Dushan Wegner, Gastautor / 11.04.2018 / 06:25 / Foto: Pixabay / 35 / Seite ausdrucken

Nehmt Abschied vom alten Europa

Wenn das Jahr alt geworden, alt wie ein Greis mit grauem Bart und glasigem Auge, wenn das neue Jahr bereitsteht, als kleines Baby, dumm und unerfahren, aber eben auch jung, stark und voller Möglichkeit, dann singen die Schotten – und mit ihnen Menschen rund um den Globus – das alte Lied „Auld Lang Syne“.

Die erste Strophe jenes Liedes lautet, frei und sinngemäß übersetzt:

Sollten wir die Alt-Vertrauten vergessen, uns nie an sie erinnern? Sollten wir die Alt-Vertrauten vergessen, und mit ihnen auch die guten alten Zeiten?
siehe auch bei Wikipedia

Auld Lang Syne ist zum quasi-offiziellen Abschiedslied rund um die Welt geworden. Das Lied findet Worte, wo der Abschiedsschmerz die Kehle zuschnüren will. Die Melodie, ein Tanzlied in Zeitlupe, streichelt die Seele, wo das Nicht-mehr-sein die üblichen Wunden gerissen hat.

Das Lied jammert nicht. Das Lied hält nicht an dem fest, was verschwunden ist. Das Lied wiegt sich nicht in Illusionen, das Vergangene steigt mit einer Frage ein, die ohne die Melodie, nüchtern und nicht-rhetorisch gefragt, als kalte Härte verstanden werden könnte: Sollen wir die lieben Menschen vergessen, die von uns gegangen sind? Doch die zweite Formulierung der Frage enthält schon die Antwort: Nein, denn mit ihnen würden wir auch die guten Zeiten vergessen, und das wäre wirklich ein zu großer Verlust, ein zu großer Preis, zu zahlen, nur um den Schmerz ein wenig zu dämpfen.

Zustandsverschiebung

Abschied ist – da haben die Esoteriker und Stuhlkreisaufsteller durchaus recht – Abschied ist der Übergang von einem Zustand in den anderen, eine Häutung, eine Metamorphose; doch bliebe man in der Erklärung des Abschieds bei diesen Metaphern, wäre es nur ein gewieftes Umpacken des Rätsels von einem Geschenkpapier in ein anderes.

Abschied ist der bewusste Übergang vom Teil-Sein zum Nicht-mehr-Teil-Sein – und zwar in beide Richtungen.

Ein Mensch, der aus seiner Heimat fortzieht und zugleich ein sich selbst bewusst erlebender Mensch ist, der nimmt Abschied von seiner Heimat. Er war ihr Teil, und wird fortan höchstens auf andere Weise ihr Teil sein. (Wobei der Abschied aus der Heimat in der heutigen hypermobilen Zeit natürlich weniger zwingend endgültig und damit weniger schmerzhaft ist.)

Ein Mensch, der am frisch gefüllten Grab seines Vaters oder seiner Mutter steht, auch der nimmt Abschied. Was heißt es, über den Verlust seiner Eltern zu weinen? Wenn der Vater oder die Mutter alt und lebenssatt starben, dann weint man ja nicht für die – im Gegenteil! Wer glücklich stirbt, der ist zu beneiden, denn mehr kann ein Mensch nicht erreichen. Nein, der Abschied am Grab ist ein Abschied von dem Menschen, der man selbst war. Der Trauernde, und oft weiß er es auch, weint um sich selbst. Man war Teil einer Familie, man ist nicht mehr Teil exakt dieser Familie. Der Abschied vor der Grube zwingt den Trauernden, seine eigenen Formeln neu zu schreiben, seine Variablen und Abhängigkeiten neu zu setzen.

Ein Mensch, dessen Liebe nicht mehr erwidert wird, oder, weit schlimmer, ein Mensch der seine Familie samt seiner Kinder verliert, der wird in einen Abschied hineingeworfen, den er vielleicht sogar mitverschuldet hat, aber gewiss nicht gewollt. Er muss Abschied nehmen, denn er wird nicht mehr Teil dieser Familie sein, nicht mehr so, wie es einmal gedacht war.

Abschied zu nehmen bedeutet, sich bewusst zu werden, dass man nicht mehr Teil vom zu Verabschiedenden sein wird, und dieses nicht mehr Teil von einem selbst. Wir verändern uns, wir werden verändert. Ob diese Veränderung unsere Initiative war, ob sie uns von außen aufgezwungen wurde, oder, wie so oft, beides, diese Veränderung, dieser Abschied enthält durchaus manchmal Hoffnung, immer aber enthält er Schmerz.

Emotion schlägt nicht die Mathematik

Wir müssen nicht mehr fragen, wohin unsere Elite, betrunken und übermüdet, uns steuert – wir sehen es. Wir sehen es in unseren Straßen, Städten und Schulen. Der europäische Westen hat die schärfende Brille der Aufklärung verloren und steuert, nur verschwommen sehend, auf gefährliche Serpentinen zu, und jeder Autofahrer weiß: Je später Sie die Kurve einleiten, um so schärfer werden Sie später das Lenkrad einschlagen müssen, und um so größer ist das Risiko, dass Sie, hektisch am Lenkrad zerrend, doch aus der Kurve fliegen und mit dem Heck voran in den Abgrund segeln.

Selbst wenn der Westen einen Weg findet, die Folgen seines Wahns einzudämmen, so wird der neue Westen doch ein anderer sein. Wir werden Teil eines neuen Westens sein.

Wir müssen Abschied nehmen. Der alte Westen ist vorbei. Es ist mathematisch unwahrscheinlich, dass er wiederkommt. Wie der neue Westen aussehen wird, das wissen wir noch nicht genau, wir gestalten es ja selbst derzeit, aber er wird Betonblöcke um Weihnachtsmärkte enthalten – und gelegentlich auch Polizistinnen, die ihre Waffen aus optischen Gründen ohne Magazin tragen.

Ich respektiere jeden, der „noch nicht aufgeben“ will. Ich respektiere jeden, der „für seine Art zu leben“ kämpfen will. Ich respektiere und verstehe das. Doch er muss sich fragen, wie sinnvoll es ist, einen verlorenen Kampf zu kämpfen.

Auld Lang Syne schließt, wieder in freier Übersetzung, so:

Hier ist meine Hand, mein treuer Freund, schlag ein mit deiner Hand! Und dann lass uns einen ordentlichen Schluck trinken, der alten Zeiten wegen!

Das scheint mir ein Rezept für die Zukunft zu sein. Lasst uns das Glas heben, auf die gute alte Zeit, auf den Frieden, die Kultur, auf die Fröhlichkeit und die Sicherheit. Einiges werden wir hinüberretten, anderes neu interpretieren. Einiges bleibt nur als Erinnerung. It was nice while it lasted.

Wir werden gemeinsam ein neues Europa gestalten müssen. (Und ehrlich beantworten, was genau wir mit „wir“ meinen.) Es wird Security und Communities mit Eingangskontrolle erfordern. Netflix und IKEA liefern ja bereits einiges von dem, was es braucht, sich chillig einzuigeln. Privatschulen werden selbstverständlich werden, und es werden neue Gated Communities entstehen, wie sie anderswo fast selbstverständlich sind.

Das Leben wird anders. Wenn wir daran arbeiten, wird es auch anders schön werden. Doch vom Europa, wie es war, Schwestern und Brüder, davon nehmt Abschied.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.

Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.

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Leserpost

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Lars Bäcker / 11.04.2018

„Wir müssen nicht mehr fragen, wohin unsere Elite, betrunken und übermüdet, uns steuert [...].“ Betrunken und übermüdet. Besser läßt sich Jean-Claude Juncker nicht beschreiben.

Dirk Jungnickel / 11.04.2018

Mir gefällt die Poesie dieses Textes. Auch wenn dieser vielleicht Wehmut weckt. Worauf es den Konservativen aber ankommt, ist das Bewahren des Bewahrenswerten und das Gestalten des Neuen.  Den Kräften, die dem entgegenstehen, müssen wie - wohl oder über - Paroli bieten. Und für uns persönlich gibt es wohl nichts Schönere als Hesses Stufen: Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft zu leben. ......... Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ... Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Michael Völkel / 11.04.2018

Nur, wer bereit ist, eine Sache zu verteidigen, der schätzt sie auch. Widerstand muss geleistet werden unabhängig davon, ob es “noch Sinn macht”. Es muss klar gemacht werden, dass uns unsere Werte auch tatsächlich etwas wert sind. Dies gehört übrigens zu unserem Mensch- und zu unserem Mündigsein. Nicht alles “Laufen lassen”! Nicht bequem werden!

M. Haumann / 11.04.2018

That is the land of lost content, I see it shining plain: the happy highways where I went and cannot come again. (Alfred E. Housman)

Matthias Böhnki / 11.04.2018

Herr Wegner, Wandel und Veränderung sind seit jeher Quelle des Fortschritts. Gerade für Deutsche, ganz besonders aber für die späteren Ostdeutschen haben die letzten 100 Jahre einen steten Wandel gebracht - zum Guten wie zum Bösen - je nach Verfaßtheit der Politikerkaste und des gewährenden Volkes. Insofern macht es keinen Sinn, sich auf einen Aspekt des Wandels, die Zuwanderung frühmittelalterlich geprägter Zeitgenossen, als die grundsätzlich prägende Veränderung zu betrachten. Als Ossi darf ich Ihnen versichern, daß der Zusammenbruch der DDR und die anschließende Wiedervereinigung ein durchaus einschneidendes Erlebnis war, welches erst einmal getoppt werden muß. Zusammen mit unseren Brüdern und Schwestern ( wahrscheinlich auch dem Dritten Geschlecht ) im Westen und allgemein in Europa erleben wir seit 30 Jahren den Wandel der Globalisierung, mit tiefgreifenden Veränderungen für den Einzelnen. Aktuell erleben wir im Turbotempo den Wechsel von einem eingermaßen geregelten und mehrheitlich friedlichen Zusammenleben in weiten Teilen der Welt hin zu womöglich nicht mehr steuerbaren Gegeneinander in Wirtschaft und Politik, befeuert auch durch den neuen amerikanischen Präsidenten. Zuwanderung von Barbaren? Nicht schön, aber leider nur Eines von Vielen.

Klaus Reichert / 11.04.2018

Und es macht mich unendlich traurig. Wahrscheinlich leb(t)en wir in einer kurzen, glücklichen Phase, die langsam zu Ende geht. Wohlstand und Sicherheit nach Unrecht, Tod, Hunger und Zerstörung. Offensichtlich neigen wohlhabende und friedliche Gesellschaften, die kein äußerer Feind zusammenhält und die keine positive Vision entwickeln können, zur Selbstzerstörung. Und, Einwanderung ist gut! Sie sind oft diejenigen, die am glühendsten die Werte der Aufnahmegesellschaft vertreten, weil sie dorthin gekommen sind, um diese Werte zu genießen. Deshalb verteidigen sie sie und erneuern sie auf diese Weise. Einwanderer mit positiver Einstellung zu Deutschland gibt es viele. Ich denke an die Russlanddeutschen, die sich über Generationen ihr etwas altmodisches Deutschlandbild erhalten haben und die sich das Land, welches sie vorgefunden haben, noch ein wenig erhalten wollen. An viele Südeuropäer, die an Deutschland das schätzen, was ihre Heimatländer nicht so bieten, ohne die Sehnsucht nach dem Süden je aufzugeben. Aus dem beruflichen Umfeld kenne ich auch junge Menschen aus Polen und der Slowakei, für die sich in Deutschland großartige Entwicklungsmöglichkeiten bieten - auch materiell, aber nicht nur. Und Menschen aus China, die sich nicht nur beruflich verwirklichen, sondern deren Kinder hier eine saubere Umwelt und viel Platz zum Leben vorfinden - und in der Schule Bestleistungen erbringen. Ich glaube auch und habe die Erfahrung gemacht, dass Einwanderer aus muslimischen Ländern sich oft sehr wohl als stolze Bürger dieses Landes fühlen, wenn sie sich hier erfolgreich ein Leben aufgebaut haben. Scheitern tut Einwanderung hingegen, wenn man die falschen Leute hereinlässt und wenn es dann auch noch zu viele sind. Das nicht zu begreifen, ist nicht zu begreifen.

Laura Adams / 11.04.2018

Jeder, der über einen einigermaßen gesunden Menschenverstand verfügt, konnte das schon im September 2015 vorhersagen. Leider !

Mike Loewe / 11.04.2018

Dass die Veränderung nicht mehr aufzuhalten ist, ist klar. Aber dass es “auch anders schön werden” kann, daran zweifle ich. Vor allem, weil das “Neue” kein statischer Zustand sein wird, sondern eine schnelle Veränderung zum Dauerzustand werden wird. Islamisierung ist kein Zustand, sondern ein Prozess, und zwar ein sich ständig beschleunigender. Im Prinzip zieht jeder Muslim, der hier ist, weitere nach, sei es durch Familiennachzug, hohe Geburtenrate oder dadurch, dass immer mehr Muslime zu politischen Entscheidungsträgern werden. Die “Flüchtlingskrise” war nur ein Tropfen auf den heißen Stein, der von der seit Jahrzehnten bestehenden Islamisierung ablenkt. Wenn die Verdoppelung des Muslimanteils etwa alle zwanzig Jahre, wie sie seit fünfzig Jahren beobachtbar ist, sich fortsetzt, und davon ist auszugehen, wird die Kurve nach oben hin immer steiler. Solange es keine Anzeichen für eine Umkehr gibt, kann es nur die Lösung geben, bereits heute eine mittelfristige Auswanderung in ein sichereres Land zu planen, und da gibt es erstaunlich viele, wie man merkt, wenn man sich objektiv informiert.

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