Ein präzedenzloser Schlag trifft das Herz der russischen Militärmacht – tief im eigenen Hinterland, mit globaler Wirkung. Was wie eine Einzeloperation wirkt, entpuppt sich als Zäsur im strategischen Denken über Abschreckung, Eskalation und Verwundbarkeit.
Am 1. Juni 2025 hat der ukrainische Geheimdienst ein neues Kapitel moderner Militärgeschichte geschrieben. Mit chirurgischer Präzision und beispielloser Kühnheit griff die Ukraine mehrere russische Luftwaffenstützpunkte tief im Hinterland an. Ziel der Drohnenangriffe waren strategische Bomber vom Typ Tu-95 und Tu-22M3 sowie das fliegende Radarsystem A-50 – Maschinen, die regelmäßig für Raketenangriffe auf ukrainische Städte eingesetzt werden.
Während der Kreml zunächst von abgewehrten Attacken sprach, kursierten in sozialen Netzwerken bald Videos, die ein anderes Bild zeichneten: brennende Flugplätze, zerstörte Maschinen, ungehindert einschlagende Drohnen. Die Aufnahmen dokumentierten, wie ukrainische Flugkörper unbehelligt in den russischen Luftraum eindrangen und ihre Ziele präzise trafen – ein operativer Erfolg von seltener Deutlichkeit.
Um seine Bedeutung zu erfassen, muss der Angriff auf zwei Ebenen betrachtet werden: militärisch, ökonomisch und politisch. Das Ausmaß der Zerstörung stellt für den Kreml eine sicherheitspolitische Katastrophe dar. Der ukrainische Sicherheitsdienst SBU spricht von über 40 zerstörten oder kampfunfähig gemachten Flugzeugen.
Die Angriffe konzentrierten sich auf die Luftwaffenstützpunkte „Belaja“ in Irkutsk und „Olenja“ auf der Halbinsel Kola. Dort waren laut Satellitenaufnahmen 79 Tu-22M3, 17 Tu-95MS und 7 Tu-160 stationiert – das Rückgrat der russischen Fernfliegerkräfte. Auch Transport- und Spezialflugzeuge wie An-12, Il-78M, MiG-31 und A-50 wurden getroffen. Viele dieser Maschinen gehören zur nuklearen Triade Russlands. Ihr Verlust ist nicht nur materiell gravierend, sondern strategisch hochbrisant.
Besonders schwer wiegt die mutmaßliche Dezimierung der Tu-95MS-Flotte. Diese Langstreckenbomber kommen regelmäßig in Gruppen zum Einsatz, um dutzende Marschflugkörper – darunter die potenziell nuklearfähigen Typen Kh-101, Kh-555 und Kh-55 – auf ukrainische Städte abzufeuern. Die Maschinen stammen aus den 1980er-Jahren, ihre Instandhaltung erfolgt unter großen Einschränkungen. Jeder Verlust ist faktisch dauerhaft.
Auch die Tu-22M3 wurde in signifikanter Zahl getroffen. Der Überschallbomber mit einer Höchstgeschwindigkeit von über 2.000 km/h dient als Trägerplattform für die schwer abfangbare Kh-22 sowie die aeroballistische Rakete Kh-47M2 „Kinschal“. Beide Systeme werden regelmäßig gegen zivile Ziele eingesetzt. Da Russland jährlich nur wenige Maschinen modernisieren kann, sind die jüngsten Verluste nicht ersetzbar.
Mindestens ein strategischer Bomber vom Typ Tu-160, der „weiße Schwan“, wurde ebenfalls beschädigt. Mit bis zu 40 Tonnen Bombenzuladung und einer Reichweite von über 13.000 Kilometern zählt er zu den imposantesten Trägersystemen der russischen Luftwaffe – und zu den teuersten. Russland verfügt nur über eine Handvoll einsatzfähiger Maschinen. Ersatz existiert nicht.
Von besonderer operativer Bedeutung ist der mutmaßliche Verlust eines Frühwarnflugzeugs des Typen A-50. Das fliegende Radarsystem übernimmt die Luftraumüberwachung, Zielaufklärung und Koordination russischer Luftoperationen. Es gilt als „Auge“ der Fernfliegerkräfte. Nach ukrainischen Angaben verbleiben Russland nur noch vier funktionsfähige Systeme – ohne realistische Aussicht auf Ersatz.
Auch logistische Verluste wie die Zerstörung von An-12-Transportflugzeugen wiegen schwer. Zwar ist ihre Symbolkraft geringer, doch ihre Funktion unverzichtbar – insbesondere für Truppentransporte und Nachschublogistik in entlegenen Regionen wie Sibirien oder dem Fernen Osten.
Mehr als ein taktischer Erfolg
In der Summe hat die Ukraine mit einem einzigen, präzise koordinierten Schlag weit mehr erreicht als einen taktischen Erfolg. Sie hat zentrale Strukturen der russischen Luftstreitkräfte schwer beschädigt: Radarabdeckung, nukleare Trägersysteme, Raketenlogistik und strategische Mobilität. Viele der getroffenen Maschinen werden Russland auf Jahre hinaus fehlen. Technische Rückstände, geringe industrielle Kapazitäten und westliche Exportkontrollen verhindern eine zügige Wiederherstellung.
Damit ist klar: Die Operation „Spinnennetz“ war kein symbolischer Nadelstich, sondern ein systemischer Angriff auf Russlands Fähigkeit, aus der Luft strategische Macht zu entfalten. Nach Angaben des SBU wurden rund 34 Prozent der Trägerflugzeuge für Marschflugkörper ausgeschaltet. Ihr Ausfall schwächt Russlands Zweitschlagfähigkeit spürbar. Was russische Militärblogger bereits als „russischen Pearl Harbor“ bezeichnen, markiert den Beginn einer neuen Realität militärischer Verwundbarkeit.
Der materielle Schaden beläuft sich konservativ geschätzt auf über sieben Milliarden US-Dollar. Doch weit schwerer wiegt der strategische Vertrauensverlust. Russland verliert nicht nur Flugzeuge, sondern die Gewissheit, dass sein Hinterland sicher ist. Die Ukraine hat gezeigt, dass sie über die operative Fähigkeit verfügt, selbst schwer gesicherte Stützpunkte tief im russischen Kernland zu treffen – und das mit vergleichsweise einfachen Mitteln.
Die Angriffe offenbarten zudem gravierende Defizite in der russischen Luftverteidigung. Weder Flugabwehrsysteme noch elektronische Störsender griffen wirksam ein. Viele Maschinen standen ungeschützt im Freien. Ein Befund, der in Moskau eine Debatte über die Effizienz der massiven Zuwendung für den Verteidigungssektor auslösen dürfte: Mittlerweile werden 40 Prozent des Staatshaushalts für den Krieg ausgegeben. Doch angesichts sich leerender Haushaltskassen droht selbst die notwendige Nachrüstung zum strategischen Bumerang zu werden.
Während der materielle Schaden Russland in einer Phase wirtschaftlicher Schwäche trifft, wiegt die politische Dimension ungleich schwerer. Erstmals in der Geschichte moderner Kriegsführung hat ein nichtnuklearer Staat gezielt Militärbasen eines Nuklearwaffenstaats auf dessen eigenem Territorium angegriffen – und das über fünf Regionen hinweg. Ein Präzedenzfall ist geschaffen, die symbolische „rote Linie“, vor deren Überschreitung Moskau stets gewarnt hatte, existiert faktisch nicht mehr.
Deswegen erreicht der Krieg mit dem Schlag gegen strategische Luftwaffenstützpunkte eine neue Eskalationsstufe. Schon im Herbst 2023 hatte die Ukraine mit HIMARS-Systemen Ziele tief im russischen Hinterland getroffen. Doch „Spinnennetz“ zielte auf das Zentrum der russischen Abschreckung: die Zerstörung nuklearfähiger Trägersysteme. Die politische Sprengkraft dieses Angriffs betrifft das globale Machtgefüge.
Die Drohne als Machtsymbol
Damit ist jenes Szenario Realität geworden, das Kritiker der Freigabe westlicher Langstreckenwaffen unbedingt vermeiden wollten. Doch die Realität übertrifft die Warnung: Die Ukraine traf Ziele, die selbst mit Systemen wie Taurus nicht erreichbar gewesen wären.
Ob dies der Grund war, weshalb Friedrich Merz auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Wolodymyr Selenskyj keine Aussagen mehr zu den angekündigten Taurus-Lieferungen machte, bleibt offen. Ebenso unklar ist, inwieweit Washington im Vorfeld eingeweiht war: Eine entsprechende Meldung des US-Portals „Axios“, wonach das Weiße Haus informiert gewesen sei, wurde nach dem Angriff gelöscht. Die Vorstellung, Donald Trump habe von der Operation keine Kenntnis gehabt, erscheint ohnehin wenig plausibel.
Sollte der Zeitpunkt des Angriffs bewusst gewählt worden sein, dann nicht nur als militärischer Akt – sondern auch als diplomatische Strategie. Ein Hinweis darauf ergibt sich daraus, dass Präsident Selenskyj seine Teilnahme an der neuen Verhandlungsrunde in Istanbul erst nach Veröffentlichung der Bilder ankündigte. Die Botschaft ist eindeutig: Kiew will Stärke demonstrieren – gegenüber Moskau, aber auch gegenüber Washington. Die Drohne als Machtsymbol, der Angriff als Hebel, der Zeitpunkt als Signal.
So überrascht es kaum, dass die am 2. Juni 2025 erfolgte zweite Verhandlungsrunde ohne politischen Fortschritt endete. Zwar einigten sich beide Seiten auf humanitäre Maßnahmen – darunter ein groß angelegter Gefangenenaustausch und die Rückführung gefallener Soldaten –, doch ein Waffenstillstand oder gar ein Friedensabkommen blieb aus.
Moskau hatte das Treffen initiiert, legte jedoch bis zuletzt keinen eigenen Entwurf für ein Memorandum vor. Erst vor Ort präsentierte die russische Delegation ein Papier, das aus Sicht Kiews faktisch einer Kapitulationsforderung gleichkommt: Anerkennung russischer Kontrolle über besetzte Gebiete, Neutralität, Verzicht auf westliche Militärhilfe und eine Begrenzung der ukrainischen Streitkräfte. Die ukrainische Seite nahm das Dokument entgegen, verzichtete auf eine öffentliche Stellungnahme und kündigte eine Prüfung an. Parallel dazu forderte Kiew ein Präsidententreffen noch im Juni – möglichst unter Einbindung der USA.
Putins strategischer Kontrollverlust
Die Drohnenangriffe wurden offiziell nicht thematisiert. Doch ukrainische Vertreter ließen erkennen: Ein Waffenstillstand im Frühjahr hätte die Zerstörung russischer Bomber verhindert. Der Abstand zu einer substanziellen Einigung bleibt groß – und dass der Kreml unter dem Eindruck der Angriffe verhandlungsbereiter wird, gilt als unwahrscheinlich.
Weitaus bedeutsamer als der militärische Erfolg ist die geopolitische Dimension der Operation. Die gezielte Schwächung russischer Nuklearträger bedeutet einen indirekten Zugewinn an Sicherheit für die Vereinigten Staaten. In Washington läuft die Debatte über neue Sanktionen gegen Moskau. Der Besuch der US-Senatoren Lindsey Graham und Richard Blumenthal in Kiew – wenige Tage vor dem Angriff – könnte dem Sanktionspaket zusätzlichen Nachdruck verleihen. Beobachter werten dies als kalkuliertes Signal: ein mögliches Druckmittel für Donald Trump, um Putin unter dem Eindruck ukrainischer Stärke zu einem Waffenstillstand zu bewegen.
Gleichzeitig wirft der Angriff grundlegende Fragen zur Führungskraft Wladimir Putins auf. Der strategische Kontrollverlust ist offensichtlich. Ob es dem Kreml gelingt, die Verantwortung abermals auf untergeordnete Ebenen abzuwälzen, erscheint fraglich. Analysten sehen in der Operation ein weiteres Indiz für die Erosion staatlicher Schutzmechanismen – und der persönlichen Autorität Putins. Die Folgen für die Machtvertikale sind offen, aber potenziell tiefgreifend.
Trotz jahrelanger Versuche, militärische Rückschläge durch personelle Schuldzuweisungen zu relativieren, steht Präsident Putin vor einer desaströsen Bilanz: der Verlust nahezu aller modernen Waffensysteme des Heeres, die massive Schwächung der Schwarzmeerflotte, ein beinahe geglückter Staatsstreich, die erste dauerhafte Besetzung russischen Territoriums seit dem Zweiten Weltkrieg – und nun die Zerstörung eines zentralen Elements der nuklearen Abschreckung. Hinzu kommen hunderttausende gefallene Soldaten und eine zunehmend angeschlagene Wirtschaft.
All das ist das Resultat einer einzigen Fehleinschätzung: der Annahme, die Ukraine werde sich im Februar 2022 ebenso kampflos unterwerfen wie 2014 die Krim. Heute treten die strukturellen Defizite eines politischen Systems zutage, das auf die Entscheidungsmacht eines Einzelnen zugeschnitten ist. Da innerstaatliche Korrekturmechanismen fehlen, ist zu erwarten, dass der Kreml nur eine Antwort kennt: weitere Eskalation.
Erwartbare Vergeltung
Dass der ukrainische Schlag – anders als die russischen Raketen- und Drohnenangriffe auf ukrainische Städte – wohl kein Bruch des Völkerrechts war, mindert nicht seine politische Sprengkraft. Auch der Hinweis, dass die getroffenen Flugzeuge regelmäßig für Angriffe auf die Zivilbevölkerung eingesetzt wurden, dürfte Moskaus Reaktion kaum mildern. Vieles spricht dafür, dass Russland zeitnah mit massiver Vergeltung antworten wird.
Dieser Ansicht ist auch General a. D. Harald Kujat, der eindringlich vor den Risiken der Operation „Spinnennetz“ warnt: ein militärisch spektakulärer, strategisch jedoch begrenzt wirksamer Schlag – mit potenziell verheerender Eskalationsdynamik. In dem Angriff sieht er den Versuch, Russland zu einer überzogenen Reaktion zu provozieren – mit dem Ziel, ein direktes Eingreifen westlicher Staaten zu erzwingen. Ein „höchst riskantes Spiel“, so Kujat, zumal einige der Ziele in unmittelbarer Nähe russischer Nuklearwaffenlager lagen.
Zwar erwartet er keine symmetrische russische Antwort, wohl aber eine deutliche Intensivierung der Luftangriffe auf ukrainisches Gebiet. Einen Atomkrieg hält Kujat dennoch für unwahrscheinlich – vorausgesetzt, der strategische Dialog zwischen Washington und Moskau bleibt bestehen. Entscheidend sei, dass beide Nuklearmächte Drittschläge wie diesen richtig einordnen: als gefährlich, aber nicht kriegsentscheidend.
Fest steht jedoch: Eine diplomatische Lösung des Konflikts ist abermals in weite Ferne gerückt. Mit dem Schlag gegen Russlands nukleare Trägersysteme hat Kiew die Gespräche auf einen Stand vor dem ersten diplomatischen Tauwetter zurück geworfen.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Kreml nur wenige Tage vor dem bislang verheerendsten Drohnenangriff in der Geschichte moderner Kriegsführung selbst auf Drohnenpropaganda setzte – mit inszenierten Attentaten auf Präsident Putin in der Oblast Kursk. Während Moskau versuchte, die Drohne als politisches Druckmittel zu instrumentalisieren, wurde sie ihm in der Realität zum strategischen Bumerang.
"Russland schmollt nicht. Es sammelt sich"
Angesichts der in sozialen Medien kursierenden Aufnahmen blieb dem Kreml kein Ausweg: Er musste einlenken. Wie zu erwarten, fiel das Eingeständnis des Verteidigungsministeriums auffallend knapp aus. Bestätigt wurden lediglich FPV-Drohnenangriffe auf Luftwaffenstützpunkte in den Regionen Irkutsk und Murmansk. Mehrere Flugzeuge seien in Brand geraten, Verletzte habe es nicht gegeben. Laut offiziellen Angaben wurden Verdächtige festgenommen.
Mit Blick auf die Frage, wie Russland auf diese neue Verwundbarkeit reagieren wird, bleibt der nächste Schritt ungewiss. Der Kreml schweigt – noch. Doch dieses Schweigen muss kein Zeichen von Ratlosigkeit oder Schwäche sein. Es erinnert an einen berühmten Satz des russischen Außenministers Alexander Gortschakow nach dem verlorenen Krimkrieg von 1856: „La Russie boude, dit-on. La Russie ne boude pas. La Russie se recueille.“ – Man sagt, Russland schmolle. Russland schmollt nicht. Es sammelt sich.
Der Satz steht für eine Haltung strategischer Selbstdisziplin – für das stille Kalkül vor dem Gegenschlag.
Auch diesmal könnte das scheinbare Innehalten der Auftakt zu einer Phase sein, in der Moskau seine Kräfte neu ordnet – nicht, um den Frieden zu suchen, sondern um den Krieg fortzusetzen.
Für die Menschen in der Ukraine verheißt das wenig Gutes.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.