Die BILD fragt „Warum spaltet uns Corona?“ und der Berliner Psychologe Dr. Wolfgang Krüger antwortet. Der Mann muss auch Berlin-Psychologe sein, denn seine Diagnose klingt wie auf märkischem Sand gebaut und muss der allgegenwärtigen „großen Politik” entsprungen sein, mit der man in Berlin überall in Berührung kommt. BILD assistiert bei der Einordnung der Patienten auf der Couch und beschwert sich laut über die Plage, von der das Land gerade überschwemmt werde. BILD: „Beim Grillabend, im Büro, auf Facebook – überall tauchten sie auf, die Verfechter von wilden Theorien. Und es tat sich ein breiter Corona-Graben zwischen Menschen auf, die sich eigentlich gut verstehen, Freunde sind. Wie konnte es so weit kommen?“
„Verfechter wilder Theorien“ dient hier als Sammelbegriff für viele Menschen, die nicht theoretisch, sondern ganz praktisch offenbar andere Erfahrungen in der Pandemie gemacht haben oder anders von ihr betroffen sind als die BILD und ihr Psychiater. Doch der kennt die Gründe dafür:
„Corona stellt uns auf eine unendlich harte Probe, weil wir kein Licht am Ende des Tunnels sehen. Viele können das nicht aushalten und fangen deshalb an, die Gefahr zu leugnen bzw. für beendet zu erklären.“
Die Tatsache, dass zahlreiche Menschen angesichts der verfügbaren Piloten offenbar so ihre Probleme mit Blindflügen haben, kommt nicht mal ins Kalkül. Die zumindest verständliche, vielleicht sogar berechtigte Furcht vieler wird kurzerhand zur Leugnung der Gefahr umdefiniert. Doch nach meiner Meinung unterscheiden sich „Corona-Leugner“ lediglich durch die Gewichtung unterschiedlicher Gefahren von allen anderen – wenn wir mal großzügig jene ausblenden, die unter Morbus Hildmann leiden oder in Bill Gates den ersten der vier Reiter der Apokalypse sehen wollen.
Es geht jedoch immer um die ganz individuelle Frage, wie hoch man die verschiedenen Lebensrisiken einschätzt. Die Gefahr, sich mit Corona zu infizieren, ist nur eine der Gefahren – und für viele nicht einmal die größte. Doch niemand fragt nach diesen anderen Risiken, weil Deutschland mal wieder einen „gemeinsamen Feind“ hat, und wer sich da nicht kritiklos und mit klingendem Spiel in die Front einreiht, der wird infantilisiert, für verrückt oder gleich zum Volksfeind und potenziellen Mörder erklärt.
BILD: Doch warum entwickeln sich so viele zu Maßnahmen-Zweiflern und Corona-Leugnern bis hin zu rücksichtslosen Ich-gehe-ohne-Maske-demonstrieren-Menschen?
„Solche Menschen sind oft sehr kindlich, […] Sie verkennen Gefahren und überschätzen sich selbst. Wie ein Fünfjähriger, der unbedingt vom Klettergerüst springen muss und nicht realisiert, dass es zu hoch ist und er sich die Knochen brechen könnte, gehen sie davon aus: Ich stecke mich nicht an, ich werde von Corona verschont bleiben.
Der zweite, wesentliche Punkt ist Eigensinn: Immer wenn es von außen neue Vorschriften gibt, sagen solche Leute sofort: Das mache ich nicht, ich lasse mich nicht einschränken. Dabei geht es gar nicht um die Sache an sich oder Vernunft, sie reagieren instinktiv wie 13-jährige Kinder in der Pubertät. Das ist eine Form von Bockigkeit.“
Der Nonkonformist von einst ist der Fünfjährige von heute und der glaubt angeblich, Corona könne ihm nichts anhaben. Das Argument ist bequem, denn es macht Hierarchien deutlich und kommt ganz nebenbei auch mit einem Erziehungsauftrag daher. Fünfjährige eben! Die einen quengeln an der Supermarktkasse, andere wollen keinen Spinat essen und wieder andere sind coronabockig. Kenntste einen, kennste alle! Hausarrest und Taschengeld streichen! Und bloß auf keine Diskussion einlassen, wenn es darum geht, ob man zur Demo darf oder ins Bett muss. Erwachsene Deutsche verhalten sich da anders. Immer wenn es von außen neue Vorschriften gibt, rufen sie „das mache ich sofort, ich lasse mich gern einschränken“. Dieser Geschmeidigkeit wäre ein Rückgrat oder ein eigenes Urteilsvermögen natürlich im Weg. Oder handelt es sich bei derart kritiklosem Gehorsam ganz im Lafontain‘schen Sinn womöglich doch nur und „ganz präzis gesagt“ um eine Sekundärtugend, die zum Schlimmsten befähigt?
„Es ist verdammt schwer, mit diesem irrationalen Eigensinn umzugehen. Obwohl bzw. gerade weil man diesen Menschen gern hat, sich mit ihm verbunden fühlen möchte. Zumindest phasenweise ist das Band zerrissen – genauso wie jetzt bei Freunden, die sich nicht coronaeinig sind.“
Nicht eine Sekunde verschwendet der Spitzenpsychologe auf die Frage, ob dem bemängelten Eigensinn nicht vielleicht durchaus rationale Erwägungen zugrunde liegen könnten, die er nur nicht gelten lässt oder schlicht ausblendet. Die Rollen sind klar verteilt. Auf der einen Seite der Verwalter der gültigen Corona-Wahrheit, auf der anderen Seite das uneinsichtige Kind, dem man mit Argumenten eh nicht beikommt, weil es intellektuell dazu gar nicht in der Lage ist. Unmündig, dumm, emotional unreif. Für manche mag das zutreffen. Daraus die Anamnese für eine große und noch dazu extrem heterogene Gruppe abzuleiten, halte ich nicht für zulässig. Und was die Gültigkeit der „Wahrheit” angeht, stützt sich diese auf so wenig Expertise wie selten zuvor in einer Krisensituation. Denn von der postulierten Coronaeinigkeit ist selbst unter den Experten keine Spur zu finden.
„Auf der unmittelbaren Ebene sollten Sie sich von Freunden fernhalten, die sich nicht an die Vorsichtsmaßnahmen halten, die für Sie persönlich wichtig sind. Dadurch verringert sich der Freundeskreis, aber das müssen Sie aus Gründen der Selbstfürsorge in Kauf nehmen.“ Bei echten Herzensfreunden treten solche Probleme eher seltener auf, sagt der Experte, weil man ähnliche Ansichten und Verhaltensweisen hat – wahrscheinlich auch in dieser Krise.
Damit wäre die Pathologisierung der Kritiker vollständig. Seine Wahrheit, deine Lüge. Diagnose: mangelnden Coronaeinigkeit, Therapie: Liebesentzug, Kontaktbeschränkung, Verwandte bleiben sicherheitshalber in der für sicher erklärten Meinungsblase und halten sich so von „wilden Ideen“ fern. Tu’s für dich, aus Selbstfürsorge. Bleib gesund, auch im Kopf! Kommuniziere nicht mit „Covidioten“ und schalten Sie um Himmels Willen die Feindsender aus!
„Corona ist eine emotionale Herausforderung, der man mit Argumenten nur schwer begegnen kann.“
Corona ist in der Tat auch eine emotionale Herausforderung, doch der Experte lässt nur einen kleinen Teil, nämlich den des „Duck and Cover“ als solche gelten. Alles, was es dem Einzelnen ermöglicht, die heruntergereichten Befehle treu auszuführen, ist gut. Gehorsam ist gut. Coronaeinigkeit ist gut. Und da den Irren „mit Argumenten nur schwer zu begegnen ist“, muss man sich auch nicht die Mühe machen, welche zu haben oder diese gegen Kritik zu verteidigen.
Die „Corona-Argumente” können ja gut und richtig sein und zweifellos sind das auch viele. Aber das müssen sie – egal wie ermüdend das auch sein mag – im Diskurs immer wieder beweisen. Für diesen Diskurs braucht es stets die Infragestellung des Status quo. Denn wenn alle im Lockdown glücklich, kreativ und zufrieden sind, die Beschränkungen als Chance begreifen, sich alle Probleme einfach mit Geld zuschütten lassen, Insolvenzen per Verordnung verboten sind und geplatzte Kredite einfach ignoriert werden können, warum sollte der Ausnahmezustand dann je enden, wo er doch scheinbar die bessere Realität ist, in der die Bestattungsinstitute Staatshilfen beantragen müssen, weil niemand mehr stirbt?
BILD: Wenn man nicht weiterkommt, was dann? Das Thema ausklammern und ansonsten normal weitermachen? Den Freund wie auf Facebook disliken? Oder ihn nur vorübergehend unsichtbar machen und abwarten, ob sich die Kluft nach Corona wieder schließen lässt?
„Versuchen Sie vielleicht erst noch einmal die Richtung zu ändern. Unterhalten Sie sich nicht darüber, ob es Corona gibt oder nicht oder welche Maßnahmen sinnvoll sind oder nicht, sondern darüber, inwiefern Corona eine Chance ist. Eine Chance herauszufinden, wie wir mit weniger Bespaßung auskommen. Wie wir das Zuhausesein mehr genießen können. Wie wir uns mit intensiven Gesprächen nahe sein können, obwohl wir uns nicht in den Arm nehmen dürfen. Welche Möglichkeiten gibt es, diese Situation gemeinsam gut zu überstehen, sodass wir im Nachhinein vielleicht sogar sagen können: Das hat mich im Leben weitergebracht.“
Nun sind wir endgültig in der Pädagogik für Kleinkinder angekommen. Corona als Chance, Verzicht als Chance, Schmerz als Chance, Einsamkeit als Chance, allein sterben als Chance, Bürgerkrieg als Chance, Verschüttet sein, Angehörige verlieren, entführt werden, sich mit allem abfinden, nichts mehr riskieren… alles ist irgendwie „Chance“, die man sich nur intensiv genug in die Birne prügeln muss, um sie letztlich toll zu finden. Hier findet sich die unausrottbare Idee von einer Realität, die sich durch Autosuggestion rosarot färbt.
Wenn alle nur positiv dächten, wenn alle ständig Masken trügen, wenn alle immer und überall korrekt gendern würden, wenn niemand mehr von „Mohrenkopf“ spräche, dann wäre die Welt gerettet und Rassismus, das Patriarchat und Corona würden verschwinden. Oder eben auch nicht. Wer mir nach all den Monaten medialen Daueralarms, Notstandsgesetzen, Schulschließungen, wirtschaftlicher Talfahrt und Millionen Menschen, die je nach Konstitution kurz vor dem Zusammenbruch oder der Explosion stehen, Corona immer noch als Chance verkaufen will, sollte sich über die Injurie „Scharlatan“ nicht ärgern. Schließlich eröffnen sich dadurch jede Menge Chancen für die Karriere – als Experte im öffentlich-rechtlichen Rundfunk beispielsweise oder als Interviewpartner für BILD.
„Bei Unverbesserlichen, bei denen weder Argumente noch Umdenken noch die Aufforderung zur Rücksichtnahme hilft, gilt: auf Abstand gehen. Im echten Leben und in den sozialen Medien. Bei der eigenen Familie ist das extrem schwer, deshalb sollten Sie sich Hilfe holen – vor allem wenn der Corona-Frust in diskriminierende Verschwörungstheorien umschlägt. Es ist wichtig, in dieser Situation zu lernen, wie man sich emotional abgrenzen kann.“
Dass ein zum Umdenken Aufgeforderter nicht umdenkt, geht natürlich gar nicht! Gut, dass Dr. Krüger gleich das passende Hilfsangebot zur Hand hat: Den Berliner Krisendienst. Der hilft nämlich tatsächlich, etwa bei Depressionen, Traumata, Suchtproblemen oder Suizidgedanken. Wenn Vater oder Mutter also mal wieder auf eine Corona-Demo gehen, kann das woke Töchterlein (Soziologie, viertes Semester) sich dort professionelle Hilfe holen. Doch vielleicht kennt man die Eltern dort bereits, denn weil deren Firma wegen der Lockdown-Maßnahmen kurz vor der Pleite steht und der Vater sich mit Selbstmordgedanken trägt, hat die Mutter längst beim Krisendienst um Hilfe gebeten. Bei der nächsten Sitzung können die beiden sich dann gleich ihre Coronaeinigkeit glattziehen lassen, wenn sie schon mal da sind.
Ich bin ja nicht so der Demo-Typ. Das hat historische Gründe, die später ins Prinzipielle umschlugen. Ich halte die meisten Demonstrationen für ziemlich zwecklos, weil sie entweder Ausdruck der Macht oder der Ohnmacht sind. Zugegeben, es gibt Ausnahmen. Wenn ich jedoch Artikel wie dieses BILD-Interview mit Dr. Krüger lese, male ich im Geiste bereits ein Transparent: „Die Kanzlerin sprach: ‚Lächle, es könnte schlimmer kommen!‘ Und ich lächelte. Und es kam schlimmer.“
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Unbesorgt.