Chaim Noll / 27.03.2023 / 16:00 / Foto: Imago / 30 / Seite ausdrucken

Netanyahu: Der entscheidende Fehler

Mit der Entlassung des Verteidigungsministers mitten im anhaltenden Proteststurm hat Israels Premier den Bogen überspannt. Durch diesen Gewaltakt hat Netanyahu auch die sinnvollen Ansätze seiner Justizreform ad absurdum geführt. So kann es nicht weitergehen.

Premierminister Benjamin „Bibi” Netanyahu hat gestern vermutlich den entscheidenden Fehler seiner sechsten Amtszeit begangen, indem er den israelischen Verteidigungsminister, General Yoav Galant, entlassen hat. Galant, der das Vertrauen der Militärführung und großer Teile der Bevölkerung genießt, hatte nichts weiter getan, als einen Aufschub der geplanten Justizreform zu empfehlen, um eine Zuspitzung der Lage zu verhindern.

Diese Haltung war offensichtlich inspiriert von Spannungen und Problemen innerhalb der israelischen Armee. Zunehmend hatten hochqualifizierte Reservisten – etwa Kampfpiloten und Cyberwar-Spezialisten – mit Verweigerung des alljährlichen Reservedienstes gedroht. Es handelt sich überwiegend um ältere, erfahrene Offiziere, deren Fehlen zwar zunächst durch jüngere ausgeglichen werden kann, dennoch muss diese Tendenz der Armeeführung Sorge bereiten. Generalstabschef Herzl HaLevi forderte in mehreren Reden und öffentlichen Auftritten die Neutralität der Armee und setzte Zeichen der Geschlossenheit der bewaffneten Kräfte, die angesichts Israels immer angespannter Sicherheitslage von größter Bedeutung ist.

Galant konnte also gar nicht anders, als Aufschub vorzuschlagen, bis sich die erhitzten Gemüter beruhigt und die Spannungen innerhalb der Armee gelegt hätten. In diesem Augenblick tat Netanyahu genau das Falsche und setzte auf eine Demonstration seiner Macht als Parteifunktionär und Premier. In den westlichen Demokratien ist es zunehmend Usus geworden, „Parteidisziplin“ zu erzwingen, statt verschiedene Meinungen innerhalb der gleichen politischen Partei zu dulden, wie sie sich ganz einfach aus dem Wählermandat ergeben. Abgeordnete einer Partei können, wenn sie ein Gewissen haben, unmöglich immer der Meinung des Parteivorsitzenden sein, sie vertreten unterschiedliche Wählergruppen mit unterschiedlichen Interessen. Es wirft ein ungutes Licht auf die Likud-Partei und den offenbar dort herrschenden Gehorsams-Konsens, wenn ein fähiger General wie Galant „gefeuert“ wird, weil er Netanyahu öffentlich widersprach.

Der allgemeine Unmut nimmt zu

Um Israel zu verstehen, muss man wissen, welchen Stellenwert im allgemeinen Bewusstsein hier die Armee und ihre Generalität genießt. Da die meisten Israelis in der Armee gedient haben und ihren Armeedienst mit ihrer Jugend identifizieren, der Zeit ihres Aufbruchs und noch weitgehender Unbestechlichkeit in der Urteilsfindung, kennen und billigen sie die inneren Strukturen und Auswahlkriterien innerhalb dieses Machtfaktors. Um innerhalb der Armee aufzusteigen, kommt es auf andere Eigenschaften an als bei Karrieren in politischen Parteien: etwa auf Tapferkeit, Solidarität, Mitgefühl, auf geistigen und körperlichen Einsatz, auf persönliches Verantwortungsbewusstsein, Entschlossenheit und Entscheidungsfähigkeit. Die meisten Israelis sind der Meinung, dass hohe Militärs diese Eigenschaften in ungleich größerem Maße besitzen als Berufspolitiker.

Daher war der gestrige Clash zwischen Netanyahu und der Armeeführung ein Zusammenstoß zwischen zwei Prinzipien: auf der einen Seite das uns allen aus den politischen Parteien bekannte System der Anpassung und Anbiederei, der schattenhaften Mehrheitsbeschaffung und internen Korruption, auf der anderen die vergleichsweise klaren Kriterien für Erfolg und Misserfolg innerhalb der Militärführung.

Die seit Wochen in Alarmbereitschaft befindliche Opposition reagierte schon gestern Abend mit Massendemonstrationen und Straßenblockaden. Viel folgenschwerer sind die heutigen Streik-Aufrufe der Gewerkschaften. Die unbedachte Entlassung des populären Generals hat das Misstrauen gegen Netanyahus Regierung sichtlich angefacht. Der zunächst von politischen Aktivisten ausgehende Unmut wird angesichts des gestern zu Tage getretenen Demokratiedefizits innerhalb der herrschenden Partei und im Kopf ihres Vorsitzenden zunehmend allgemein.

Welche Möglichkeiten bleiben Netanyahu?

Heute bleibt der Ben-Gurion-Flughafen geschlossen, es gibt Ausfälle im Nahverkehr, die Krankenhäuser beschränken sich auf Notdienste, die Universitäten, staatlichen Behörden und Ortsverwaltungen arbeiten nicht, seit einigen Stunden schließen auch Geschäfte und Banken. Ein Zeichen allgemeinen Misstrauens gegen einen Premierminister, der gestern gezeigt hat, dass er tatsächlich – wie ihm von seinen Gegnern nachgesagt wird – despotische Allüren hat. Ich habe mich früher an dieser Stelle gegen eine weitere, die nunmehr sechste Amtszeit dieses betagten Politikers ausgesprochen, habe ihn daher auch nicht gewählt, ihm aber die Chance eingeräumt, die er aufgrund einer klar gewonnenen Wahl verdient hatte. Er hat diese Chance gestern verspielt. Das heute im Parlament versuchte Misstrauensvotum konnte er abwehren, die Verärgerung der israelischen Bevölkerung nicht.

Welche Möglichkeiten bleiben Netanyahu? Oppositionsführer Lapid hat ihn aufgefordert, die Entlassung des Verteidigungsministers rückgängig zu machen. Darin läge jedoch ein noch größeres Schwächezeichen als in General Galants gestriger Amtsenthebung. Es würde zu Recht als Zeichen für Entscheidungsschwäche verstanden. Auch die Preisgabe seiner bisher harten Linie in der Justizreform, ein eventuelles Nachgeben, ein Kompromiss, würden als Taktieren und Opportunismus gedeutet. Selbst wenn er sich und seine Koalition noch eine Weile an der Macht hält, wird es eine weitgehend unbeliebte Regierung sein, ein Leben mit Zusammenstößen und Zwischenfällen, ein Land in zunehmender Unruhe und Turbulenz, geradezu eine Einladung für Israels zahlreiche äußere Feinde, jetzt einen Angriff zu versuchen. Eine solche Regierung – von wem auch immer gebildet – kann sich Israel nicht leisten.

Von der Regierung Netanyahu hatten sich deren Wähler eine wenigstens nach innen ruhige, da durch sichere Parlamentsmehrheit gesicherte Amtszeit erhofft. Die solide Mehrheit kann jedoch missverstanden werden, als Lizenz zu undemokratischem Vorgehen. Durch seinen gestrigen Gewaltakt hat Netanyahu auch die sinnvollen Ansätze seiner Justizreform ad absurdum geführt, da er nun tatsächlich wie ein Regierungschef wirkt, der richterlicher Beaufsichtigung bedarf. Nach der israelischen Linken scheint jetzt auch die Rechte zu kollabieren. Wie zuvor die linken büßen auch die rechten Parteien ihre Glaubwürdigkeit ein, ihre innere Demokratie und ihre Fähigkeit, Israel zu regieren. Vielleicht versuchen wir es mal mit der Mitte?

Foto: Imago

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Leserpost

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Hans-Joachim Gille / 27.03.2023

In Deutschland ist die Justiz, vor allem die Staatsanwaltschaft, genauso politisch abhängig organisiert, wie in Polen oder Ungarn. Die einzige Unabhängigkeit von unseren (höheren) Parteibuch-Richtern (BVG) liegt in Ihrer unbegrenzten Amtszeit, so in Israel. Bibi will genau das abschaffen. Das geht natürlich nicht. Wenn man das macht, darf die Politik zumindest keinen Einfluß mehr auf die Ernennung von Richtern haben. Davon habe ich aber nichts gelesen & wie wollte man das bewerkstelligen?

Chr. Kühn / 27.03.2023

>>Abgeordnete einer Partei können, wenn sie ein Gewissen haben, unmöglich immer der Meinung des Parteivorsitzenden sein,<< Wieder so ein schöner Noll-Satz, aus dem ich nicht schlau werde. Sie haben doch ein Buch über 16 Jahre Uckermerkel geschrieben, dann müßte Ihnen eigentlich schon aufgefallen sein, wie so etwas gehandhabt wird. Hat sich BN da was von AM abgeschaut, oder ist es umgekehrt, oder haben die beiden ein gemeinsames Vorbild? Hier wie dort beschreiben Sie eine “Ideal-Soll-Situation”, die es nicht gibt, leider. Zumindest dürften die Israelis genügend graue Zellen haben, um so einen wie Netanyahu die Tü...ne halt, wie oft wurde der wiedergewählt, bzw. mit genügend hohen Anteilen, um koalieren zu können? Hm.

Atticus Finch / 27.03.2023

Das ist halt der Unterschied zwischen einer wehrhaften noch halbwegs funktionalen Demokratie und dem komplett sklerotischen System hierzulande. Verganene Woche ist eine Person zum Oberbefehlshaber der Bundeswehr ernannt worden, die sich einzig dadurch ausgezeichnet hat, die Bundeswehr verfassungswidrig im Inneren zur Durchsetzung der Corona-Zwangsmaßnahmen eingesetzt zu haben. Der Herr würde in den israelischen Streitkräften noch nicht einmal den Oberbefehl über den Latrinendienst erhalten. Und es interessiert kein Schwein, warum auch.

Bernd Büter / 27.03.2023

Jedem Land seine “Merkel a la Unverzeihlich’

Gabriele Klein / 27.03.2023

Hierzu empfehle ich unbedingt den Gatestone Artikel von Caroline Glick, vom 7. März 2023. Da lese ich dass die sogenannte MQG (Kern der extremen israelischen Linken unmittelbar nach Wahl Natanyahus aktiv wurde)  1 Tag nach Amtsantritt Netanyahus ging deren Petition beim Supreme Court ein um z.B.  das Ministeramt von A. Deri zu verhindern. .Nanu, ist es nun der Supreme Court der entscheidet wer regiert oder die Mehrheit der israelischen Bürger?!  Ich lese weiter…“The justices said Deri’s appointment was “unreasonable,” and with a stroke of a pen, the court retroactively disenfranchised Shas voters.” Das Entscheidungsmodel Thüringen lässt hier grüßen. Nun lese ich weiter “Building on its success, late last month MQG submitted a new petition asking the justices to oust Prime Minister Benjamin Netanyahu..”  (sinngemäß: Die Extreme Linke bat nun im nächsten SChritt d. hohe Gericht Bibi seines Amts zu entheben). D. h. hier entscheidet die Zeit u. wenn Bibi nicht handelt ist er noch schneller weg als D. Trump. Bleibt zu hoffen dass jene Mehrheit die Bibi gewählt hat auf die Barikaden geht und diesem seltsamen Gerichtshof der mich an Angela Merkel erinnert ein Ende bereitet.  Also einen Gerichtshof als Werkzeug extremer Linker braucht niemand. Bibi wurde gewählt und weiß eine Mehrheit hinter sich, dieses radikale Grüppchen samt seiner teils auswärtiger Drahtzieher jedoch nicht. Gerichtshöfe sind nicht dazu da verlorene Wahlen rückgängig zu machen. Ein Gerichtshof der sowas macht betreibt Machtmißbrauch und hat jegliche Daseinsberechtigung verwirkt. MQG hingegen empfehle ich die Auswanderung nach Nordkorea od.China.

M. Kulla / 27.03.2023

“Vielleicht versuchen wir es mal mit der Mitte?” Vielleicht so wie Deutschland, wo sämtliche Parteien selbstverständlich aber sowas von genau Mitte sind. Und wer sich nicht an die Regel hält, dass man nur Mitte sein darf, der wird als Paria betrachtet und weitestgehend aus dem Parlaments-Betrieb ausgeschlossen. So eine politische Landschaft der Mitte und konsequenter Eingrenzung des politischen Meinungsspektrums wünsche ich zumindest Israel nicht. Mir würde es nicht gefallen, wenn sich der einzige demokratische Außenposten im nahen Osten selbst lahmlegt. Das wäre erst reicht eine Einladung an alle Feinde Israels.

Karsten Dörre / 27.03.2023

So wie der Westen sich intern zerlegt und dem Untergang zusteuert auch Israel sich selbst zerlegt und dem Untergang zusteuert. Die Zeit für mehr als nur Geplänkel a la Ukrainekrieg ist in der aufgeheizten Welt überfällig. Das Üben von Ausnahmezustand und beinahe Kriegsrecht (z.B. rodelnde Kinder jagen, buchlesende Frauen von Sitzbank verscheuchen) wurde schon erfolgreich mit Corona durchexerziert.

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