet durchzogen, wird erinnert – wie sie auf ihrer panischen Flucht vor der Roten Armee nur wenige Tage vor Kriegsende von britischen Tieffliegern in unmittelbarer Nähe des Mechower Sees, des Dorfes Wietigsbek, angegriffen wurden. Eine Tafel am Ortsausgang erzählt dort die wechsel- und leidvolle Geschichte dieses Ortes.

Meine Wanderung startete ich westwärts um den Mechower See. Zuerst kam ich an der aus dem 12. Jahrhundert stammenden Dorfkirche in Schlagsdorf vorbei. Sie steht auf einer kleinen Anhöhe. Aus einem Buch erfuhr ich: Von einem ihrer Turmfenster aus war es möglich, hinüber nach Ratzeburg zu sehen. Deshalb wurde es auf Weisung der SED mit Backsteinen zugemauert, um jeglichen Blick auf die nahegelegene Stadt zu unterbinden.

Gebietsaustausche und geschleifte Dörfer

Das Dorf Mechow, nach dem der See benannt wurde, liegt heute übrigens im Kreis Herzogtum Lauenburg. Es gehörte bis 1945 zu Mecklenburg. Durch einen zwischen Briten und Sowjets vereinbarten Gebietstausch („Barber-Lyaschenko-Abkommen“) wurden die bislang zu Schleswig-Holstein gehörigen Gebiete am Schaalsee um Dechow, Thurow und Lassahn im November 1945 zum Entsetzen der dortigen Bevölkerung der sowjetischen Besatzungszone zugeschlagen, während die einstmals mecklenburgischen Gemeinden um Ziethen, Wietingsbek, Bäk und Mechow nun zur britischen Besatzungszone kamen – zum Zwecke einer Begradigung der Demarkationslinie. Übrigens: Am 2. Dezember 2014 hat der Landtag von Schleswig-Holstein den bisher einzig noch bestehenden Hinweis auf diesen Gebietstausch in Art. 58 aus seiner geänderten Verfassung gestrichen. Ersatzlos. Wie geschichtsvergessen auch hier.

Nachdem ich Schlagsdorf verlassen hatte, gelangte ich in das heute 207 Hektar große Naturschutzgebiet „Steinerne Rinne und Mechower Holz“. Es gehört zum Kerngebiet der wald- und seenreichen hügeligen Schaalseelandschaft. Es handelt sich um eine strukturreiche, eiszeitlich geprägte Rinnenlandschaft mit ausgedehnten Wald- und Offenlandflächen. Die Rinne wurde durch das aufgetaute und abfließende Gletscherschmelzwasser geprägt. Mit etwas Glück kann man hier sogar unser Wappentier, den Seeadler beobachten.

Tafeln rund um den See informieren ausführlich über Grenzverläufe, Grenzsperranlagen, geglückte und missglückte Fluchten; über die rücksichtslosen, zutiefst menschenverachtenden Zwangsaussiedlungen der Bewohner aus den grenznah gelegenen Dörfern in den Jahren 1952, 1961 und in den 1970er Jahren, sowie über mutwillig zerstörte, „geschleifte“, meist jahrhundertealte Dörfer, wie beispielsweise Neuhof im Norden und Lankow im Süden des Mechower Sees. Sie wurden dem Erdboden gleichgemacht. Heute sind nur noch Gedenksteine sowie hier und da alte Fundamente und Kacheln im Boden stille Zeugen, die daran erinnern, dass hier einmal Häuser und Gehöfte standen.

Durch und durch mörderische Grenze

Im übrigen ist es ein Trugschluss, zu glauben, die einstige innerdeutsche Grenze sei nur für die Menschen mörderisch, aber für die Natur insgesamt ein Segen gewesen. Um ein freies Schussfeld zu schaffen, wurden Wälder gerodet und dabei auch wertvoller alter Baumbestand vernichtet; im Todesstreifen wurde jede Menge Unkrautvernichtungsmittel ausgebracht. Unzählige Wildtiere erlitten durch explodierende Minen einen qualvollen Tod.

Die scharfkantigen Metallgitterelemente, die beim Hineinfassen leicht schwere Verletzungen nach sich ziehen konnten, und Stacheldrahtrollen wurden selbst durch Gewässer gezogen, bis tief hinunter auf die Gewässerböden, so zum Beispiel im benachbarten Lankower See. Auf dem zugefrorenen See mussten Grenzhunde bis zum Auftauen des Eises ausharren; die meisten überlebten diese Tortour nicht. Beim Anblick der alten Fotografien, auch mit den Hundelaufanlagen, lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Tierquälerei pur war das. Da liest es sich wie ein schlechter Witz, dass in Teilen der Metallgitterzäune für Niederwild kleine, für Menschen definitiv nicht durchgängige Löcher eingesetzt worden waren, damit die Niederwildpopulation genetisch nicht zu sehr verarmte.

Aufmerksame Besucher können noch heute auf der Ostseite des Mechower Sees zwischen Wietingsbek und Schlagsdorf anhand der Vegetation (Offenlandschaft sowie in unmittelbarer Ufernähe auffallend junger Baumbestand) gut die Schneise erkennen, welche die breiten Grenzsperranlagen durch die Landschaft gezogen hatten. Die eigentliche Grenze verlief am Westufer des Mechower Sees; der gesamte See lag unzugänglich, Schlagsdorf befand sich im 5 Kilometer breiten Sperrgebiet, in das nur seine Bewohner und ausgewiesene Besucher Zugang hatten. Aber selbst diese konnten den See weder sehen noch erreichen.

Damals Wehmut, heute Dankbarkeit

Ich musste daran denken, wie ich im Mai 1989 Ratzeburg besucht hatte und dabei an der Straße ein weißes Hinweisschild erblickte, mit der Aufschrift: „Zonengrenze (gesperrt) 10 km“. Ja, das stand tatsächlich drauf: Zonengrenze. Drüben war schließlich auch Deutschland, woran ein entsprechendes Schild noch in den 1980er Jahren an manchen Stellen westlich dieser unmenschlichen Grenze erinnerte. Damals überkam mich ein Gefühl aus Beklemmung, Wehmut und Trauer. Wie gerne wäre ich doch 'rüber' gefahren. Einfach so.

Dieser Traum hat sich längst erfüllt. Gottseidank. Und doch mischt sich in das heutige Gefühl der Dankbarkeit eine neue Art von Beklemmung, wenn ich an den besorgniserregenden Zustand der Freiheit und des Rechtsstaates in Deutschland denke. Schwer vorstellbar, dass dies möglich gewesen wäre, wäre der Sozialismus nicht über Jahrzehnte so exzessiv verklärt, wären seine menschenverachtenden Realitäten nicht von so vielen so lange geleugnet worden.

Ebenso wie zu meiner Schulzeit hat man noch heute nicht das Geringste zu befürchten, schmückt man sich mit Ikonen und Devotionalien dieser Ideologie. Aber wer das Lied der Deutschen zitiert, macht sich verdächtig. Dass es auf den Feierlichkeiten zum diesjährigen Tag der Deutschen Einheit nur gespielt, aber nicht gesungen werden soll, ist sicher nur reiner Zufall, und wer von Geschichte keine Ahnung hat, den wird das auch an nichts erinnern.

 

Literaturempfehlung zum Thema:

Anne Haertel: Band 1: Grünes Band – Der Norden. Von Walkenried ins Ostseebad Boltenhagen. 33 Tagestouren. Band 2: Grünes Band – Der Süden. Von Bad Elster bis Walkenried. 37 Tagestouren. Auf dem Fernwanderweg entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Trescher Verlag, Berlin 2020 und 2021.

Weitere Quelle

[1] Manfred Schell, Werner Kalinka: Stasi und kein Ende. Die Personen und Fakten. DIE WELT/Ullstein 1991, Seite 18.

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Florian Teubert / 03.10.2021

1990 begann, was heute üblich ist. Während ich als westdeutsches Kind mit Verwandtschaft in Leipzig bis 1989 jährlich miterlebte, wie bedrängend und trist das Leben in der DDR war, wie unser Käfer an der Grenze regelmäßig auseinandergenommen wurde, wie wir Westpresse in Konservenbüchsen über die Grenze schmuggelten, wie traurig Abschiede auf Bahnhöfen sein können, schien sich mit der Öffnung der Grenze neue Perspektiven zu ergeben. Für jeden, der die DDR als Unterdrückungssystem wahrnehmen konnte, implizierte die Öffnung die Bestrafung der Täter und die Aufarbeitung der Geschichte sowie die Notwendigkeit einer ausgeprägten Erinnerungskultur. Bald schon befremdete mich, dass all das nur halbherzig erfolgte. Vielmehr etablierte sich sukzessive eine zunehmend akzeptierte Opferkultur: Viele Ostdeutsche sahen sich nach dem Abklingen der ersten Freiheitseuphorie nicht primär als Opfer des DDR-Staats, sondern als Opfer der “Westler”, von denen sie sich bevormundet wähnten. Thesen wie “Früher war auch nicht alles schlecht” - im Hinblick auf den Nationalsozialismus unvorstellbar -, wurden zunehmend auch im Westen akzeptiert. Um die “Opfer” nicht auszugrenzen, verzichtete man - so weit, wie das möglich war - auf gründliche Aufarbeitung. DDR-Verklärungen im Stile der “Sonnenallee” dominierten das Bild, und das war ja auch viel netter.  Höhepunkt der Ignoranz gegenüber der Geschichte ist jüngst Merkels Schweigen zum sechzigsten Jahrestag der Mauer. Eine Parallele dazu bildet heute der Umgang mit dem Islam. Statt Zugewanderte aus islamischen Staaten als Opfer ihrer politischen Systeme und einer falsch verstandenen Religion zu betrachten, stilisiert man sie zu Opfern der westlichen Werte. Was diesem Narrativ entgegenläuft, wird vom politisch-medialen Mainstream ausgeblendet.  Und so wie allmählich längst tot geglaubte sozialistische Ideen Raum greifen, so wird auch der kulturrelativistische Umgang mit dem Islam nicht folgenlos bleiben.

Peter Thomas / 03.10.2021

Kühlungsborn. Ich habe keine Erinnerung an meinen ersten Urlaub am Meer. Um die sieben Jahre muß ich alt gewesen sein. Das wäre 1972 gewesen. Daß es Kühlungsborn war, weiß ich nur aus dem Fotoalbum. Ein kleiner Junge in Badehose am Strand, der Himmel bedeckt. Heuer war ich zum zweiten Mal in Kühlungsborn, in der Woche vor dem Wahlsonntag. Alles sauber, alles schick, alles reguliert und alles voller Menschen. Als ich den Wachturm sah, war mein erster Gedanke, da hätten sich ein paar Freaks eine makabere Touristenfalle ausgedacht; wir hielten Abstand. Anderntags aber sahen wir uns das Ding doch aus der Nähe an. Ein grauer Turm aus Betonringen mit einer Stahltür unten und einer Kanzel obendrauf, rundum befenstert und mit Schießscharten ausgestattet. Am Boden Zaunelemente mit Tafeln mit Bildern und Texten. Bilder und Texte von Fluchtversuchen über die Ostsee. Der Turm war echt. Ein Verein hat ihn vor dem Abriß bewahrt. Erstaunlich viele Menschen sahen sich die Tafeln, den Turm und das kleine Museum daneben an. Ein Arzt schwamm 50 Kilometer in die Freiheit. Deshalb wurde der Turm gebaut, im Jahr 1972. Viele aber ertranken, und viele endeten im Zuchthaus. Im September 2021 habe ich das erste Mal in meine Leben einen Grenzwachturm der DDR bestiegen. Ich sah auf die Strandkörbe und die Seebrücke hinab und fühlte mich vereisen. Ich stieg die Leitern hinab. Unten wartete meine Frau. Die DDR hat es nie gegeben. Und nun ist sie wieder da.

Gerhard Schmidt / 03.10.2021

Im damals roten Hessen der 80er Jahre lehrten an meiner Schule vor allem SPD-Leute und sonstige Rote. Die Teilung war, falls überhaupt thematisiert, die angemessene Strafe für den NS und daher in Ordnung und die DDR eher Vor- als Schreckbild…

P. Wedder / 03.10.2021

Einer Freundin in Brandenburg habe ich vor ca. 4 Jahren erzählt, dass sie DDR-Zeitzeugen, die auch dort im Gefängnis saßen, für Schulstunden (vor Ort in der Schule; bundesweit)  oder Führungen im ehemaligen Stasigefängnis Berlin-Hohnschönhausen buchen kann. Sie hat mir erklärt, dass Brandenburg bildungstechnisch noch immer die “kleine DDR” sei und sie ihren Kindern nicht die Schulnoten versauen möchte. Es sollten aber so viele Buchungen vorgenommen werden wie möglich, denn wer weiß, wie lange es sie noch gibt. Gerade in der Schule, habe ich den Eindruck, wird die DDR-Zeit immer mehr romantisch verklärt,

Pedro Jimenez / 03.10.2021

Warum viele damals die Menschenrechtsverletzungen in der DDR bei uns im Westen (hier: Bremen in der vorsozialisitschen Zeit der Achtziger) nicht Ernst nahmen kann auch mit der Instrumentalisierung durch eine damals als revanchistisch empfundene Union zusammenhängen. Ähnlich, wie das Schicksal der Vertriebenen (und Ermordeten) oder der verbrannten Kinder/Frauen/Alten oder ganz einfach der Soldaten, durch politische Vereinnahmung der vermeintlich Falschen als Tabu galt. Ist heute ähnlich mit grünbesetzten Themen, die ja teilweise auch vernünftig sind (Promillebereich:)

Gerald Weinbehr / 03.10.2021

“Es ist dies für mich bis heute Ausdruck eines gestörten Verhältnisses der Deutschen zu ihrem eigenen Land geblieben.” - Dazu kann man sich das gestrige “Wochenendjournal” in der DLF-Mediathek antun. Titel: “Schwarz, Rot, Gold - die dt. Debatte um nationale Symbole”. Die Grüne Jugend will Deutschland so schnell wie möglich beseitigen. Offene Grenzen, One World, Weltbürgertum. Mit Begriffen wie Heimat oder nationaler Kultur können diese durchideologisierten Realitätsflüchtlinge nicht nur nichts anfangen, sie sind ihnen ein Graus.

Dirk Jungnickel / 03.10.2021

Sehr geehrte Sabine Drewes, meinen herzlichsten Dank für diese wichtige Erinnerung an gottlob Vergangenes. Nirgends habe ich heute so Eindrückliches und Erschütterndes über die Deutsche Teilung gelesen oder gehört. Nicht einmal im Gottesdienst des DLF, der heute immerhin aus der Versöhnungskapelle an der geschichtsträchtigen Bernauer Strasse in Berlin gesendet wurde. Eine kleine Ergänzung zu Ihrer berechtigten Kritik an der Geschichtsbildung in den Schulen. Selbstverständlich muß die Teilung an prominenter Stelle stehen. Aber genauso wichtig und unverzichtbar ist eine Immunisierung gegen jegliche IDEOLOGIE.

Andrej Stoltz / 03.10.2021

Wobei man nicht alles in der Schule lernen muss. Ich war als Erstwähler auch links. Ganz einfach weil mein Vater lebenslang ein Linker war. Irgendwann Anfang/Mitte 20, kein plötzliches Damaskuserlebnis, sondern ein mehrjähriger Prozess begann ich nachzudenken und kam zu dem Schluss, dass die linken Geschichten einfach nicht stimmen. Dass die Linken lügen, wenn sich nur ihre Lippen bewegen.  Zu dieser Erkenntnis kann, ja sogar muss jeder kommen, der noch nicht völlig hirntot ist und noch reflektieren kann. Die Fehler der bürgerlichen Leute sind aber ein ganz anderere. Sie lassen sich von den Linken immer weiter spalten. Ausserdem glauben die Konservativen mit Linken Kompromisse machen zu können. Das ist aber grundfalsch, mit Linken kann man keine Kompromisse machen, man muss sie bekämpfen. Und das grösste geradezu schon genetische Handicap der bürgerlichen: Sie sind Individualisten und glauben sogar an ihren Individualismus. Damit kann man im Privatleben sehr erfolgreich und glücklich sein. Aber politisch haben die Individualisten gegen die bestens organisierten linken Kollektivisten keine Chance. Deswegen stinken die bürgerlichen Parteien bei Wahlen immer mehr ab. Weil Ideale wie Freiheit, Selbstbestimmung und -verwirklichung einfach nicht vermittelt werden. Die Hauptschuld dafür tragen mMn die Medien, vor allem das Fernsehen, weniger die Schule.

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