Rainer Grell / 03.01.2017 / 16:00 / Foto: Marcus Quigmire / 3 / Seite ausdrucken

Neun,neunundneunzig

„Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“ Diese Erkenntnis verdanken wir keinem Geringeren als Helmut Kohl. Nun gut, mal mag Scheiße rauskommen, mal Abgase (ein Gemisch einiger hundert Substanzen).

Aber das ist keineswegs immer so. Es geht auch um Zahlen, und zwar um die NEUN. Ist Ihnen nicht auch schon aufgefallen, dass bei den Preisen hinten immer eine 9 rauskommt, meistens sogar eine Doppel 9. Das sieht dann so aus: „Einmalig! Nur noch bis übermorgen: T-Shirts, alle Farben, nur 9,99!“ Zwar betrüge die Differenz zu 10,00 bloß 1 Cent. Aber das ist eben der entscheidende Unterschied, denn: „Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt“, wie bereits Napoleon (der Erste) wusste. Überlassen wir die Frage, was in dem Beispiel das Erhabene und das Lächerliche ist, den Fachleuten oder den Talkshows und wenden uns einer ganz speziellen Erscheinung zu. Ich rede von den Benzinpreisen.

Hier kann man vier einzigartige Phänomene beobachten:

  • Einmal die kleine 9 am Ende jeder Preisanzeige.
  • Zum Zweiten den mehrmaligen Wechsel der Preise an einem Tag.
  • Drittens das An- und Abschwellen der Preise im Laufe der Woche.
  • Und schließlich den Gleichklang der Preiswechsel bei allen Benzinmarken.

Schauen wir uns diese Phänomene der Reihe nach an. 

Diese verflixte 9 am Ende der Preisanzeige

Die 9 am Ende bedeutet den neunten Teil eines Cents oder 0,9 Cent bzw. 0,009 Euro. Nun ist aber die kleinste Münzeinheit 1 Cent (wer’s nachprüfen möchte: VERORDNUNG (EG) Nr. 975/98 DES RATES vom 3. Mai 1998 über die Stückelungen und technischen Merkmale der für den Umlauf bestimmten Euro-Münzen, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L 139/6 vom 11.5.1998), so dass es ein Ding der Unmöglichkeit ist, 0,9 Cent zu bezahlen. Wenn ich beispielsweise 41,86 Liter tanke, müsste ich bei einem Preis von 1,309 Euro/Liter 54,794 Euro zahlen. Ich lege 55 Euro auf den Tresen und verlange 0,206 Euro zurück. Die Kassiererin verzieht keine Miene und gibt mir 21 Cent raus. Ich öffne den Mund, aber noch bevor ein Protestlaut meine Stimmlippen verlassen kann, zeigt sie wortlos, doch mit unverkennbar triumphierendem Blick auf den Tankbeleg. Und ich lese 54,79 Euro. Macht in der Tat 21 Cent Differenz zu meinen hingegebenen 55 Euro. Ebenfalls wortlos streiche ich die Münzen ein und verlasse beschämt den Raum.

Zu Hause gehe ich das Ganze noch mal in Ruhe durch. Führt die kleine 9 am Ende zu einem Endbetrag < 0,50 Cent, wird abgerundet, ansonsten aufgerundet. Dabei kommt der Grundsatz „Kleinvieh macht auch Mist“ zum Tragen: Bei einer Tankfüllung von 41,86 Liter führt die kleine 9 hinter der Preisangabe von 1,30 Euro/Liter zu einer Mehreinnahme von 0,37 Euro. Geht man von durchschnittlich 0,50 Euro Mehreinnahme pro Tankvorgang aus, ergibt dies bei 25 Millionen Tankstellenkunden pro Tag (so viele hat Shell weltweit) das nette Sümmchen von 12,5 Millionen Euro. Macht pro Jahr (weltweit) 4,5625 Milliarden. Und dies nur wegen der kleinen 9 am Ende. Ein Mathematiker könnte diese übrigens für eine Potenz halten, also 1,309 Euro. Eine Horrorvorstellung! Das ergäbe einen Literpreis von 10,60 Euro. Das läge in der Nähe der 9,999 die eine Esso-Tankstelle in Filderstadt (bei Stuttgart) am Ostermontag 2011 für Super auf der Anzeigentafel hatte (angeblich zur „Abschreckung“, weil die Tanks für Super fast leer gewesen seien).   

Manch einer mag angesichts solcher Zahlen wehmütig an die Worte des letzten deutschen Kaisers denken: „Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist nur eine vorübergehende Erscheinung.“

Ja, ja ... Spotmarkt und Refinanzierung ... logisch

Ich komme Dienstagmorgen um 9.00 Uhr an „meiner“ (wenn es doch so wäre) Shell-Tankstelle vorbei und lese auf der Preistafel „Super 1,309“. Schon will ich zum Tanken einbiegen, da fällt mir ein, dass ich weder Geld noch Kreditkarte dabei habe. Macht nichts, fahre ich eben später noch mal vorbei. Natürlich kommen ein paar Kleinigkeiten dazwischen, so dass ich erst nach zwei Stunden in die Tankstelle einfahre. Als ich die Zapfpistole in den Tankstutzen schiebe und der Preis in der Zapfsäule angezeigt wird, traue ich meinen Augen nicht: 1,359. Verwundert schaue ich auf die große weithin sichtbare Anzeigentafel, die ich beim Reinfahren gar nicht mehr beachtet hatte. Tatsächlich: 1,359. Als ich abends noch mal an der Tanke (den Ausdruck habe ich von einer unserer Töchter, die sich als Studentin eine Zeitlang an einer Tankstelle ein bisschen dazu verdient hat) vorbei fahre, steht der Preis auf 1,28, natürlich mit der unvermeidlichen kleinen 9 dahinter. Ja, so ist der Markt eben: schnell, dynamisch, flexibel. Das Benzin in den Tanks stammt zwar immer noch aus derselben Lieferung von vor zwei Tagen. Aber die Preise am Spotmarkt in Amsterdam hätten sich geändert, lässt die Mineralölindustrie in den Abendnachrichten verlauten. Außerdem seien die Refinanzierungskonditionen ungünstiger geworden. Was das mit dem sich bereits in den Tanks meiner Tankstelle befindlichen Benzin zu tun hat, bleibt offen. Als ich dann am Mittwoch zunächst den Preis von 1,379 lese, der sich am Abend leicht auf 1,349 gesenkt hat, wundere ich mich schon nicht mehr. Ich weiß ja jetzt Bescheid: Spotmarkt und Refinanzierung. Alles in Bewegung.

Na ja, im Augenblick kann’s mir egal sein. Mein Tank ist ja noch randvoll. Trotzdem fahre ich auch am Donnerstag und dem Rest der Woche mehrfach an der Tankstelle vorbei, um die Preise zu kontrollieren. Man möchte sich schließlich kein X für ein U vormachen lassen, sondern informiert sein. Als mündiger Bürger bzw. Konsument. Das bin ich meinem Intellekt und meiner gesellschaftlichen Stellung einfach schuldig, wenn Sie verstehen, was ich meine. Das Ergebnis meiner Recherchen überrascht nun nicht mehr: Der Markt ist „volatil“ und die Benzinpreise sind es auch. Ich konzentriere mich auf den Preis für Super, weil ich nichts anderes tanke und stelle fest: Er pendelt so um die 1,32, erreicht am Samstag mit 1,38 einen Höhepunkt, um dann am Sonntag plötzlich auf 1,30 abzusacken. Immer mit der obligaten kleinen 9 dahinter, versteht sich. Was für ein Schock für die Konzerne und die Tankstellenpächter. Am Sonntag bilden sich sofort drei lange Schlange an den Zapfsäulen, denn 8 Cent pro Liter sparen oder nicht sparen, das ist schon was. Das kommen schon mal fünf Euro pro Tankfüllung zusammen. Hätten sie bis Montag gewartet, wären es noch mehr geworden: 1,289!

An sich bin ich ein markentreuer Kunde: Seit 35 Jahre dieselbe Automarke, seit 50 Jahren dieselbe Bank, dieselbe Haftpflicht- und Krankenversicherung usw. (Nur meinen Stromlieferanten habe ich kürzlich nach Jahrzehnten gewechselt, aber das ist eine andere Geschichte.) Und Shell tanke ich ebenfalls seit Jahrzehnten. Einmal weil die Tankstelle in der Nähe unserer Wohnung liegt, zum anderen weil ich als ADAC-Mitglied 1 Cent Rabatt pro Liter bekomme. Aber bringt es das tatsächlich? Ich ziehe ernsthaft in Erwägung, zu einer anderen Marke zu wechseln. Esso und Aral sind zwar etwas weiter weg, liegen aber immer noch günstig. Außerdem befindet sich ganz in der Nähe meiner Shell-Tankstelle eine OMV-Tankstelle. „Mit einem Konzernumsatz von EUR 23,32 Mrd. und einem Mitarbeiterstand von 31.398 im Jahr 2010 ist die OMV Aktiengesellschaft eines der größten börsennotierten Industrieunternehmen Österreichs“ (Eigenwerbung). Doch bereits nach kurzer Zeit gebe ich den Gedanken eines Markenwechsels wieder auf: Die Preise sind überall haarscharf die gleichen, einschließlich der kleinen 9. Das kann doch nicht sein. „Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken, sind verboten“, heißt es in Paragraph 1 des Kartellgesetzes (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen).

Absprechen verboten, abgucken erlaubt, und der Staat verdient mit

Bisher scheint es den Kartellbehörden jedoch nicht gelungen zu sein, Preisabsprachen zwischen den Mineralölkonzernen nachzuweisen. Denn: „Absprechen ist verboten, abgucken aber nicht“, wie der Präsident des Bundeskartellamts bemerkte. Am 12. September 2013 hat deshalb die „Markttransparenzstelle für Kraftstoffe“ beim Bundeskartellamt ihre lobenswerte Arbeit aufgenommen. Eine Änderung der Verhältnisse an den Zapfsäulen habe ich aber nicht feststellen können.

Ich schließe allerdings nicht aus, dass mir einfach der Durchblick fehlt. Doch so viel ist klar: Bei jedem verkauften Liter Benzin verdient der Staat kräftig mit: 65,45 Cent (§ 2 Abs. 1 Nr. 3 Energiesteuergesetz: „für 1000 l mittelschwere Öle der Unterpositionen 2710 19 21 und 2710 19 25 der Kombinierten Nomenklatur 654,50 EUR“). Da sollte man die Konzerne vielleicht nicht unnötig verärgern. Na ja, egal. Und auch der ADAC, der unermüdliche Verfechter des Prinzips „Freie Fahrt für freie Bürger“, tut offenbar nichts gegen diese, sagen wir, Unsitte, nein Unsitten, denn es sind ja wie gesagt vier: die kleine 9, der täglich mehrmals wechselnde Preis, die Preisschwankungen pro Woche und deren Gleichklang zwischen den Konzernen. Da ist vermutlich höhere Mathematik im Spiel.

Doch Vorsicht! Wer in Mathe nicht sattelfest ist, kann sich schon mal blamieren, wie eine Kneipe mit folgender Werbung: „Ein Bier 3,30, drei Bier 9,99!“

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Leserpost

netiquette:

Andreas Rochow / 03.01.2017

Ich habe wiederholt mit Tankboykott gedroht. Der Pächter hat sich gekringelt vor Lachen und ausgerufen: “Wetten, dass Sie wiederkommen?”. Vor einigen Jahren schaffte eine Mineralölgesellschaft Preisklarheit mit dem Slogan: “Wir verkaufen Ihnen, was Theo verwaigelt hat.” Die 0,9 Cent und die offenkundigen Preisabsprachen sind aber längst nicht so ärgerlich wie der Preisunterschied zwischen PKW- und LKW-Diesel! Sich deswegen einen LKW anzuschaffen, lohnt wohl eher nicht. Apropos Staatseinnahmen: Sollte die Energiewende gelingen und mobile Energie dann statt aus der Zapfsäule aus der Steckdose kommen, müssen wohl neue Steuern erfunden werden.

Stefan Hundhammer / 03.01.2017

Die Benzinpreise sind Grund genug, das Bundeskartellamt ersatzlos abzuschaffen; offensichtlich ist diese Behörde komplett inkompetent. Seit den 70ern müssen wir uns immer wieder anhören, daß es “keine Anzeichen für Preisabsprachen” gibt - ja, is’ klar.

Gerd Rehder / 03.01.2017

Und glauben Sie mir, alle bestellen 3 Bier. Während meines Studiums, Fachrichtung Marketing ging es um die Wirkung von Zweitplatzierungen in Supermärkten. Diese Zweitplatzierungen sollen günstige Angebote suggerieren, die es aber gar nicht sind. Um das zu beweisen, das der Kunde gerade bei diesen Angeboten zugreift, ließen wir ein Schild vom Filialleiter eines Edeka-Marktes herstellen auf dem Stand: 1 Dose Libby´s Dosenmilch 30 Pfenning, 3 Dosen 1 Mark. Fast alle kamen an der Kasse mit 3 Dosen an. Auf die Nachfrage, warum sie ausgerechnet 3 Dosen genommen haben, kam die Antwort “Das ist doch billiger”. Genauso verhält es sich mit der Rabattschleuderei des Handels. Rabatte die es nicht gibt. Einfach mal nachrechnen. Aber das tun die wenigsten.

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