Diese Rede ist ein handfester Skandal. Und ein Rücktrittsgrund. Ohne Wenn und Aber. Aufgestoßen ist das Gesagte bisher nur wenigen, obwohl das Ganze nun schon einige Tage zurückliegt. Dass die Ansprache in aller Heimlichkeit gehalten wurde, lässt sich schlecht behaupten, immerhin kam sie in der Tagesschau vor (hier, ab 11:07).
Dass Bündnis 90/Die Grünen das Gründungsdatum der bundesdeutschen Grünen, die sich am 13. Januar 1980 in Karlsruhe als Bundespartei etablierten, zum Anlass für eine Feier nehmen und sich angesichts ihrer derzeitigen Wahlerfolge und hervorragenden Umfragewerte kräftig feiern, ist nachvollziehbar. 40 Jahre sind ja auch ein rundes Jubiläum, notfalls kann man es sogar als „Doppeljubiläum“ (40 und 30) sehen, zur Bundestagswahl im Dezember 1990 gingen die Grünen mit verschieden Gruppierungen der dann nicht mehr existenten DDR ein Wahlbündnis ein, später entstand daraus Bündnis 90/Die Grünen.
Unverständlich hingegen ist, warum der amtierende Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland die Jubelveranstaltung einer politischen Partei besucht. Auf einer solchen hat er nichts, aber auch gar nichts verloren. Und zwar bei gar keiner Partei. Noch unverständlicher ist, warum der Inhaber des höchsten Staatsamtes dort eine mehr als beifällige Ansprache hält. Wäre er im Anschluss zum Ehrenvorsitzenden gewählt worden – man wäre nicht mehr überrascht gewesen.
Frank-Walter Steinmeier versteht seine Rolle anders. Vielleicht wurde sie auch so bei ihm in Auftrag gegeben, das lässt sich schwer beurteilen – viel originär eigenes Denken traut man ihm nicht zu.
„Schaut auf diese Partei“
In einer Art verunglückter Selbstironie bezeichnet er sich als das amt[s]gewordene Establishment, das zur Geburtstagsparty komme. Für so manchen Gründungsgrünen wäre es der grelle Alptraum gewesen, hätte er gewusst, dass der Bundespräsident zum 40. erscheine. Immer locker, unser Frank-Walter, hoho! Und keine Sorge, Aufstehen und Hymne singen, seien hier nicht angeordnet. Worte des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland. Den altbackenen Kram mit der lästigen Hymne („… blühe, deutsches Vaterland!“) sollte er demnächst ohnehin am besten gründlich überdenken (lassen).
Herzlichen Glückwunsch, liebe Frau Baerbock, lieber Herr Habeck, liebe Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen in Ost und West, im ganzen Land… Die Grünen haben das Land verändert – und das Land hat die Grünen verändert. Deutschland ist offener geworden und vielfältiger, menschlicher und moderner in diesen 40 Jahren….auch die Grünen selbst sind gewachsen… nicht zuletzt an ihrer Bereitschaft, Verantwortung zu schultern für alle Menschen in diesem Land… Dafür will ich ihnen heute Danke sagen. Sie haben viel dazu beigetragen, dass dieses Land vielfältiger und moderner wird. Die Grünen haben Fehlstellen früher als andere erkannt und mit politischem Inhalt, mit Hartnäckigkeit und wachsender Zustimmung gefüllt… Für all das haben Sie meine aufrichtige Anerkennung! Das ist alles ernst gemeint, Steinmeier fragt dann – erstaunlich, dass ein solcher Gedanke sich überhaupt kurz Platz machen konnte – ob ein überparteilicher Bundespräsident einer einzelnen Partei danken dürfe. Er beantwortet es auch gleich: Keine Sorge, der Bundespräsident ist und bleibt überparteilich. Aber parteiisch bin ich sehr wohl – ich glaube, ich muss es sogar sein in dieser Zeit: parteiisch für die Demokratie! In diesem Sinne verbeugt sich Steinmeier weiter tief vor dem, was seiner Meinung nach die „Demokratie“ ist. 80 Prozent der jungen Leute haben nach einer neuen Studie kein Vertrauen in Parteien. Sie machten Politik auf anderen Wegen: Sie gehen ins Internet und auf die Straße, für Klimaschutz, für die Freiheit im Netz, gegen Ausgrenzung und Rassismus. Ob dieses neue Engagement unserer gewachsenen, repräsentativen Demokratie das Wasser abgrabe? Meine Antwort wäre: Schaut auf diesen Geburtstag! Schaut auf diese Partei!
Falls man es inzwischen vergessen haben sollte: Es spricht der Herr Bundespräsident vor den Grünen über die Grünen und das 40. Grünen-Jubiläum.
Ausdrückliche Erwähnung findet die große gesellschaftliche Integrationsleistung dieser Partei. Weiter:
Aber gerade jene Zeit, gerade das Zusammenwachsen von Bürgerrechtsbewegung und Grüner Partei war ein unschätzbarer Beitrag zur Deutschen Einheit. Und er begann schon lange zuvor, in Kontakten zu Dissidenten in ganz Osteuropa, in einer Zeit, in der kaum jemand solche Kontakte pflegte… Jene frühen Kontakte, die manche Grüne pflegten, waren weitsichtig. Auch dank ihnen hat das Erbe von 1989, hat der Mut der Friedlichen Revolution seither einen festen Ort in der deutschen Parteienwelt.
Offenbar war das Geschichtsbuch der Bibliothek des Bundespräsidialamtes zur Zeit der Vorbereitung der Rede gerade anderweitig verliehen, sonst hätte vielleicht Erwähnung gefunden, dass es nicht viele Grüne waren, die, wie beispielsweise Petra Kelly, an der Seite der DDR-Opposition standen. Und die dafür viel Prügel von den Parteifreunden einstecken mussten.
Medialer XXL-Blumenstrauß
Liebe AfD, mit Ihrem Erfolg wächst Ihre Verantwortung! Ups, falscher Text. Der Herr Bundespräsident sagt natürlich: Liebe Grüne, mit Ihrem Erfolg wächst Ihre Verantwortung! Beide Varianten: Unsäglich als Aufmunterung zur Geburtstagssause einer Partei aus dem Mund des Staatsoberhauptes der Bundesrepublik Deutschland. Die zweite Variante: Nachzulesen auf der offiziellen Homepage des Bundespräsidenten.
Ein weiterer Höhepunkt der Rede, die, liest man sie in Gänze, eigentlich fast nur aus Höhepunkten besteht:
An all die selbsternannten Kämpfer gegen das „Establishment“, an all die Kämpfer gegen das sogenannte „System“ habe ich eine deutliche Botschaft: Wir leben nicht unter Königen und Mistgabeln. Wir leben in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Und wer diese Demokratie als „System“ verschreit, wer sich anmaßt, einen „wahren“ Volkswillen gegen „die da oben“ zu verteidigen, wer Parlamente und freie Medien verächtlich macht, wer Hass und Hetze und sogar Gewalt gegen gewählte Repräsentanten schürt, der ist nicht einfach ein Narr, sondern der legt die Axt an das Fundament unserer Demokratie! Und deshalb müssen wir denen mit der Axt in den Arm fallen – um der Demokratie willen!
Abgesehen von der Frage, wer die Ernennungsurkunden für die nicht selbsternannten Kämpfer üblicherweise ausstellt (das Bundespräsidialamt?), könnten naive Gemüter das als äußerst beängstigende, handfeste Drohung empfinden. Aufmüpfiges Volk? Lange sehen wir uns das nicht mehr an! Wir haben Demokratie, Basta! Und wehe, Ihr habt uns nicht lieb!
So etwas ging natürlich nicht an die Adressaten des bundespräsidialen Geburtstagskotaus für die lieben Grünen. Die „20-Uhr-Tagesschau“ erwähnte auch nicht nur die Steinmeier-Rede, sondern überbrachte den Grünen in Form eines fast auf die Sekunde genau dreiminütigen Beitrags einen medialen XXL-Blumenstrauß. Freche Anfänger damals, aber immer ihrer Zeit voraus. Eine Erfolgsgeschichte, die noch lange nicht am Ende ist (hier ab Min. 08:39). Man fragt sich, wozu die Partei noch eigene Öffentlichkeitsarbeit und Wahlkampf betreibt, reine Geldverschwendung. Das wird mit Mitteln aus dem GEZ-Topf doch perfekt gestaltet.
Fröhliche Schlussworte
„Die Story im Ersten: Die Grünen und die Macht“ gab es dann auch noch, quasi die erweiterte Fassung des „Tagesschau“-Beitrages. Und alles so schön klar und offen. Zum Beispiel Halb-Partei-Chef Robert Habeck (für die andere Hälfte ist bekanntlich Annalena Baerbock zuständig): Wir erläutern Demokratie (10:52). Wahrscheinlich geht es hier um den selben Demokratiebegriff, für den sich auch der Herr Bundespräsident stark macht, gegen die Axt und so weiter. Auch andere Grünen-Prominenz kommt in der „Story“ zu Wort, zum Beispiel Winfried Kretschmann (ab 30:30). Die Grünen, so der heutige baden-württembergische Ministerpräsident, seien 1990 aus dem Bundestag rausgeflogen, weil wir plakatiert haben: „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter“. Ein Schock sei das gewesen, eine Partei kann nicht nur ihr Kernthema bearbeiten. Sollte das Selbstkritik sein? Die Frage beantwortet Claudia Roth, die im unmittelbaren Anschluss an Kretschmann ins Bild kommt: Rückblickend war es natürlich richtig, übers Wetter zu reden oder übers Klima, aber es hat die Leute offensichtlich überhaupt nicht interessiert. Dummes Volk. Glücklicherweise finden Frau Roth und Genossen jetzt mehr Gehör, was ja auch der Herr Bundespräsident zu würdigen weiß.
Noch eine Marginalie zur „Story“. In einer Passage, in der es darum geht, dass die deutsche Einheit bei den Grünen nie so recht angekommen sei und sie auch „im Osten“ nicht ganz so viel Resonanz finden wie anderswo, wird über einen Auftritt des Halb-Chefs der Grünen berichtet. Da „der Osten“ nun wirklich unwichtig ist, hier hat es laut Moderation „sogar“ Robert Habeck schwer, wird der Ort des Auftritts kurzerhand als Bad Klosterlausitz (28:45) vorgestellt. Tatsächlich handelt es sich um Bad Klosterlausnitz – welches auch nicht so direkt an die Lausitz grenzt. Nein, das ist keine unwichtige Kleinigkeit. Annette Zinkant („Buch und Regie“) hat mit ihrem bewundernd „dokumentierten“ Gegenstand, den Grünen, so einiges gemeinsam.
Aber was solls? Hier gibt es auch nicht so viele Wähler. Richten wir noch einmal den Blick auf die fröhlichen Schlussworte der Geburtstagsansprache an die Grünen, vorgetragen vom Herrn Bundespräsidenten: Bleiben Sie neugierig! Bleiben Sie streitlustig! Behalten Sie den Blick fürs gesellschaftliche Ganze! Happy Birthday, vielen Dank, und Ihnen allen eine tolle Feier!
Als Christian Wulff seinerzeit als Amtsinhaber eine ebenfalls ungute Figur machte, las man mitunter: „Nicht mein Präsident!“ Gab es da Aufkleber? Hat noch jemand welche übrig?