Die Briten und ihre Gesundheit: fürwahr eine merkwürdige Beziehung. In kaum einem Land wird aus der Ausgestaltung der öffentlichen Gesundheitsversorgung eine so quasi-religiöse Angelegenheit gemacht wie in Großbritannien. Es gibt den Nationalen Gesundheitsdienst NHS, der nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt wurde, um jedem Einwohner eine gute und kostenlose medizinische Betreuung zu garantieren. Seitdem bildet man sich ein, dass der Rest der Welt die Briten wegen dieses Versprechens beneidet. Dabei ist nur zu offensichtlich, dass es nur zum Teil eingehalten wird, denn der NHS ist zwar in der Tat kostenlos zu benutzen, aber von einer wirklich guten Gesundheitsversorgung kann keine Rede sein.
Schmutzige Krankenhäuser sorgen immer wieder für Schlagzeilen, zuletzt vor wenigen Tagen. Da wurde bekannt, dass in einem einzigen Hospital in der Grafschaft Kent 90 Patienten an Infektionen gestorben sind, die auf mangelnde Krankenhaushygiene zurückzuführen waren. Sicher ein Skandal, aber leider kein Einzelfall. Meine Frau, die das zweifelhafte Vergnügen hat, in einem anderen Krankenhaus zu arbeiten, berichtet beinahe täglich von Ungeziefer, dem sie bei der Arbeit begegnet. Mal sind es Ameisen, die aus frischer Bettwäsche krabbeln, dann wiederum Kakerlaken, die unter den Betten gefunden werden. Zuletzt waren es gar Ratten, die auf ihrer gerade frisch renovierten Station gesichtet wurden. Nein, überraschend sind nicht die Berichte über Todesfälle in englischen Krankenhäusern. Überraschend ist höchstens, dass es davon nicht noch mehr gegeben hat.
In das Gesamtbild vom NHS fügt sich auch nahtlos das Ergebnis einer Umfrage unter über 5.000 Briten ein. Von diesen gaben rund sechs Prozent an, dass sie bei der Zahnversorgung regelmäßig zur Selbsthilfe greifen. Da werden Zähne zu Hause mit Zangen aus dem Werkzeugkoffer gezogen, weil es nicht genügend Zahnärzte in Großbritannien gibt. Obwohl das eigentlich so nicht stimmt, denn es gibt sehr wohl Dentisten in England, nur arbeiten die inzwischen vermehrt privat, nicht mehr im NHS.
Aber nun bahnt sich bereits die nächste große Katastrophe für den Gesundheitsdienst an. Die Briten werden nämlich immer dicker. Ein Problem “in der Größenordnung des Klimawandels” erwartet denn auch Gesundheitsminister Alan Johnson, die Lage muss also wirklich ernst sein. Was auf den NHS damit zukommt, kann man bislang nur erahnen, aber englische Zeitungen machten auf ihren Titelseiten Anfang der Woche bereits auf die schlimmsten Folgen der globalen Verfettung aufmerksam. Die Krankenhausbetten sind bereits heute für viele Patienten zu schmal. Aber es kommt noch schlimmer: Ein Krankenhaus meldete, dass einzelne Stationen unter dem Gewicht ihrer Patienten zusammenzubrechen drohten. In anderen Ländern würde man solche Befürchtungen für übertrieben halten, aber im NHS ist auch dies denkbar.
Doch Besserung ist nicht in Sicht. Und so verlassen nicht die Ratten das sinkende Schiff NHS (schön wäre es!), sondern dessen beste Mitarbeiter. Die noch vor kurzem als “Krankenschwester des Jahres” ausgezeichnete Justine Whitaker gab heute bekannt, ihren Kittel an den Nagel zu hängen. Sie hätte von den endlosen Versuchen, durch Zielvorgaben und Reformen aus dem NHS einen funktionierenden Gesundheitsdienst zu machen, genug gehabt.
Nein, der NHS konnte seine zentralen Versprechen bislang nicht einlösen. Wie eigentlich jede andere Ausprägung der Zentralverwaltungswirtschaft ist er kläglich gescheitert. Oder wie Telegraph-Kolumnist Charles Moore es kürzlich formulierte: “The NHS is run from top to bottom, and therefore, from top to bottom, it is bad.”