Bernhard Lassahn / 24.05.2011 / 16:03 / 0 / Seite ausdrucken

Nich mal richtig Anti Anti

Thomas Mann war kein Kommunist - dazu hatte er auch nicht die richtigen Voraussetzungen. Er legte jedoch großen Wert darauf, nicht als „Antikommunist“ angesehen zu werden. Wer „Anti“ sagt, ist dagegen. Der sagt Nein. Immer. Kompromisslos.

Das bringt Probleme mit sich, die man gut aus dem kurzen Dialog ersehen kann, den einst Robert Gernhardt aufgezeichnet hat, der eine irgendwie diabolisch wirkende Figur sagen lässt: „Ich bin der Geist, der stets verneint.“ Frage dazu: „Auch wenn die Mutter weint?“ Der Geist: „Ja! Äh ... nein ...“ Reingelegt: Man darf nicht „Ja“ sagen, wenn man ein Geist sein will, der stets verneint.

Solche Geister gibt es aber. Ihre Anti-Haltung hat sich zu einem fundamentalistischen Nein verfestigt, das umso unerbittlicher auftritt, je mehr solche Nein-Sager im bloßen Dagegen-Sein verharren und je weniger sie in der Lage sind, einen besseren Vorschlag zu machen. Es ist die Schwäche der eigenen Position, die sie feindselig werden lässt. Sie flüchten sich in die Totale und versuchen, allen eine - falsche - Alternative aufzudrücken: Ganz oder gar nicht - Wenn ihr nicht hundert Prozent für uns seid, dann seid ihr gegen uns.

Hundert ist eine magische Marke. Waschmaschinen bieten deshalb für die Kochwäsche höchstens 90 Grad an. Die Hersteller dachten sich, die deutsche Hausfrau hätte Angst, dass bei 100 Grad „alles“ schmilzt. Vielleicht erinnert sich noch jemand an einen Computer aus dem vorigen Jahrhundert, bei dem man beim Abschalten die Wahl hatte: „Ende“ und „Ende alles“. „Ende alles“ war mir auch immer unheimlich.

Als 1960 Armin Harry 100 Meter in 10 Komma 0 Sekunden lief, war die Welt noch in Ordnung, da war 100 die Obergrenze des Vorstellungsvermögens - meines jedenfalls, ich konnte gerade mal bis Hundert zählen und war ziemlich stolz darauf. Nun war es geschafft. Man hätte den Hundertmeterlauf nach dem Sieg von Rom eigentlich wieder abschaffen können. Es war überhaupt nicht wünschenswert, dass irgendjemand die Zeit unterbietet. 100 Meter in 10 Null – das passte perfekt. Es war erreicht. Es stimmte hundertprozentig.

Hundert Prozent war auch der Endpunkt auf der Skala zur Bewertung von totalitären Systemen. Die Wahlergebnisse in der DDR zeigten bei der Zustimmung zur SED einen verdächtigen Trend in diese Richtung. Man musste nur noch etwas nachhelfen. Auch in Cuba. Es war gerade Wahl, als ich da war, und ein Arzthelfer erzählte mir, dass er schon am frühen Morgen im Krankenhaus für alle Blinden das Kreuz an der richtigen Stelle gemacht hatte. Wenn man die Hundert schaffen will, darf man keinen auslassen.

Dann geschah es. Die Höchstmarke wurde übertroffen, der Plan übererfüllt. Plötzlich geisterten in der DDR welche herum, denen man nachsagte, dass sie 150%tige Genossen wären. Damit war der Durchbruch geschafft, hinter dem Horizont ging es weiter, nun konnte man mit Stanislaw Lec fragen: „Jetzt bist du mit dem Kopf durch die Wand. Was willst du in der Nachbarzelle?“ Da waren sie inzwischen. Und in welche Richtung sollte es weitergehen? Weiter bis 200%? Bis 300%? Margot Käßmann hat berichtet, dass vor ihrer Scheidung die Aufgaben der Kinderbetreuung so mit ihrem Ehemann aufgeteilt waren, dass sie davon 160% übernommen hatte. Da hätte sie auch gleich alles alleine machen können. Aber vielleicht ist „alles“ nicht alles. Inzwischen wissen wir auch, dass sich das Universum „for ever“ erweitern wird, in den Weiten des Alls ist also auch kein Ende abzusehen. Nicht mal da. Albert Einstein wusste das noch nicht genau, als er sagte, dass es seiner Meinung nach zwei Dinge gäbe, die unendlich wären, die menschliche Dummheit und das Universum - bei Letzterem wäre er sich nicht sicher.

„Ob die Wurst nach Seife schmeckt, ob die Badewanne leckt, ob bei Nacht die Möbel knacken. An allem sind die Juden schuld“, heißt es in eine Chanson von Friedrich Hollaender – was ironisch gemeint ist, klar; er wollte damit zeigen, wie gut sich der Jude als Sündenbock eignet, und dass die Juden eben „an allem“ schuld ist. Das Lied geht noch weiter: Falls man nicht glauben will, dass die Juden an allem schuld sind, dann sind sie daran auch noch schuld. Es ist ein System, aus dem es kein Entrinnen gibt. Alles umfasst einfach alles.

Das Ressentiment macht keine Einschränkungen, es trifft alle. Total. Ein „Anti“ kennt kein Aber. Die Ablehnung macht keine Ausnahmen. Hundertprozent ist auch die Messlatte der Helden der Anti-Welt. Die wollen „alle“ AKWs abschalten. Unumkehrbar. Am liebsten weltweit. Sofort. Es wird auch nichts mehr repariert, nur noch weggeschmissen. Alles muss raus. Dass man gerade bei Frauen einen gewissen Hang zur Verallgemeinerung beobachten kann, hängt womöglich mit ihrer Erfahrung zusammen, dass es ein „bisschen schwanger“ nicht gibt. Alles oder nichts. Nicole machte sich einst mit ein „bisschen Frieden“ genauso lächerlich wie heute die Gruppe Silbermond mit „Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit“! Was soll das denn sein? Ein billiges Fahrradschloss?

„Ein bisschen“ geht nicht. Auch „ein Stück weit“ geht nicht mehr, seit Björn Engholm nicht mehr im Politiker-Theater mitspielt. Man kann ersatzweise „nicht alles“ sagen. Das ist von der Bedeutung her so ähnlich und bezieht sich auf das unvermeidliche „alles“, das für die Anti-Haltung so wichtig ist. So hört man gelegentlich, dass in der DDR „nicht alles“ schlecht war, bei den 68ern nicht „alles“ schlecht war; und es gibt sogar welche, die behaupten, dass selbst in der Popmusik der 80er Jahre nicht „alles“ schlecht war. Nur im Dritten Reich und im Patriarchat - da war alles schlecht. Auch Gifte sind in der Regel nicht „nur“ schlecht, sondern auch für irgendetwas gut. Womöglich an unerwarteter Stelle. Außer Nikotin und Dioxin.

Mit Angst kann man jede Höchstmarke übertreffen. Angst vergrößert – die Gespenster nehmen umso größere Ausmaße an, je weniger man sie mit bloßem Auge erkennen kann. Am meisten fürchten wir die Scheinriesen. Wir halten die Größe der Angst für das Ausmaß der Gefährdung, und die Angst vor Gespenstern für den Beweis für ihre Existenz. Deshalb fürchten wir das Atom und CO2. Karrierefrauen fürchten außerdem die viel zitierten „gläsernen Decken“, die noch niemand gesehen – und noch nie gereinigt hat – und durch die Männer problemlos hindurch schreiten können. Angler und Angeber vergrößern auch gerne. So sind manche Begriffe inzwischen zu gigantischen „Deckeln ohne Töpfe“ geworden, vergrößert durch Angst und durch Angeber.

Wenn man sich zu Hause sein Süppchen kocht, stört es nicht, wenn man behelfsmäßig einen Deckel benutzt, der viel zu groß ist. Umgekehrt wäre es schon ein Problem: Ein zu kleiner Deckel fiele in die Suppe. Wenn man jedoch mit dem übergroßen Deckel die Küche verlässt und sich an anderen Töpfen ausprobiert, wird es laut.

Und so kommen mir die Diskussionen von heute vor: laut, lärmend, immer ein paar Nummern zu groß. Ob es um die Antifaschisten geht - wohlgemerkt um die von heute -, die mutig „Gesicht zeigen“, um Anti-Atom-Aktivisten, die auf die Straße gehen, um Druck zu machen, damit die Politik endlich das macht, was sie sowieso vorhat, oder um die Helden der Antidiskriminierung, die inzwischen selber diskriminieren. Bei solchen Themen müssen die Leute nicht mehr brüllen, die Begriffe brüllen schon von alleine. Da wird mit Deckeln, die auf keinen Topf mehr passen, aufeinander eingeschlagen wie bei Militärmusik. Wenn da Argumente gegeneinander gehauen werden, die ein „Anti-“ vorne oder ein „-phob“ hinten haben, klingt es nach Tschingderassabum mit mehr Nebengeräuschen als Musik.

So ergeht es auch dem „Antifeminismus“ IGAF aus der Schweiz, der gerade sein einjähriges Bestehen gefeiert hat. Inzwischen hat sich auch eine deutsche Sektion gegründet. Die beiden haben sich ein besonders großes Gespenst vorgenommen: den Feminismus. Gegen den sind sie. Natürlich ist der Feminismus nicht „an allem“ schuld, doch er macht zumindest einen Fehler, nämlich den, dass er „alle“ Frauen unzulässig vereinnahmt. Leider sieht ein vorangestelltes „Anti“ so aus, als würde damit derselbe Fehler gemacht.

Deshalb müssen die Schweizer stets dazusagen, dass sie nicht etwa gegen „die Frauen“ sind, schon gar nicht gegen „alle Frauen“, sondern nur gegen gewisse Auswüchse des „Staatsfeminismus“. Tatsächlich sind in der Schweiz – und in Österreich – die Fälle einer neuen Art von Kindesmissbrauch, bei dem Kinder instrumentalisiert werden, um mehr Unterhalt zu erpressen, noch auffälliger als in Deutschland. Und in beiden Ländern versucht der Staat noch aufdringlicher als hier, „geschlechtergerechte“ Sprachvorschriften zu machen. Zuletzt fiel ein Forderungskatalog aus Bern auf, der die Worte „Vater“ und „Mutter“ durch „das Elter“ ersetzt haben wollte und den „Fußgängerüberweg“ durch den „Zebrastreifen“. Dummerweise sind die Markierungen auf den Straßen der Schweiz gelb. Man wird also nicht umhin kommen, die Zebras in den Gehegen der Schweiz einzufärben. Und zwar alle. Erst dann kann auch der Bayer, wenn er die Schweiz bereist, seine beliebte Redewendung „Passt schon!“ loswerden.

Von solchen Tiger-Zebras konnte Karl Kraus noch nichts wissen, der Feminismus hatte zu seiner Zeit andere Gesichter; Sprachverunstaltungen und bürokratische Regulierungen lagen noch nicht in Frauenhand. Doch Karl Kraus hatte bestimmt auch seine Gründe für die Bemerkung: „Es gibt Dinge, die so falsch sind, dass nicht einmal das Gegenteil davon wahr ist.“ Das glaube ich übrigens auch. Deshalb wäre ich gerne Anti Anti, fürchte aber, das es auch zu pauschal ist und womöglich hinterrücks bedeutet, dass ich zu hundert Prozent für etwas bin, was auch nicht stimmt. Am wenigsten mochte ich übrigens die berühmte Antibaby-Pille. Das Wort mochte ich nicht. Da traf die Anti-Haltung die Falschen – und dann noch Babys. Da wäre „Anti-Schwangerschafts-Pille“ besser gewesen, die hätte man gut zu „Anti-Schwa“ abkürzen können, was wiederum gut zu „Anti-Fa“ gepasst hätte. Bei den Antifeministen spricht man inzwischen schon von „Anti-Fe“, was so klingt, als wäre es eine Front gegen Engel, Elfen und Feen. Aber die wäre gar nicht nötig. Zwar mache ich mir keine große Hoffnung auf eine gute Fee, ich hätte aber nichts dagegen, wenn doch plötzlich eine auftaucht. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will: Ich kann mich nicht so recht mit einem „Anti“ anfreunden. Jedes Mal wenn mir ein „Anti“ in die Quere kommt, fühle ich mich wie Thomas Mann und Karl Kraus zugleich.

Und wie komme ich darauf? Es gibt nämlich doch ein „Anti-“, das mir gefällt, ein „Anti“, bei dem ich mich wohl fühle. Ich bin also nicht hundertprozentig Anti-Anti, so ist es auch nicht; es gibt ein „Anti“, zu dem ich mich gerne geselle – und just da habe ich sie alle getroffen: im Antiquariat.

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