„Das ist die größte Wunderheilung seit Lazarus“, frohlocken CDU-Bundestagsabgeordnete über das Comeback ihrer Partei. Die Union wankte zu Jahresbeginn dem Abgrund entgegen, immer tiefer sackten die Umfragewerte unter die 30-Prozent-Marke. Zugleich schickten sich selbstbewusste Grüne an, die verunsicherte Volkspartei gar zu überholen. Heute wirkt die CDU dagegen wie auferstanden. Im Moment der Krise hat sich die Union wieder einmal als die staatstragende Sicherheitspartei erwiesen.
Mit 40 Prozent ist die Union derzeit mehr als doppelt so stark wie der nächstgroße Verfolger. CDU/CSU vereinen sogar mehr Bundesbürger hinter sich als Rot-Rot-Grün zusammen. Eigentlich könnte eine Parteivorsitzende bei dieser Lage frohlocken und sich langsam auf die Kanzlerkandidatur vorbereiten. Doch Annegret Kramp-Karrenbauer hatte am 10. Februar überraschend ihren Rückzug angekündigt – von Kandidatur und Vorsitz. Damals fügte sie sich dem innerparteilichen Druck nach Erneuerung, zu heftig rasselten die Möchtegernnachfolger von Kanzlerin Angela Merkel mit den Ketten der Macht.
Heute weiß man – es war vier Wochen zu früh. Hätte AKK nur einen Monat länger durchgehalten, sie hätte die strahlende Führungsoption auf die nächste Kanzlerschaft. Tragisches Timing? Das größte Pech zu frühen Umblickens seit Orpheus und Eurydike? Ein Fallbeispiel, wie das Schicksal politisches Nervenbehalten belohnen kann?
AKK sieht es anders: „Die Entscheidung, die ich getroffen habe, war richtig“, sagt sie jüngst im Interview mit ntv.de. Sie weiß, dass ihre persönliche Defensive der Partei letztlich genutzt, ihr selbst im Ansehen aber nicht geschadet hat. AKK gilt jetzt in der Union als die Frau, die eine neulich noch zerrissene Partei befriedet. Auch das zeitweise zerrüttete Verhältnis zwischen CDU und CSU hat AKK mit Bayerns Regierungschef Markus Söder geheilt und beinahe ins Freundschaftliche gewandelt.
Laschet muss um AKK-Gunst werben
Wie eine ausgleichende Patin führt sie derzeit die CDU, gibt mal dem Wirtschaftsflügel einen strengen Fingerzeig, dass man in der Corona-Krise bloß nicht an den Mindestlöhnen rütteln möge. Dann wieder deckelt sie die Parteilinke und lehnt jede Form von Steuererhöhung ab. Sogar den Landesverband von Angela Merkel in Mecklenburg-Vorpommern rüffelt sie, weil man dort eine linksextreme Verfassungsrichterin mitgewählt hat – gerade so, als hätten die ins verbotene, rote Marmeladenglas gegrapscht.
AKK hat ihre Rolle als ehrliche Maklerin der CDU gefunden, und so wächst ihr nun eine Schlüsselrolle im Findungsprozess des Nachfolgers zu. Einen Sonderparteitag wird es nicht mehr geben, so stark ist ihre Führungsrolle wieder geworden. Und so orakelt die CDU plötzlich, wen denn AKK und ihre Seilschaften nun bevorzugen – Armin Laschet, Friedrich Merz oder Norbert Röttgen?
Dabei wird klar, dass Röttgen in der Breite und in der Führung der Partei chancenlos ist. AKK behandelt ihn fair, aber Schützenhilfe kann er von ihr nicht erwarten. Das Verhältnis zu Laschet und Merz wiederum ist anders als es scheint. Laschet liegt ihr in den politischen Positionen, in der Frage des „Wohin?“ zwar näher als Merz. In der Frage des „Wie?“ ist sie aber näher bei der Geradlinigkeit eines Friedrich Merz.
Beobachtern aus dem Inneren der CDU ist nicht verborgen geblieben, dass die 2019er Sägearbeit am Stuhl der Parteivorsitzenden eher das Werk Laschets war. Und so wird sich AKK nach außen streng neutral verhalten und auch geschickt die Option Söder für die Kanzlerkandidatur offenhalten.
Wenn es Laschet aber nicht gelingt, AKK endlich auf seine Seite zu ziehen, hat er in Wahrheit eine Niederlage erlitten. Denn ihre Unterstützung wäre erwartbar und hilfreich, inzwischen beinah notwendig. Denn nun, da sie ausbleibt, registriert die Union, dass auch AKK an Laschet letztlich zweifelt. Das trifft Laschet deshalb unangenehm, weil er im März eigentlich als klarer Favorit auf die Nachfolge gestartet war, in der Corona-Krise aber eher einen wankelmütigen, fahrigen, jedenfalls nicht so führungsstarken Eindruck gemacht hat wie Markus Söder.
Ziel: Schloss Bellevue
AKK jedenfalls wächst nun in die Rolle der Königsmacherin. Sie kann die Weichen des Krönungsparteitags im Dezember stellen, sie kann die Spielregeln des Machtpokers zwischen CDU und CSU definieren. Und sie kann sich selbst eine völlig neue Option eröffnen: die der Bundespräsidentschaft 2022.
Die Amtszeit von Frank-Walter Steinmeier endet im Frühjahr 2022. Nach Lage der Mehrheits-Dinge wird die Union den nächsten Bundespräsidenten stellen. Genauer – eine Bundespräsidentin. Denn erklärtes Ziel der Parteien ist es, erstmals eine Frau ins Schloss Bellevue zu schicken. Damit wird der Kreis der denkbaren Kandidatinnen klein. Ursula von der Leyen wäre infrage gekommen, die ist aber inzwischen EU-Kommissionspräsidentin geworden. Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner ist eine denkbare Kandidatin, freilich mit Jahrgang 1972 noch jung für das höchste Amt im Staat.
So bleiben nur zwei ernste Optionen: Ilse Aigner, die als Präsidentin des Bayerischen Landtages schon präsidial und populär unterwegs ist. Wenn Söder aber Kanzlerkandidat wird, dann müsste die CSU den Anspruch auf Aigner fallen lassen.
Also bleibt AKK, die dann als ehemalige Ministerpräsidentin, Parteivorsitzende und Verteidigungsministerin alle Erfahrung mitbrächte – ein ausgleichendes Naturell und eine mittig-mehrheitsfähige Positionierung inklusive. Der Rücktritt im Februar 2020 wäre dann nicht vier Wochen zu früh für das nächsthöhere Amt gewesen, sondern genau richtig, um auf dem Pfad der Konzilianz ganz nach oben zu gelangen.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei The European.