Während die SPD verzweifelt Wahlkampf führt, schreibt Andrea Nahles ein Buch. Es wird 288 Seiten dick. Der Titel: „Frau, gläubig, links“. Es soll im Droemer-Knaur-Verlag erscheinen. Alle anderen Politiker, die in diesem Jahr Bücher geschrieben haben, bringen es unbedingt vor der Wahl am 27. September heraus. Nicht so Andrea Nahles. Die SPD-Spitzenpolitikerin hat für den 16. Oktober zu einer Pressekonferenz geladen, um ihr Buch zu präsentieren. Drei Wochen nach der Wahl. Andrea Nahles hat offensichtlich eine eigene Agenda.
Im Willy-Brandt-Haus pfeifen es die Spatzen vom Dach: Andrea Nahles will Vorsitzende werden, entweder der SPD oder der SPD-Bundestagsfraktion – nach einer verlorenen Bundestagswahl. In dem Buch sehen die Genossen so etwas wie ihr politisches Manifest. Der Untertitel „Was mir wichtig ist“ signalisiert den programmatischen Anspruch. Die SPD müsse sich nach einer verlorenen Bundestagswahl erneuern; jünger, weiblicher, linker müsse sie werden, heißt es aus der SPD-Fraktion. Andrea Nahles sei die ideale Verkörperung des Neuanfangs. Vor allem gilt sie als die totale Gegenfigur zu Franz Müntefering, dessen politisches Ende besiegelt scheint. Seit Jahren sind die beiden erbitterte, innerparteiliche Gegner. Er trat einmal ihretwegen zurück, kam zurück, schlug zurück. Nun könnte sie ihn beerben: Ein politischer Triumph der besonderen Sorte zeichnet sich ab.
„Müntefering und die Schröderianer haben ihren letzten Auftritt“, raunt es aus dem Umfeld der Parteilinken. Dort halten sie selbst den bestmöglichen Ausgang der Wahl – man rettet sich noch einmal in eine Große Koalition – nicht mehr für wünschenswert. Das jahrelange Leiden an der Schröder-Agenda-Politik hat dort so viel Frustration angestaut, dass man sich nach einem Generationenwechsel sehnt. „Nur mit neuem Führungspersonal und einem Richtungswechsel können wir die Linkspartei wieder zurückdrängen“, sagen sie und melden durchschlagende Erfolge bei der Aufstellung der Mandatslisten für die Wahl. Überall sind Schröderianer auf hintere Listenplätze abgedrängt worden. Steinmeier konnte das nicht mehr verhindern. Sein Einfluss in der Partei ist inzwischen so groß wie der einer Schmusekatze im Raubtiergehege.
Andrea Nahles und ihre Gefolgsleute haben den Beck-muss-weg-Putsch der Schröderianer nicht vergessen und warten auf den Tag der Abrechnung. Die alte Garde – Müntefering, Steinmeier oder Struck – wird sie nach dem 27. September nicht mehr bremsen können. Ein anderer vielleicht schon. Denn Nahles hat einen neuen Konkurrenten, und der heißt Klaus Wowereit. Auch er gilt im sozialdemokratischen Erbfolgekrieg als ein Hoffnungsträger des linken Parteiflügels.
Beide müssen jetzt nach einer breiteren Akzeptanz in Fraktion und Partei suchen und üben daher seit Wochen warmherzige und staatsmännische Posen. Klaus Wowereit ist vor allem darauf bedacht, seinen Malus als launiger Partylöwe loszuwerden und sucht jede Profilierungschance in Sachen Seriosität. Andrea Nahles wiederum muss das Image der parteilichen Spalterin überwinden und simuliert daher die Versteherin als habe sie ein Call-Center-Seminar „Was kann ich für sie tun?“ besucht. Vor allem demonstriert sie eine lächelnde Loyalität gegenüber Steinmeier und Müntefering, die die Grenzen der Selbstverleugnung immer wieder streift.
Immer wahrscheinlicher wird, dass Wowereit und Nahles sich die künftige Macht in der SPD teilen: der eine wird Parteivorsitzender, die andere Fraktionschefin. Sie wäre in beiden Ämtern die erste Frau in der traditionsreichen Geschichte der Partei.