Antje Sievers / 08.02.2017 / 12:14 / Foto: Jarda 75 / 13 / Seite ausdrucken

Nicht nur taub, sondern auch noch blöd, oder was?

Seit meinem achten Lebensjahr bin ich hörgeschädigt. Eine chronische Mittelohrentzündung. Später kam eine vererbte Hörschwäche hinzu. In der Grundschule musste ich deswegen vorn sitzen. Da mir so die ungeteilte Aufmerksamkeit der Lehrer zuteil wurde, gehörte ich mühelos zu den Klassenbesten. Aber ab der siebten Klasse des Gymnasiums brach die Pubertät aus. Ich wollte auch mal hinten sitzen und Blödsinn machen. Infolgedessen brillierte ich nur noch in Fächern, deren Lehrpersonal im Kasernenhofton sprach, während meine Leistungen bei den Säuselern ins Bodenlose sackten.

Bis zum Abitur hatte ich meine Hörschwäche völlig verdrängt. Wenn einer der Sinne den Dienst aufkündigt, entwickelt sich dafür ein anderer: Ich lernte Lippenlesen. Wenn ich den Gesprächspartner direkt ansehe, kriege ich für gewöhnlich alles mit. Im Kino entschlüssele ich gern den Originaldialog. Stell dir vor, eben hat er „Fuck You!“ gesagt. Gelegentlich frage ich nach, wenn ich etwas nicht mitbekommen habe. Dass ich hörgeschädigt bin, wissen nichtmal Menschen, die mich seit zwanzig Jahren kennen.

Ich habe gelernt, gut mit meinem Handicap zu leben. Leider gilt das nicht uneingeschränkt für meine Mitmenschen. Niemand hat was gegen Rollstuhlfahrer oder Blinde. Im Gegenteil, ihre Hilflosigkeit erweckt Mitleid, und sofort stürzt man hin und hilft dem Blinden die U-Bahn-Treppe hinauf, besonders, wenn er niemanden drum gebeten hat. Man nimmt ihm damit wieder seine mühsam eroberte Selbständigkeit, aber dafür darf man sich auch als guter Mensch fühlen.

YES. I. KNOW. WHERE. I. AM. YOU. FUCKING. IDIOT. 

Hörgeschädigte hingegen mag keiner. Wir wirken irgendwie asozial. Vermutlich, weil wir bei der Alltagskommunikation gelegentlich etwas ratlos in die Gegend gucken. Nicht selten hält man uns deshalb auch für geistig minderbemittelt. Die Grobheiten, die ich im Laufe meines Lebens anhören musste, reißen nicht ab. Hörgeschädigte machen aggressiv, spätestens, wenn sie zum zweiten Mal nachfragen. ("An mir liegt das aber nicht! Ich spreche doch klar und deutlich! Hören Sie nichts, oder wie? Taube Nuss! Waschen Sie sich doch mal die Ohren! Nicht nur taub, sondern auch noch blöd, oder was?...")

Die Krönung erlebte ich auf dem Flughafen London Heathrow. Ich hatte bei einer Durchsage nur meine Flugnummer verstanden, aber leider nicht den Rest. Ich ging zur Information und teilte mit, dass ich aufgrund meines Hörschadens die Ansage verpasst hätte. Das war wirklich ein Fehler. Ein Mitglied des Bodenpersonals riss die Augen weit auf und fragte mit karpfenartig übertriebenen Lippenbewegungen peinlich überlaut, ob ich überhaupt wüsste, wo ich mich befände. YES. I. KNOW. WHERE. I. AM. YOU. FUCKING. IDIOT.

Dabei könnte doch alles so einfach sein. Einmal, ein einziges Mal habe ich in einer Bibliothek ein Schild gesehen mit durchgestrichenem Ohrsymbol und dem Hinweis: Die Kollegin an diesem Platz ist hörgeschädigt. Bitte wenden Sie sich ihr zu und sprechen Sie deutlich. Na Bitte. Geht doch.

Es gibt richtig viele Zeitgenossen, die von Inklusion schwärmen. Eine Klasse mit zwölf Schülern, die kein Deutsch sprechen, dazu mehrere Entwicklungsverzögerte, ADHS-Fälle und ein paar Kinder im Rolli, alles kein Problem, besonders für die Pädagogen. Aber mal einen Satz für einen Hörgeschädigten wiederholen? Wo kommen wir da hin.

Mittlerweile bin ich unglückliche Besitzerin zweier „Hörsysteme“

Von diesen Menschen hört man besonders oft die Frage, warum man denn kein Hörgerät trage. Genauso gut könnten sie sagen: Belästige uns gefälligst nicht mit deiner Behinderung. Das sagen sie natürlich nicht. Was sie stattdessen sagen ist: Es gibt doch jetzt so tolle, unsichtbare Hörgeräte, mit denen man perfekt hören kann!

Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz in den letzten fünfzehn Jahren gehört habe. Gesprochen wurde er fast ausschließlich von Menschen mit perfektem Gehör. Woher sie wissen, dass man mit den Hörgeräten so perfekt hören kann, entzieht mich meiner Kenntnis. Dass sie glauben, ich trüge nur keine Hörgeräte, weil ich nicht weiß, dass es solche gibt, liegt daran, dass sie mich nicht nur für taub, sondern auch für grenzdebil halten.

Mittlerweile bin ich unglückliche Besitzerin zweier „Hörsysteme“. Kassenmodell, gesetzliche Zuzahlung 20 Euro. Die Hörgeräte, von denen Normalhörende mir seit Jahren vorschwärmen, gibt es in der Tat. Sie kosten mit den Folgekosten innerhalb der ersten fünf Jahre an die 16.000 Euro und werden in der Regel nur Filmschauspielern empfohlen. Ich fühle mich wie ein Steiff-Tier mit Knopf im Ohr, empfinde alles als schmerzhaft laut und immer wieder brechen hinter den Ohrmuscheln Ekzeme aus.

Der HNO-Arzt hat mir beim ersten Besuch sofort vor den Latz geknallt, ich hätte viel zu lange gewartet. Es sei höchste Zeit, denn mit zunehmendem Alter verliere das Gehirn die Fähigkeit, Kommunikationslücken selbsttätig aufzufüllen. Außerdem gebe es Zusammenhänge zwischen Hörschäden und Demenz. Mein Gehirn müsse sich jetzt an die neue Hörfähigkeit anpassen. Was natürlich langfristig dazu führt, dass man irgendwann ohne Hörgerät nicht mehr leben kann und darf. Genau das hatte ich befürchtet. 

Zuerst erschienen auf Antje Sievers Blog hier.

Foto: Jarda 75 via Wikimedia Commons

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Martin Lederer / 08.02.2017

@Valentine Gale : Eine Freundin von mir kommt aus NRW und lebt jetzt in Bayern. Bei manchen Leuten versteht sie wegen des Dialekts die Hälfte oft nicht. Sie fragt dann einfach nicht nach. Weil sonst die Leute wütend werden. Und weil das meiste Gesagte eh nicht wichtig ist.

Klaus Kalweit / 08.02.2017

Sehr geehrte Frau Sievers, Sie sprechen mir aus dem Herzen. Auch ich bin erheblich hörgeschädigt nach einer Mittelohrentzündung in frühester Kindheit. Alle Erfahrungen, wie Sie sie schildern, kann ich nur bestätigen. Ich sage immer, daß nur etwa fünf Prozent der Menschen überhaupt bereit sind, sich auf Schwerhörige einzustellen, entsprechend klein und verlesen ist daher mein Freundeskreis. Für meine berufliche Karriere hat sich die Behinderung trotz Abitur als verheerend erwiesen. Ich, Jahrgang 1950, trage bis heute kein Hörgerät, auch wenn ich noch nie Verständnis dafür erfahren habe. Ich hatte welche in meiner Kindheit, doch die haben mehr geschadet als genutzt, lauter hören ja, besser verstehen nein. Argument der Laien: Heute sind die Geräte doch viel besser. Ich entgegne, daß ich einen geschädigten Hörnerv habe, also ist das “mechanische” Ohrsystem (Schnecke, Flimmerhärchen) in Ordnung und wird daher im Laufe der Jahre geschädigt durch den lauten Ton aus dem Hörgerät. Hätte ich seit der Kindheit Hörgeräte getragen, wäre ich heute vollkommen taub. Meine Theorie? Nein, ein ehrlicher Ohrenarzt hat mich bestätigt, hat eingeräumt, daß nach anfänglichen Erfolgen mit den Hörhilfen sich langsam die Kehrseite zeigt. Über einen langen Zeitraum wird das Ohr komplett zerstört. Zudem hört ein Schwerhöriger nicht einfach nur leiser, sondern mehr oder weniger anders, und nicht jedes Hörgerät kann das ausgleichen.

Karla Kuhn / 08.02.2017

“Mittlerweile bin ich unglückliche Besitzerin zweier „Hörsysteme“. Kassenmodell, gesetzliche Zuzahlung 20 Euro. Die Hörgeräte, von denen Normalhörende mir seit Jahren vorschwärmen, gibt es in der Tat. Sie kosten mit den Folgekosten innerhalb der ersten fünf Jahre an die 16.000 Euro und werden in der Regel nur Filmschauspielern empfohlen.”  Und genau das ist eine unsägliche Ungerechtigkeit. Ich könnte jeden Tag nur noch die Decke hochgehen.  Einer Bekannten von mir wurde großzügig angeboten, den Betrag abzuzahlen. Sie ist über 80 Jahre alt, sie muß mindesten 100 werden, um schuldenlos ins Grab zu fallen. MILLIARDEN werden seit einiger Zeit ausgegeben,man kann in etlichen Fällen von vergeuden reden aber für schwerbeschädigte Menschen gibt es einen Katalog, was ihnen zusteht. Ich kann ein Lied davon singen.

Valentine Gale / 08.02.2017

Aus dem Blickwinkel der Gegenseite: Ich habe schon mehrfach an mir selber gemerkt, daß mir ein schwerhöriger Gesprächspartner Unbehagen bereitet. Es ist mitunter peinlich, zumindest in Sachen der höflichen Unterhaltung in vollen Räumen,  wenn man gezwungen ist, sich zu wiederholen oder auch nur laut, klar und deutlich zu reden, denn es wird einem schmerzlich klar, wie belanglos das Gesagte oft ist.

Walter Ernestus / 08.02.2017

Sehr geehrte Frau Sievers, danke für Ihren Artikel. Mir geht es genauso! Ich bin ebenfalls hörgeschädigt! Ganz toll übrigens sind Videokonferenzen bei denen die Anlage nicht richtig eingestellt ist. Mein Hörgerät rastet aus, bringt nur rauschen und überlaute Töne, ab und an knarzen von uralten Dielen und klopfen, . Die Konferenzteilnehmer gehen allerdings davon aus, dass alles klar und deutlich verstanden wurde. Ein hoch an die Technik! Auch Ihre Darlegungen über die Güte der Hörgeräte. Nimmt man das Kassenmodell - ohne Zuzahlung - kommen zwar Geräusche, Töne und anderes im Gehirn an, aber alles erscheint nur laut! Will man verstehen - ja ich meine verstehen - dann fängt die Preisskala bei 4.000.- EURO an. Warum das so ist weiß ich nicht, aber was auffällig ist, ist die große Anzahl von Hörgerätegeschäfte.  Allein die Anzahl lässt vermuten: 1. wir sind ein Volk der Tauben 2. die Gewinnspanne bei den Geräten muss enorm sein, wenn es so viele Hörgeräte-Shops gibt 3. Wer trägt die Dinger eigentlich alle! Übrigens versuchen Sie mal am Wochenende ein defektes Hörgerät zu reparieren bzw. ein Ersatzgerät zu beschaffen. Alle Servie-Partener - sprich alle Shops -haben zu! Zumindest in Berlin! Dies nennt man Dienstleistung am Kranken.  

Robert Korn / 08.02.2017

Werte Frau Sievers, inzwischen höre auch ich zunehmend schlechter. Nicht schön, Sie beschreiben es. Aber es hat auch einen Vorteil: Es bleibt einem jede Menge überflüssiger Mist erspart. Und wenn ich dann noch den verzweifelten Versuchen meiner gerätebestückten Altersgenossen, die Dinger in angemessene Betriebszustände zu bringen, beiwohnen darf, komme ich zu dem Schluß: Sowas kommt mir nicht ins Ohr. Beste Grüße Robert Korn

Andreas Arndt / 08.02.2017

Liebe Frau Siegers,  Wie sehr ich das alles nachempfinden kann. Bin selbst Lärmhörgeschädigt durch meinen NVA Grundwehrdienst. Was nie anerkannt wurde. Dazu kommt noch ein sehr belastender Tinnitus. Ich hatte das Glück eine sehr engagierte Hörgeräteakustikerin zu treffen. Diese hat in unendlicher Geduld herausgefunden welche Hörgeräte für mich optimal sind. Und sie helfen mir wirklich bei beiden Problemen, so daß ich sie gerne trage. Dazu gab es noch reichlich Infos mit deren Hilfe ich die Rentenversicherung zur Kostenübernahme, wohl 4000€ so weit ich mich erinnere, überzeugen konnte. Geben Sie nicht auf und versuchen es noch mal!

Wilfried Cremer / 08.02.2017

Frau Sievers, mir geht’s genauso. Was mich besonders nervt, sind allerdings nicht plumpe, sondern spitze, indirekte Bemerkungen, nach der Art: “Die Oma kann aber noch gut hören.”

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