Mit der Entlassung des Verteidigungsministers mitten im anhaltenden Proteststurm hat Israels Premier den Bogen überspannt. Durch diesen Gewaltakt hat Netanyahu auch die sinnvollen Ansätze seiner Justizreform ad absurdum geführt. So kann es nicht weitergehen.
Premierminister Benjamin „Bibi” Netanyahu hat gestern vermutlich den entscheidenden Fehler seiner sechsten Amtszeit begangen, indem er den israelischen Verteidigungsminister, General Yoav Galant, entlassen hat. Galant, der das Vertrauen der Militärführung und großer Teile der Bevölkerung genießt, hatte nichts weiter getan, als einen Aufschub der geplanten Justizreform zu empfehlen, um eine Zuspitzung der Lage zu verhindern.
Diese Haltung war offensichtlich inspiriert von Spannungen und Problemen innerhalb der israelischen Armee. Zunehmend hatten hochqualifizierte Reservisten – etwa Kampfpiloten und Cyberwar-Spezialisten – mit Verweigerung des alljährlichen Reservedienstes gedroht. Es handelt sich überwiegend um ältere, erfahrene Offiziere, deren Fehlen zwar zunächst durch jüngere ausgeglichen werden kann, dennoch muss diese Tendenz der Armeeführung Sorge bereiten. Generalstabschef Herzl HaLevi forderte in mehreren Reden und öffentlichen Auftritten die Neutralität der Armee und setzte Zeichen der Geschlossenheit der bewaffneten Kräfte, die angesichts Israels immer angespannter Sicherheitslage von größter Bedeutung ist.
Galant konnte also gar nicht anders, als Aufschub vorzuschlagen, bis sich die erhitzten Gemüter beruhigt und die Spannungen innerhalb der Armee gelegt hätten. In diesem Augenblick tat Netanyahu genau das Falsche und setzte auf eine Demonstration seiner Macht als Parteifunktionär und Premier. In den westlichen Demokratien ist es zunehmend Usus geworden, „Parteidisziplin“ zu erzwingen, statt verschiedene Meinungen innerhalb der gleichen politischen Partei zu dulden, wie sie sich ganz einfach aus dem Wählermandat ergeben. Abgeordnete einer Partei können, wenn sie ein Gewissen haben, unmöglich immer der Meinung des Parteivorsitzenden sein, sie vertreten unterschiedliche Wählergruppen mit unterschiedlichen Interessen. Es wirft ein ungutes Licht auf die Likud-Partei und den offenbar dort herrschenden Gehorsams-Konsens, wenn ein fähiger General wie Galant „gefeuert“ wird, weil er Netanyahu öffentlich widersprach.
Der allgemeine Unmut nimmt zu
Um Israel zu verstehen, muss man wissen, welchen Stellenwert im allgemeinen Bewusstsein hier die Armee und ihre Generalität genießt. Da die meisten Israelis in der Armee gedient haben und ihren Armeedienst mit ihrer Jugend identifizieren, der Zeit ihres Aufbruchs und noch weitgehender Unbestechlichkeit in der Urteilsfindung, kennen und billigen sie die inneren Strukturen und Auswahlkriterien innerhalb dieses Machtfaktors. Um innerhalb der Armee aufzusteigen, kommt es auf andere Eigenschaften an als bei Karrieren in politischen Parteien: etwa auf Tapferkeit, Solidarität, Mitgefühl, auf geistigen und körperlichen Einsatz, auf persönliches Verantwortungsbewusstsein, Entschlossenheit und Entscheidungsfähigkeit. Die meisten Israelis sind der Meinung, dass hohe Militärs diese Eigenschaften in ungleich größerem Maße besitzen als Berufspolitiker.
Daher war der gestrige Clash zwischen Netanyahu und der Armeeführung ein Zusammenstoß zwischen zwei Prinzipien: auf der einen Seite das uns allen aus den politischen Parteien bekannte System der Anpassung und Anbiederei, der schattenhaften Mehrheitsbeschaffung und internen Korruption, auf der anderen die vergleichsweise klaren Kriterien für Erfolg und Misserfolg innerhalb der Militärführung.
Die seit Wochen in Alarmbereitschaft befindliche Opposition reagierte schon gestern Abend mit Massendemonstrationen und Straßenblockaden. Viel folgenschwerer sind die heutigen Streik-Aufrufe der Gewerkschaften. Die unbedachte Entlassung des populären Generals hat das Misstrauen gegen Netanyahus Regierung sichtlich angefacht. Der zunächst von politischen Aktivisten ausgehende Unmut wird angesichts des gestern zu Tage getretenen Demokratiedefizits innerhalb der herrschenden Partei und im Kopf ihres Vorsitzenden zunehmend allgemein.
Welche Möglichkeiten bleiben Netanyahu?
Heute bleibt der Ben-Gurion-Flughafen geschlossen, es gibt Ausfälle im Nahverkehr, die Krankenhäuser beschränken sich auf Notdienste, die Universitäten, staatlichen Behörden und Ortsverwaltungen arbeiten nicht, seit einigen Stunden schließen auch Geschäfte und Banken. Ein Zeichen allgemeinen Misstrauens gegen einen Premierminister, der gestern gezeigt hat, dass er tatsächlich – wie ihm von seinen Gegnern nachgesagt wird – despotische Allüren hat. Ich habe mich früher an dieser Stelle gegen eine weitere, die nunmehr sechste Amtszeit dieses betagten Politikers ausgesprochen, habe ihn daher auch nicht gewählt, ihm aber die Chance eingeräumt, die er aufgrund einer klar gewonnenen Wahl verdient hatte. Er hat diese Chance gestern verspielt. Das heute im Parlament versuchte Misstrauensvotum konnte er abwehren, die Verärgerung der israelischen Bevölkerung nicht.
Welche Möglichkeiten bleiben Netanyahu? Oppositionsführer Lapid hat ihn aufgefordert, die Entlassung des Verteidigungsministers rückgängig zu machen. Darin läge jedoch ein noch größeres Schwächezeichen als in General Galants gestriger Amtsenthebung. Es würde zu Recht als Zeichen für Entscheidungsschwäche verstanden. Auch die Preisgabe seiner bisher harten Linie in der Justizreform, ein eventuelles Nachgeben, ein Kompromiss, würden als Taktieren und Opportunismus gedeutet. Selbst wenn er sich und seine Koalition noch eine Weile an der Macht hält, wird es eine weitgehend unbeliebte Regierung sein, ein Leben mit Zusammenstößen und Zwischenfällen, ein Land in zunehmender Unruhe und Turbulenz, geradezu eine Einladung für Israels zahlreiche äußere Feinde, jetzt einen Angriff zu versuchen. Eine solche Regierung – von wem auch immer gebildet – kann sich Israel nicht leisten.
Von der Regierung Netanyahu hatten sich deren Wähler eine wenigstens nach innen ruhige, da durch sichere Parlamentsmehrheit gesicherte Amtszeit erhofft. Die solide Mehrheit kann jedoch missverstanden werden, als Lizenz zu undemokratischem Vorgehen. Durch seinen gestrigen Gewaltakt hat Netanyahu auch die sinnvollen Ansätze seiner Justizreform ad absurdum geführt, da er nun tatsächlich wie ein Regierungschef wirkt, der richterlicher Beaufsichtigung bedarf. Nach der israelischen Linken scheint jetzt auch die Rechte zu kollabieren. Wie zuvor die linken büßen auch die rechten Parteien ihre Glaubwürdigkeit ein, ihre innere Demokratie und ihre Fähigkeit, Israel zu regieren. Vielleicht versuchen wir es mal mit der Mitte?