Nationalfeiertag ohne Nation?

Wir Deutschen tun uns schwer mit nationalen Gedenk- und Feiertagen. Selbst dann, wenn sie positiv konnotiert sind, zumindest aber Anlass zur Dankbarkeit geben. Der 3. Oktober gehört zweifellos dazu, auch wenn von ihm als Datum des amtlichen Vollzugs der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands nicht die ganz großen Gefühle ausgehen mögen, wie bei der Erinnerung an den 9./10. November 1989.

Unabhängig davon, welchen Tag man als Nationalfeiertag der Deutschen bevorzugt hätte (beispielsweise auch den 17. Juni), kann man in Anlehnung an ein Zitat von Roman Herzog (Originalzitat folgt später) sagen: Ein Nationalfeiertag ohne den eigenen Willen zur Nation ist ein Unding.

Neben Herzog hatte noch eine weitere integre Persönlichkeit über den Willen zur Nation einmal deutliche Worte gefunden. Genauer gesagt, ein Mann, der ganz praktisch daran beteiligt war, ziemlich reibungslos und sehr erfolgreich eine Vereinigung auf einem besonders sensiblen wie heiklen Gebiet zu bewerkstelligen: nämlich Soldaten der aufgelösten NVA in die Bundeswehr zu integrieren. Geschlossenheit und Gemeinsamkeit, so betonte er, könne nur mit einer eindeutigen Absage an die Grundsätze der „DDR“ und ihrer Armee erreicht werden. Unvergessen bleibt mir seine Botschaft an die neuen Bundeswehrsoldaten in Strausberg am 4. Oktober 1990, welche die damalige „innere Führung“ der Bundeswehr im besten Sinne dokumentierte („Die unantastbare Würde des Menschen ist wichtiger als jede Dienstvorschrift“) und in dem Satz gipfelte: „Wir […] kommen nicht als Sieger oder Eroberer. Wir kommen als Deutsche zu Deutschen.“ [1]

Bevor ich seinen Namen nenne, den einige von Ihnen sicher erraten haben, sei vorher noch an weitere Zitate von ihm erinnert, die mir ausgesprochen geeignet erscheinen, zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit aus der Versenkung geholt zu werden. In geradezu weiser Voraussicht bemerkte er anlässlich eines anderen 3. Oktober:

Im Kern geht es um zweierlei: um uns selbst als Volk sowie um die zukünftigen Aufgaben und Herausforderungen, die wir nur als eine geeinte und selbstbewusste Nation bestehen können. Zunächst zu uns selbst: Wir haben es seit der Wiedervereinigung noch nicht geschafft, eine selbstverständlich gemäßigte, das heißt im besten Sinne normale nationale Identität auszubilden. Dies genau aber wäre notwendig, um die ideellen und seelischen Kräfte zu sammeln, damit wir uns in den stürmischen Zeiten, die uns vermutlich ins Haus stehen, erfolgreich bewähren.“

„Wir müssen uns selbst anerkennen“

Wer müsste bei diesen Zeilen nicht sofort an die heutige Situation denken? Die stürmischen Zeiten haben uns längst im Griff, während es um die Kräfte, die wir bräuchten, um diese Stürme gut zu überstehen, nicht sonderlich gut bestellt ist, auch und gerade deshalb nicht, weil unsere nationale Identität weitgehend auf dem Altar einer schwammigen „Weltoffenheit“ geopfert wurde. Denn nur die Zugehörigkeit zu einer Nation kann ein entsprechendes Verantwortungsgefühl für diese, damit für den Staat und seine Bürger, implizieren.

Der Beitrag enthielt aber noch mehr Bemerkenswertes: War der Weg zur Deutschen Einheit nicht mit unseren deutschen Nationalfarben gesäumt, den Farben der Revolution von 1848, aber auch den Farben der 1949 gegründeten Bundesrepublik, bündelten sich nicht viele Hoffnungen der fahnenschwenkenden Menschenmengen in dem Ruf: 'Wir sind ein Volk'? Dies hat nichts mit Deutschtümelei oder Nationalismus zu tun, sondern damit, daß wir uns selbst anerkennen und achten müssen, wenn wir uns als ein Volk in Europa auch weiterhin erfolgreich einbringen und die innere Einheit vollenden wollen.“

Da aber waren und sind jene davor, denen nichts so fremd war und ist wie ein Bekenntnis zur eigenen, zur verhassten deutschen Nation: „Die Linke hatte die Nation spätestens seit den sechziger Jahren – mit wenigen Ausnahmen – als politische Kategorie abgeschrieben. Die Verleugnung ging zum Teil so weit, daß man versuchte, die Legitimität nationalen Denkens generell abzulehnen – zumindest mit dem Hinweis auf die Zeit zwischen 1933 und 1945. Diese Argumentation lief im Ergebnis darauf hinaus zu behaupten, die Deutschen hätten durch die NS-Verbrechen das Recht auf einen Nationalstaat – und eben damit auf die Wiedervereinigung – verwirkt.“

Seltsam, wie wenigen bis heute in den Sinn kommt, wie anmaßend gerade diese Haltung war, die einem seiner demokratischen Rechte beraubtem Teilvolk eben diese Rechte kaltschnäuzig absprach und es „deutsche Schuld“ alleine abtragen ließ, während man selber im sicheren Port der Freiheit saß und keine Gedanken daran verschwendete, wieviel Leid die Teilung über Millionen Menschen gebracht hatte.

Nein, lieber wurde bitterlich das Leid von Menschen am anderen Ende der Welt beklagt. Man sagte einem Botha oder Pinochet tapfer ins Gesicht, was man von ihm hielt, auf keinen Fall aber einem führenden SED-Genossen oder gar der Sowjetunion, die unmittelbare Verantwortung für die Verbrechen in dem von ihr besetzten und unterdrückten Teil Deutschlands trug. Blindheit gegenüber dem Leid der eigenen Landsleute und Messen mit zweierlei Maß war für viele das Maß aller Dinge und ist es bis heute geblieben.

Berechenbare Interessen gehören zur Glaubwürdigkeit

Dazu passt die Feststellung, dass deutsche Vertriebene bis dato nicht einen Bruchteil der Anteilnahme erfahren haben wie Menschen anderer Länder, denen ein ähnliches Schicksal widerfuhr. Dass an die von der Vertreibung betroffenen Deutschen an einem 3. Oktober überhaupt jemals erinnert, ja sogar ein Dank an sie ausgesprochen wurde, bleibt deshalb wohl eine absolute Ausnahme: „Die deutschen Ostgebiete waren über Jahrhunderte Teil des deutschen Kulturraumes und zum Teil des preußischen Staates. Mit der deutschen Einheit haben wir auf diese Gebiete endgültig verzichtet. Wir alle, die wir unsere Heimat im Ostteil Deutschlands wiedergefunden haben, können verstehen, was es heißt, für immer die eigene Heimat als deutsches Land aufzugeben. Wir sind den Vertriebenen zu Dank verpflichtet.

Obwohl auch der Redner und Essayist die Zukunft Deutschlands eingebettet sah in einer demokratischen supranationalen Gemeinschaft von Völkern, die über dieselben Grundwerte verfügen, fand er deutliche Worte zum verbreiteten Ansinnen einer nationalen Selbstaufgabe: „Der Verzicht auf nationale Identität und Gemeinsamkeit, die nationale Selbstaufgabe als eine affekthafte und antithetische Reaktion gegenüber der machtbesessenen Politik des Dritten Reiches konnte weder vor der Wende noch nach der Einheit ein Zukunftsprogramm für Deutschland sein. Diese Position war radikal, überzogen und Ausdruck einer nationalen Selbstherabsetzung, Ausdruck eines nach außen gewendeten Untertanengeistes.“ Er stellte eine klare Forderung an die Politik: „Zu unserer Glaubwürdigkeit gehört, daß wir wie die anderen Nationen unsere Interessen definieren und ebenso berechenbar wie nachvollziehbar in die Politik einführen.

Den Urheber dieser Worte zu schelten, sollten gerade die Unionsparteien sich sehr gut überlegen. Der Text stammt aus dem Munde und aus der Feder [3] eines Mannes, den die CDU im letzten Jahr noch geehrt hat: Jörg Schönbohm. Seine Aussagen, einst treffend betitelt als „Wir müssen uns selbst achten, wenn wir bestehen wollen“, sind aktueller denn je. Doch sie verhallen – zwar nicht nur, aber besonders auffallend – in seiner eigenen Partei ungehört. Auch und gerade am 3. Oktober, dem deutschen Nationalfeiertag seit 1990.

Das ist in höchstem Maße bedauerlich. Denn nach dem 17. Juni 1953, der Friedlichen Revolution 1989 und der Wiedervereinigung 1990 hatten die Deutschen alle, wirklich alle Chancen, endlich Frieden mit sich selbst zu schließen, ein gesundes Selbstvertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln sowie eine gesunde Portion Selbstliebe zuzulassen und mit leisem Stolz auf das Erreichte zurückzublicken. Es ist bei allen vermeidbaren wie – der damaligen außergewöhnlichen Situation geschuldeten – unvermeidlichen Fehlern mitnichten wenig, was die Deutschen in Ost und West in gemeinsamer Aufbauarbeit seit 1990 geschaffen haben und was auch vom Ausland entsprechend gewürdigt anerkannt worden ist.

Die einmalige Chance einer geistigen Konsolidierung, die sich mit der Wiedervereinigung bot, jedoch wurde vertan. Beklagenswerterweise auch von allen unionsgeführten Bundesregierungen seit 1990, die insgesamt wenig Elan zeigten, nach der staatlichen die innere Einheit Deutschlands zu vollenden, obwohl ihnen diese Aufgabe eigentlich wie auf den Leib geschneidert hätte erscheinen müssen. Doch anstatt dies zur Chefsache zu machen, überließen ihre Führungen, sowohl in den Regierungen als auch in den Schwesterparteien, dies einzelnen engagierten Parteimitgliedern, deren Namen auf Anhieb kaum jemand zu nennen vermag.

Tag der Vielfalt statt Tag der Einheit?

Dazu passte der Unwille, sich mit dem Erbe der SED-Diktatur, auch in den eigenen Reihen, ernsthaft auseinanderzusetzen. Schließlich fand, erst in der CDU, in den letzten Jahren ebenso in der CSU, eine merkliche Akzentverschiebung statt, die sich darin äußert, dass die Union sich immer stärker dem linksgrünen Mainstream gebeugt hat, der von jeher weder mit der Nation, noch mit der Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur etwas am Hut hat – von einzelnen Ausnahmen abgesehen. Die Politik vornehmlich an deutschen Interessen auszurichten, wozu selbst das sonst so hochgelobte Grundgesetz und der Amtseid unsere Politiker auffordert, gilt nicht mehr als opportun.

Völlig neu ist dies freilich nicht, wie die Erinnerung an einen anderen Tag der deutschen Einheit, den 17. Juni, beweist. Spätestens in den ausgehenden 1960er Jahren wurde er vom Tag der Freiheit zunehmend zum Tag der Freizeit verunstaltet, an dem, wie manche höhnten, die Westdeutschen doch bloß „baden gingen“, anstatt ihrer Landsleute drüben zu gedenken, um mit eben dieser Argumentation diesen Gedenktag ganz abschaffen zu können. Dieser Tag war Linken stets ein Dorn im Auge, weil er dem von ihnen mit Inbrunst gepflegten negativen Selbstbild der Deutschen so eklatant widersprach. Ohne diesen zynischen Selbsthass wäre der 17. Juni niemals zu einem gestohlenen Ehrentag der Deutschen geworden.

Heute ereilt den 3. Oktober ein ähnliches Schicksal, wird er doch vom Tag der wiedererlangten staatlichen Einheit Deutschlands in Freiheit mittlerweile ganz unverhohlen zum Tag der multikulturellen Vielfalt umgedeutet. Dass diese beiden Tage aber ein sehr deutsches Datum markieren, zwei Tage in der deutschen Geschichte, die einander bedingen und das Schicksal von Millionen Landsleuten tiefgreifend bestimmten, vermag der politisch-mediale Mainstream offenbar nicht auszuhalten.

Deshalb an dieser Stelle eine Erinnerung. Am 17. Juni vor 32 Jahren mahnte der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts und spätere Bundespräsident Roman Herzog im Deutschen Bundestag wörtlich [2]: „Eine Nation ohne den eigenen Willen zum Staat ist ein Unding“. Er erinnerte die freien Deutschen 1988 an ihre Landsleute drüben, im unfreien Teil Deutschlands: „Wenn sie so könnten, wie sie wollten, wären sie lieber bei uns.“ Ungezählte, so Herzog damals, würden in die Bundesrepublik streben um der Freiheit willen und „weil sie sich genauso als Deutsche fühlen wie wir“.

Damit widersprach Herzog ganz entschieden der Auffassung jener, die heute erneut infrage stellen, das Bewusstsein, als ganzes Volk trotz Teilung zusammenzugehören, eine Schicksalsgemeinschaft, nämlich „Deutsche zu sein“, habe 1989/90 eine Rolle gespielt. Herzog wies in der Feierstunde des Parlaments zudem explizit auf die moralische Verpflichtung der Westdeutschen hin, die Deutschen hinter Mauer und Stacheldraht „nicht mit ihrem Schicksal allein“ zu lassen, nur weil sie im Frühjahr 1945 Pech gehabt hätten.

Erschreckender Verdacht

Ich glaube nicht, dass ich Herzogs Intention widerspreche, wenn ich seine damaligen Worte, auf die heutige Zeit übertragen, so deute: Wir sind es unseren Landsleuten schuldig, die Erinnerung an diese Ereignisse wachzuhalten; die Erinnerung an das mit der Teilung Deutschlands verbundene Leid ebenso, wie die an das für die meisten unverhoffte Glück, welches uns mit dem Ende der Teilung Deutschlands beschieden war.

Tatsächlich aber ist das Gedenken längst zu einem reinen „Formelritual“ verkommen, vor dem Herzog schon am 17. Juni vor 32 Jahren warnte. Dabei wurde am 3. Oktober 1990 vollendet, was am 17. Juni 1953 begann. Und obwohl ein nicht unerheblicher Teil der durch die jahrzehntelange Teilung unseres Landes am stärksten Gepeinigten heute noch lebt, verblasst die Erinnerung an sie. Wie sie sich fühlen, wenn ihr Leid nicht nur übergangen wird, sondern wenn sie auch noch verhöhnt werden, kann man nur ahnen.

Sie alle, die sich gegen eine menschenverachtende Diktatur erhoben oder sich ihr zu entziehen versuchten, hätten umsonst gelitten und wären umsonst gestorben, wenn an sie und an den Aufstand gegen das SED-Regime im Juni 1953 wie im Herbst 1989 kaum noch erinnert wird – nicht etwa, weil der Zeitabstand zum Geschehen größer wird, sondern weil der politische Wille fehlt, sich gegen dieses Vergessen zu stemmen.

Einen geradezu erschreckenden Verdacht äußerte vor einigen Monaten der Vize-Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und ehemalige Bürgerrechtler Arnold Vaatz. Er sagte in einem Interview, die Revolution von 1989 solle „kleingehackt“ werden – auch von einem Teil seiner eigenen Partei„freunde“. Er führt wörtlich aus: „Es gibt auch in meiner Partei offenbar das Ziel einer vollständigen Rehabilitation der DDR.“

Machen wir uns nichts vor, was eine „vollständige (!) Rehabilitation“ des SED-Staates im Klartext bedeuten würde: die „DDR“ und das von ihr begangene Unrecht wäre rechtens gewesen. Dies käme einer Täter-Opfer-Umkehr gleich. Demnach wären nicht die Millionen verzweifelten bis todesmutigen Flüchtlinge, nicht die an Mauer und Stacheldraht Erschossenen, nicht die beim Fluchtversuch über die Ostsee Ertrunkenen, nicht die in den Stasi-Gefängnissen gequälten politischen Gefangenen, nicht die drangsalierten Ausreisewilligen, nicht die Bürgerrechtler Opfer gewesen, sondern Täter, die als „Staatsfeinde“ Verbrechen begingen und deshalb zu recht bestraft wurden – eine Sichtweise, die exakt der SED-Leseart entspräche. Ein solcher Paradigmenwechsel wäre eine unheilvolle Zäsur, entspräche einem endgültigen Triumph des Unrechts über das Recht. Ein verheerenderes Signal ist im dreißigsten Jahr der Deutschen Einheit schlicht nicht vorstellbar.

Blindheit und Kälte

Die Aufmerksamkeit in Politik und Medien sollte am heutige Tage aber ebenso jenen in Vergessenheit geratenen Menschen gelten, die sich im westlichen Teil Deutschlands auf vielfältige und keineswegs gefahrlose Weise für ihre bedrängten Landsleute im Osten eingesetzt hatten, deren Engagement aber kaum je eine Würdigung erfährt – schon gar nicht am 3. Oktober.

Da gab es zum Beispiel einen Verlag, und insbesondere eine Zeitung, die über Jahrzehnte gegen das Vergessen des Unrechts anschrieb, ein Unrecht, welches Millionen Landsleuten östlich der Elbe widerfuhr. Nicht wenige ihrer Redakteure trugen mit den ihnen zur Verfügung stehenden publizistischen Mitteln dazu bei, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen gegen teils erbitterte Widerstände wachzuhalten. Ein Umstand, den Redaktion und Verlag selbst kaum zu würdigen wissen. Dass es oftmals streitbare Journalisten waren, deren Namen heute kaum noch jemand kennt, lag in der Natur der Sache; es schmälert ihre Verdienste nicht.

Die Sendung und der gleichnamige Verein „Hilferufe von drüben“ wiederum hatten über viele Jahre ganz konkret Menschen in Not geholfen, die vom SED-Regime verfolgt, schikaniert und inhaftiert wurden. Ihr Einsatz ist genauso in Vergessenheit geraten wie das jener Fluchthelfer, die unter hohem persönlichen Risiko nicht wenigen Menschen im geteilten Deutschland zur Freiheit verholfen hatten. Natürlich gab es auch dort schwarze Schafe. Die Mehrheit allerdings handelte eher aus eigenen bitteren Erfahrungen mit der SED-Diktatur oder aus einem Idealismus heraus, wie nicht zuletzt die überhaupt nicht trocken geschriebene Dissertation von Marion Detjen „Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961–1989“ oder das Buch von Dietmar Arnold und Sven Felix Kellerhoff „Die Fluchtunnel von Berlin“ eindrucksvoll beweisen.

Anders aber als heutige „Seenotretter“ wurden sie nie zu Helden (v)erklärt, sondern mussten nicht selten heftige Kritik, auch von den politischen Führungen im Westen Deutschlands und Berlins, einstecken. Dabei trug gerade das große Heer der Flucht- und Ausreisewilligen maßgeblich dazu bei, das SED-Regime zu destabilisieren und 1989 endgültig ins Wanken zu bringen und damit der Freiheit östlich der Elbe zum Durchbruch zu verhelfen. Trotz des hohen Drucks und der Schikanen, den die SED auf Ausreisewillige ausübte, stieg ihre Anzahl nicht zuletzt in den ausgehenden 1980er Jahren drastisch an. Die Massenflucht Deutscher von Ost nach West im Sommer und Herbst 1989 (siehe hier und hier) traf das SED-Regime auf höchst empfindliche Weise. Zusammen mit den immer häufiger auf verschiedene Art sich formierenden Protesten gegen die SED-Führung sah sich diese 1989 einem seit dem 17. Juni 1953 nicht mehr gekannten Ausmaß des Unmutes und der offenen Ablehnung gegenüber (siehe hier und hier).

All diese Geschichten, die deutsche Schicksale erzählen, sind vom 3. Oktober nicht zu trennen. Sie am Tag der Deutschen Einheit in Erinnerung zu rufen, sollte selbstverständlich sein für ein Land, das so viel auf seine Erinnerungskultur gibt. Ohne diese Menschen und Ereignisse hätte es keinen glücklichen 3. Oktober 1990 gegeben. Diesen Teil der deutschen Geschichte weitgehend dem Vergessen zu überantworten, ist ein Schlag ins Gesicht all jener, die am meisten unter der Teilung Deutschlands gelitten haben. Um so mehr sollte ihnen heute unsere ganz besondere Aufmerksamkeit gelten, gerade weil ein Bewusstsein für das vielfältige Unrecht, das im Namen des real existierenden Sozialismus verübt wurde, kaum vorhanden ist.

Apropos: Auch über die heute in Politik und Gesellschaft Verantwortlichen wird man eines Tages richten. Es könnte durchaus sein, dass spätere Historiker dem angeblich „besten Deutschland aller Zeiten“ einmal ein vernichtendes Zeugnis ausstellen werden wegen seiner Blindheit und emotionalen Kälte gegenüber dem Schicksal eines nicht kleinen Teils seiner Bürger, die ostwärts der Elbe ihre Heimat hatten – über viele Jahrhunderte auch weit über die Oder hinaus. Als Rücksichtnahme gegenüber den Gefühlen der Ostmittel- und Osteuropäer lässt sich dieses Versagen auf Dauer weder kaschieren noch begründen.

 

Quellennachweis für Interessierte:

[1] „Wir kommen als Deutsche zu Deutschen“, Bericht über die Ansprache des Befehlshabers des neuen Bundeswehrkommandos Ost, Jörg Schönbohm, zur Integration ehemaliger NVA-Soldaten in die Bundeswehr in Strausberg. Aus: DIE WELT v. 05.10.1990.

[2] „Eine Nation ohne den eigenen Willen zum Staat ist ein Unding – Verfassungsgerichts-Präsident Herzog warnt am 17. Juni vor Formelritualen“, Bericht zur Ansprache von Roman Herzog vor dem Deutschen Bundestag am 17. Juni 1988. Aus: DIE WELT v. 18.06.1988.

[3] „Berlins Innensenator Schönbohm hielt zum Tag der Deutschen Einheit eine bemerkenswerte Rede. Auf ihr beruht folgender Beitrag – Wir müssen uns selbst achten, wenn wir bestehen wollen“, Auszüge aus dem Essay von Jörg Schönbohm in der WELT am SONNTAG v. 03.11.1996.

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Claudius Pappe / 03.10.2020

Was nicht passt, wurde passend gemacht…................................. Schlecht und schnell gedacht, sehr schlecht gemacht…...............................................................Irgendwie denke ich an die Firma Bayer. Bayer kauft Monsanto. Aktie vor Kauf: 120 Euro. Aktie nach Kauf : 40 Euro.

Claudius Pappe / 03.10.2020

Es könnte durchaus sein, dass spätere Historiker dem angeblich „besten Deutschland aller Zeiten“ einmal ein vernichtendes Zeugnis ausstellen werden wegen seiner Blindheit und emotionalen Kälte gegenüber dem Schicksal eines nicht kleinen Teils seiner Bürger, die ostwärts der Elbe ihre Heimat hatten – über viele Jahrhunderte auch weit über die Oder hinaus. Als Rücksichtnahme gegenüber den Gefühlen der Ostmittel- und Osteuropäer lässt sich dieses Versagen auf Dauer weder kaschieren noch begründen.

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