Es ist völlig in Ordnung, dass 43 Reservisten der Aufklärungseinheit 8200 des Militärgeheimdienstes in einem Brief erklärt haben, sich nicht weiter an der Überwachung von Palästinensern beteiligen zu wollen. Jeder muss so eine Arbeit mit seinem Gewissen vereinbaren können, auch wenn die Protestler natürlich mehr Glaubwürdigkeit reklamieren könnten, wenn sie sich während ihrer aktiven Dienstzeit entsprechend geäußert hätten. Aber gut: Wer es nicht kann, soll es lassen. So wie vor einem Jahrzehnt die wenigen Piloten, die aus Sorge vor Kollateralschäden keine Einsätze zur gezielten Tötung von Terrorfürsten mehr fliegen wollten.
Im Gegenteil ist es richtig und wichtig, dass die moralischen Fragen auch öffentlich gestellt werden. Israel unterscheidet sich ja in vielerlei Hinsicht von seiner mehr als rustikalen Nachbarschaft, vor allem aber auch, weil es selbst in Zeiten, in denen ein “Right or wrong – my country!” nur allzu verständlich wäre (also etwa inmitten eines Terrorkrieges in den eigenen Städten), immer wieder das eigene Handeln hinterfragt, Fehler korrigiert, beim nächsten Mal umsichtiger und besser präpariert vorgeht. Im Zweifel lieber einen Einsatz abbricht, als zu viele Unbeteiligte zu gefährden. In einer Weltgegend, in der Radikalismus und Gewalt vorherrschen und in der ein Menschenleben nicht viel gilt, ist das die absolute Ausnahme.
Der Brief der 43 Reservisten, mag er noch so politisch motiviert sein, ist daher kein Beinbruch. Die Verfasser sind auch keine “Verräter”. Gleichwohl verrichtet die Einheit 8200 weiterhin ihren Dienst sehr effizient, eben weil es genügend Soldaten gibt, die bei der Güterabwägung (Datenschutz für Palästinenser vs. akute Bedrohung der Sicherheit der Israelis) nicht zweimal nachdenken müssen. Schön ist das alles zweifellos nicht. Im Privatleben von Palästinensern herumzuschnüffeln, etwa um persönliche Schwachstellen zwecks Informantenanwerbung zu finden, macht gewiss keinen Spaß, so wie es keinen Spaß macht, sich im Libanon mit der Hisbollah oder in Khan Younis mit der Hamas und dem Islamischen Dschihad mörderische Kämpfe zu liefern. Oder kann sich jemand ernsthaft vorstellen, dass junge Israelis gern bei 30 Grad in voller Kampfmontur in den Gassen Hebrons jugendlichen Brandsatzwerfern hinterherlaufen oder mitten in Gaza City einen Luftangriff auf eine Raketenabschussrampe fliegen, die unmittelbar neben einem zivilen Gebäude installiert ist?
Allein: Die Situation ist, wie sie ist. Weil die Nachbarschaft ist, wie sie ist. Wer seine Zelte in der Kanalisation aufschlägt, kann keine blütenweiße Weste behalten, das ist der Preis, den die Israelis für ihr Überleben in der Region zahlen müssen. Der Frust und die Zweifel, die etwa von den ehemaligen Shabak-Chefs in “The Gatekeepers” geäußert werden, sind verständlich – aber die Lage könnte sich ja nur dann ändern, wenn eine politische Lösung in Sicht oder jedenfalls grundsätzlich realisierbar wäre. Ist sie aber nicht, und das liegt nach wie vor und zuvörderst an der fortgesetzten Weigerung der Palästinenser und aller anderen arabischen Nachbarn, sich dauerhaft mit der Existenz eines jüdischen Staates abzufinden.
Denn so sieht es derzeit aus: Im Norden wartet die waffenstarrende Hisbollah auf die nächste Runde, so wie im Süden die zwar einmal mehr angeschlagene, aber dennoch zum ewigen Krieg gegen die Juden entschlossene Hamas. Im Nordosten könnten schon bald die Halsabschneider des Islamischen Staates den Platz der syrischen Feinde einnehmen, wenn sie nicht gar in Jordanien einfallen, dem östlichen und einzigen halbwegs zurechnungsfähigen unter Israels Nachbarstaaten; noch weiter östlich drehen sich munter die Zentrifugen in den iranischen Atomanlagen, während der Westen mit verschränkten Armen daneben steht. Hilfe von außen ist nicht zu erwarten, selbst Amerika ist unter Obama nur ein Verbündeter mit beschränkter Haftung.
In einer solchen Situation ist es gut, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Israelis keinen Zweifel mehr hegt, dass es um das Überleben des Landes geht und eben nicht um die “Besatzung”, die längst hätte beendet werden können, wären denn die Palästinenser zum Frieden bereit – dieser zentrale Punkt ist spätestens seit der “Al-Aqsa-Intifada” hinreichend geklärt, und Israelis, die von deutschen Zeitungen hofiert werden (wie kürzlich David Ranan in der SZ), weil sie die israelische Politik und Gesellschaft angreifen, ihr die fortwährende “Besatzung” vorwerfen, ohne den krachend gescheiterten “Friedensprozess” und den immer weiter gesteigerten Post-Oslo-Terror auch nur zu erwähnen, werden im eigenen Land nicht ernstgenommen. Der klare Blick auf die Verhältnisse ist weitgehend Konsens in Israel, das ist die Hauptsache, und daher sind nicht die Briefe schreibenden Reservisten der Einheit 8200 “die Tapferen”, als die sie von Julia Amalia Heyer geadelt werden (und die damit den restlichen 99,99 Prozent der Soldaten den Feiglingsstatus zuweist), sondern all jene ordinary Israelis, die im Bewusstsein der prekären Lage ihr Leben leben, ihre Arbeit tun, ihre Kinder erziehen und sich notfalls von der Armee einberufen lassen, um gegen die jeweils aktuelle dschihadistische Bedrohung zu Felde zu ziehen.
Schreibtischtäter wie Heyer mögen sich wie Bolle freuen, wenn sich ihre Abneigung gegen Israel mit Statements von Israelis unterfüttern lässt, für den jüdischen Staat jedoch hat so ein Vorfall nur rudimentäre Bedeutung. Ein schlechtes Gewissen müssen die Israelis in ihrer Gesamtheit gewiss nicht haben, und ein Häuflein renitenter Reservisten oder ein paar Frauen in Schwarz oder einen Gideon Levy hält das Land locker aus, so lange das Gros der Bevölkerung und die Verantwortlichen in der Politik wissen, was auf dem Spiel steht: nicht weniger als das Überleben von inzwischen sechs Millionen israelischen Juden. Nach den ernüchternden Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre ist das nur noch für wenige schwer zu begreifen, doch deutsche Medienschaffende feiern weiterhin lieber ein paar Dutzend Unbelehrbare als Helden statt endlich mal der großen Mehrheit der Israelis Gehör zu schenken. Und das nicht nur, weil sich auf einem leeren Fass viel lauter trommeln lässt.
Zuerst erschienen auf dem Blog “Spirit of Entebbe”.