Am Dienstag berichtete die „New York Times“ eine ziemliche Sensation. Das ist nicht ungewöhnlich, denn die Autoren Max Fisher and Amanda Taub erklären in ihrer „NYT“-Kolumne „The Interpreter“ laut Selbsteinschätzung regelmäßig „die Ideen und Zusammenhänge hinter bedeutenden Weltereignissen“. Das lange Stück erschien zunächst online und schaffte es zwei Tage später in gekürzter Form sogar auf Seite eins der New Yorker Printausgabe.
Das bedeutende Weltereignis hatte diesmal mit unguten Entwicklungen in good old Germany zu tun, weshalb die beiden Welterklärer einen dritten Journalisten, Shane McMillan, losschickten, auf dass er ordentlich Lokalkolorit und fleischige Zitate zu ihrem Report des Grauens beisteuere. So sprach MacMillan im nordrhein-westfälischen Altena mit einer Integrationshelferin und einem Staatsanwalt, im bayerischen Traunstein mit einer Berufsschullehrerin und einem Kunstmaler (gleichzeitig Facebook-„Superposter“) und schließlich in Berlin-Schmargendorf mit einer italienischstämmigen Eisverkäuferin und einer kolumbianischen Zuwanderin, deren Tagesgestaltung unklar blieb.
Die „NYT“-Spürhunde betrieben diesen Aufwand, „um jeden Schritt nachzuverfolgen von [Facebooks] Algorithmus-getriebenem Nachrichtenstrom bis zu Angriffen in der echten Welt, die die Nutzer sonst vielleicht nicht begehen würden – Schritte, die auf die subtile, aber tiefgreifende Weise hindeuten, in der das soziale Netzwerk Gesellschaften umformt“.
Um nichts Geringeres geht es hier nämlich: die Umformung ganzer Gesellschaften durch soziale Netzwerke, namentlich Facebook. Die bereits beispielhaft umgeformte Gesellschaft ist in diesem Fall die deutsche, in der „von Facebook befeuerte Attacken gegen Flüchtlinge“ stattfinden.
Deutsche Medien springen auf
Zum Beweis des engen Zusammenhangs zwischen Facebook und Gewalt gegen Flüchtlinge führen Fisher/Taub eine „bahnbrechende Studie“ der University of Warwick an, einer staatlichen Hochschule nahe Coventry im Vereinigten Königreich. Was die „NYT“-Qualitätsjournalisten nicht für erwähnenswert hielten: Die bahnbrechende Studie – mit dem für eine wissenschaftliche Publikation ungewöhnlich reißerischen Titel „Fanning the Flames of Hate: Social Media and Hate Crime“ – ist erstens keineswegs neu und zweitens längst als Luftnummer entlarvt.
Bereits im Dezember 2017 hatten Karsten Müller und Carlo Schwarz, zwei junge deutsche Warwick-„Forscher“, eine erste Fassung ihrer Untersuchung vorgelegt. Sie hatten mehrere hunderttausend angeblich „flüchtlingsfeindliche“ Posts, Kommentare und Likes auf Facebook analysiert und in Zusammenhang gesetzt mit etwa 3.000 „Gewalttaten“, die es in Deutschland gegen Flüchtlinge zwischen Januar 2015 und Anfang 2017 gab.
Der Berliner „Tagesspiegel“, der unter der Überschrift „Studie: Facebook fördert Hass auf Flüchtlinge“ auf die Story aufsprang, fasst das Ergebnis der Warwick-Studie so zusammen:
„Wenn auf Facebook flüchtlingsfeindliche Kommentare gepostet werden, steigt auch die Zahl von flüchtlingsfeindlichen Übergriffen in den Gemeinden, in denen es eine hohe Facebook-Nutzung gibt. Interessant ist, dass die beiden deutschen Wissenschaftler von der Universität Warwick auch den umgekehrten Effekt nachgewiesen haben: Bei Internet- oder Facebook-Ausfällen sank die Zahl der durch Hass motivierten Gewalttaten ab. Ebenso, wenn andere Nachrichtenthemen die Anti-Flüchtlings-Stimmung in den sozialen Medien überlagerten.“
Noch einmal zum Mitschreiben: Böse Menschen posten „flüchtlingsfeindliche“ Kommentare auf Facebook, und – zack – gibt es mehr „flüchtlingsfeindliche Übergriffe“ in der jeweiligen Gemeinde. Dieser Zusammenhang ist so direkt und unmittelbar, dass bei einem zeitlich und örtlich begrenzten Facebook-Ausfall – zack – die Übergriffe lokal sofort zurückgehen.
Fleißkärtchen statt Recherche
Das klingt auf Anhieb so abstrus, dass jeder geistig gesunde Mensch eigentlich an einen Aprilscherz denken müsste. Nach vergewisserndem Blick auf den Kalender sollten zumindest Journalisten von spontanem Recherchedrang befallen werden, um die Geheimnisse hinter der Studie zu ergründen. Meint man. Ist aber nicht so.
Immerhin, anders als die „New York Times“ erwähnt der „Tagesspiegel“ wenigstens, dass es „auch Kritik an der Studie“ gibt. Statt sich eingehender mit dieser Kritik zu beschäftigen, verdient sich die Autorin allerdings lieber ein Fleißkärtchen, indem sie diverse Stellungnahmen aus der Politik einholt und die Story so weiter aufpumpt:
„Die Studie wird innerhalb der Bundesregierung ,aufmerksam ausgewertet werden‘, sagte Digitalstaatsministerin Dorothee Bär (CSU) dem Tagesspiegel. […] Konkreter wird dagegen Dieter Janecek, Sprecher für digitale Wirtschaft der Grünen-Bundestagsfraktion: ,Die Schlussfolgerungen der Studie sind mehr als beunruhigend und bestätigen leider die naheliegende Annahme, dass die Zunahme von Hass und Hetze im Netz sowie die bewusste Verbreitung von Falschmeldungen nicht nur psychische, sondern auch physische Gewalt zur Folge haben‘, sagte er dem Tagesspiegel. Es sei nicht ausreichend, nur den bestehenden Strafkatalog auf das Internet zu übertragen, um gegen Hate-Speech vorzugehen. Es brauche „einen breiteren Ansatz, der die gesamte Diskussions- und Streitkultur in den Blick nimmt“.“
So funktioniert die Denkbremse, längst nicht mehr nur bei Grünen. Dass „die Zunahme von Hass und Hetze im Netz […] auch physische Gewalt zur Folge“ hat, ist für viele eine so „naheliegende Annahme“, dass eine eigentlich noch viel näher liegende Skepsis nicht aufkommen darf. Dabei müsste man sich mit den „mehr als beunruhigenden Schlussfolgerungen“ der Studie gar nicht erst beschäftigen, wenn man sich über ihre beruhigende Bedeutungslosigkeit informiert hätte.
Unseriöse Datenbasis von Amadeu Antonio Stiftung
Bereits im Januar 2018 zerlegte Autor Michael Klein in einem lesenswerten Aufsatz auf sciencefiles.org die Warwick-Studie, angefangen bei der zweifelhaften Qualifikation der Verfasser (die „Forscher“ sind zwei junge Doktoranden, die nicht etwa Soziologie, sondern Ökonomie studierten) über die mangelhafte theoretische Unterfütterung der Studienanlage bis zu krassen methodischen Fehlern und „Verstößen gegen die wissenschaftliche Lauterkeit“:
„Die Autoren behaupten, sie würden Aussagen, Kommentare usw. sammeln, die sich GEGEN Flüchtlinge richten (Seite 8). Tatsächlich arbeiten sie grundsätzlich, wie das Kleingedruckte z.B. zu den Tabellen 5 oder 6 verrät, mit allen Aussagen zu Flüchtlingen, ob sie nun positiv oder negativ oder neutral sind. Wann immer in einem Kommentar oder Post das Wort ,Flüchtling‘ vorkommt, wird der entsprechende Kommentar oder Post gezählt.“
Um den anderen Teil der Datenbasis, die angeblichen „Angriffe gegen Flüchtlinge“, steht es noch schlimmer. Denn die Studienautoren verwendeten nicht etwa behördliche Statistiken, sondern Daten der Amadeu Antonio Stiftung, „die im Vergleich zur Polizeilichen Kriminalstatistik deutlich nach oben abweichen“ und „wegen ihrer Unzuverlässigkeit bekannt sind, so bekannt, dass sie ein Wissenschaftler nicht einmal mit Handschuhen anfassen würde“, so Kritiker Klein.
Die vielfach thematisierte Stiftung unter dem Vorsitz von Ex-Stasi-IM Anetta Kahane pflegt eine Chronik, die „flüchtlingsfeindliche Vorfälle“ von rechts dokumentiert. Auf die mangelhafte Qualität dieser Sammlung wies Achgut hier bereits vor zwei Jahren hin. Ansgar Mönter von der „Neuen Westfälischen“ hatte die Vorfälle überprüft, die der Stadt Bielefeld zugeordnet waren. Sein Fazit: „Diese Statistik hält jedoch der Überprüfung für Bielefeld nicht stand. Ein Faktencheck der aufgezählten Fälle in der Stadt ergibt: Die Fehlerquote liegt bei 80, eventuell gar bei 100 Prozent.“
Nutella macht kriminell
Über den auf solcher Grundlage von den Warwick-Autoren ermittelten Zusammenhang zwischen Facebook-Posts und Kriminalität gegen Flüchtlinge spöttelt Michael Klein zusammenfassend:
„Dieser Zusammenhang findet sich übrigens auch für die Häufigkeit, mit der der Begriff ,Flüchtling‘ auf der Facebook-Seite von Nutella auftaucht (Tabelle 5), was den Schluss nahelegt, […] dass braune Schokoladencreme […] zu Übergriffen gegen Flüchtlinge oder Flüchtlingsheime führt. Damit ist eigentlich alles gesagt zu dieser unsäglichen und anbiedernden Studie, mit der eine neue Form der Junk Science, die sliming science, wie man sie nennen könnte, begründet ist.“
Gänzlich unkritisch ist mittlerweile eine Reihe von deutschsprachigen Medien der von der „New York Times“ zum Weltereignis aufgeblasenen Luftnummer hinterhergelaufen: von „Focus“ bis „Welt“, von „Meedia“ bis zum Kommunikationsfachblatt „W&V“, von der „Deutschen Welle“ bis zum österreichischen „Standard“. Einzig die „Süddeutsche“ hinterfragte die Studie und brachte mehrere kritische Stimmen.
Bei solch unsäglichem Herdenjournalismus müssen sich die Verantwortlichen nicht wundern, wenn mehr und mehr Leser vom Glauben abfallen und den „Qualitätsmedien“ misstrauen. Ausgerechnet der „New York Times“-Artikel lässt übrigens zur Glaubwürdigkeitsfrage Frau Simonetti aus Berlin-Schmargendorf zu Wort kommen: „Viele Leute lügen und fälschen in den Zeitungen. […] Aber mit dem Internet kann ich selbst entscheiden, was ich glaube und was nicht.“ Dass sie die Berliner Eisverkäuferin mit ihrem eigenen Welterklärer-Stück bestätigen würden, haben die „NYT“-Koryphäen wohl nicht erwartet.
Dumm gelaufen.