André Thess, Gastautor / 21.01.2023 / 10:00 / Foto: Public domain / 25 / Seite ausdrucken

Naftali Frenkel – Genie im Gulag?

Von André D. Thess.

Vom verurteilten Mafiaboss in der Butyrka-Zelle zum Baumanager des Straflager-Archipels. Frenkel (ganz rechts im Bild) erscheint als der Inbegriff des Bösen. Doch zwischen dem Technokraten der Zwangsarbeit und den NKWD-Massenmördern Jagoda und Jeschow liegen Welten. Eine Spuren­suche im 140. Geburtsjahr, jenseits von Gut und Böse.

Begann alles in Köthen?

An einem unbekannten Tag im Jahr 1902 traf der neunzehnjährige Naftali Aronowitsch Frenkel zum Studium in der anhaltinischen Provinz ein. Die Exportfirma Steiner & Co. aus dem ukrainischen Ort Nikolaev, heute Mykolajiw, hatte ihrem jungen Vorarbeiter eine Ausbildung am Köthener Friedrichs-Technikum spendiert, der heutigen Hochschule Anhalt. Stand deutsche Ingenieursausbildung am Karrierebeginn des späteren Chef-Baumanagers im System der sowjetischen Konzentrationslager?

Naftali Frenkel ist außerhalb Russlands weitgehend unbekannt. Lesern des „Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn ist er mit den Worten begegnet: „Da stieg der schwarze Stern Naftalij Frenkels, des Ideologen dieser Ära, auf, und seine Formel wurde zum obersten Gesetz des Archipels: ‚Aus dem Häftling müssen wir alles in den ersten drei Monaten herausholen – danach brauchen wir ihn nicht mehr!‘“ Auf den ersten Blick scheint es sich um einen gewöhnlichen Verbrecher aus der Stalinzeit zu handeln – sozusagen das sowjetische Gegenstück von Albert Speer. Doch ein differenzierterer Blick lohnt sich. Es gibt mindestens zwei Motive, sich mit Frenkel näher zu beschäftigen – ein politisches und ein menschliches. 

Während sich nationalsozialistische Politiker wie Hermann Göring und Albert Speer bei den Nürnberger Prozessen verantworten mussten und ihre Verbrechen heute umfassend dokumentiert sind, konnte Frenkel seinen Lebensabend von 1947 bis 1960 unbehelligt in einem Moskauer Luxus-Appartement genießen. Dabei dürfte das politische Gewicht seiner Untaten kaum geringer sein als bei Speer. Die Rekonstruktion von Frenkels Lebensweg leistet somit einen Beitrag, die Verbrechen des Sozialismus für das kollektive Gedächtnis aufzubereiten. 

Mafia-Millionärsleben, Sträflingsdasein, Wiederauftieg

Das menschliche Motiv für die Beschäftigung mit Frenkel liegt darin, dass sich sein u-förmiger Lebensweg diametral von den n-förmigen Karrieretrajektorien hoher NKWD-Funktionäre unterscheidet. Die Obertschekisten Genrich Jagoda und Nikolai Jeschow stiegen an die Spitze des NKWD auf, um ihr Leben bald darauf durch Genickschuss in den Kellern ihrer eigenen Behörde zu verlieren. Frenkel hingegen fiel aus den Höhen des Mafia-Millionärslebens in die Tiefen des Solowezky-Sträflingsdaseins, um sich aus dem Keller bis an die Spitze der Gulag-Hölle hochzuarbeiten. Welche Fähigkeiten verhalfen ihm zu diesem einzigartigen Lebensweg?

Für eine Biographie von Frenkel ist es zu früh. Dazu müssten KGB-Archive geöffnet werden, die heute noch verschlossen sind. Doch lohnt sich in Frenkels 140. Geburtsjahr ein Blick in drei russischsprachige Quellen. Ferner jährt sich im Jahr 2023 die Fertigstellung des unter seiner Leitung gebauten Weißmeer-Kanals zum 90. Mal. Und die unter Frenkels Mitwirkung entstandene Wolga-Feldbahn, die den Ausgang der Schlacht von Stalingrad beeinflusst hat, wurde zum Jahreswechsel 2022/23 80 Jahre alt. 

Die einzige heute verfügbare Primärquelle über Frenkel ist ein Kapitel aus dem russischsprachigen Buch „Geheimnisse der Krim-Gefängnisse“ („Тайны крымских застенков“, 2007) des Historikers Sergei Filimonov. Der an der Universität Simferopol auf der Krim tätige Professor erhielt Mitte der 1990er Jahre Zugang zum Archiv der Leitung des ukrainischen Geheimdienstes (GU-SBU) und zitiert in seinem Buch im Kapitel „Solowki – Beginn seines Weges“ auf den Seiten 139–154 einige Quellen zur Personalie Frenkel. Eine Sekundärquelle über Frenkel ist das Buch „Die ewige Lampe“ („Неугасимая лампада“, 1954) des sowjetischen Dissidenten und Schriftstellers Boris Schirjajew, der auf den Solowezky-Inseln inhaftiert war. Eine monumentale Sekundärquelle ist das Werk „Der Stalinsche Weißmeer-Ostsee-Kanal“ („Беломорско-Балтийский канал имени Сталина“) eines von Maxim Gorki geleiteten Autorenkollektivs aus dem Jahr 1934. Alle drei Quellen sind nur in Russisch verfügbar. 

Von der Geburt bis zur Verhaftung 

Frenkels Geburtsjahr wird mit 1883 angegeben. Doch schon das Datum ist unbekannt. Über den Geburtsort gibt es widersprüchliche Angaben – Jaffa, Haifa, Istanbul, Odessa, Moskau. Ebenso liegen Immatrikulationsdatum, Studienabschluss sowie die meisten Einzelheiten seines Lebens im Dunklen. Die Legenden beginnen im Kindesalter: Schon Klein-Naftali soll sich durch Geschäftssinn ausgezeichnet haben. Um sein Taschengeld aufzubessern, habe er einmal alle Bonbons vom Weihnachtsbaum abgeschnitten und verkauft. Nach der Rückkehr aus Deutschland arbeitete er eine Weile bei Steiner & Co, siedelte aber später nach Odessa über. Dort profilierte er sich als Mafiaboss und stieg zum Millionär auf. Seine Geschäftsfelder sollen Seehandel mit der Türkei und Rumänien, Produktpiraterie, Waffenschmuggel sowie der Aufkauf privaten Goldes in Kollaboration mit dem sowjetischen Geheimdienst gewesen sein. Die neue ökonomische Politik NÖP gab Frenkels Geschäften ab 1921 zusätzlich Auftrieb.  

Am 16. November 1923 nahm Frenkels Karriere mit seiner Verhaftung ein jähes Ende. Laut Filimonov war „der Haftbefehl am 15. November 1923 durch den damaligen stellvertretenden Vorsitzenden der OGPU […] Genrich Jagoda unterzeichnet“ worden. Am 4. Januar 1924 (Aktenzeichen Nr. 21108) wurde Frenkel unter anderem auf Grund der Unterschlagung von 8.000 Dollar der GPU zu „fünf Jahren Haft im Solowezky-Konzentrationslager ohne Amnestiemöglichkeit“ verurteilt. Das Urteil wurde am 14. Januar 1924 auf zehn Jahre aufgestockt. Filimonov vermutet, dies sei auf Intervention des Geheimdienstlers Artur Artusov geschehen.

Die Solowezky-Sauna

Nach seiner Ankunft auf den Solowezky-Inseln am 3. Mai 1924 erkannte Frenkel rasch die Unwirtschaftlichkeit des Lagertreibens. Im ehemaligen Mönchskloster waren die Häftlinge zu Beschäftigungstherapie verurteilt – Möwen zählen sowie Hin- und Herschaufeln von Schneehaufen. In Frenkels Augen eine Vergeudung wertvoller Ressourcen. Er unterbreitete der Lagerleitung detaillierte Vorschläge, wie man die Zwangsarbeit gewinnbringend umkrempeln könne. Auf seine Initiative wandelte sich das Solowezky-Lager gleichsam zu einem Profitcenter: Häftlinge wurden sorgfältig nach Qualifikation eingeteilt und zu Lederwarenherstellung, Souvenirfertigung, Holzfällarbeiten und Fischfang eingesetzt. Frenkel blieb zwar vorerst Häftling, doch seine Anerkennung bei der Lagerleitung wuchs. Sein Wille zum Aufstieg war unbändig. 

Die Apotheose in die Gulag-Elite verdankt Frenkel keinem geringeren Individuum als der Kleiderlaus pediculus humanus

Sie war durch die Häftlingsströme ins Solowezky-Lager eingeschleppt worden und verursachte eine Fleckentyphus-Epidemie mit zahlreichen Toten. In seinem Buch „Die ewige Lampe“  berichtet Schirjajev: 

„Zuallererst werden Saunen benötigt. Sowohl im Kreml, als auch in den verstreuten Kommandopunkten auf den Inseln. Und der Bedarf war dringend. Die Ingenieure, die mit der Planung beauftragt waren, veranschlagten zehn bis zwanzig Tage Bauzeit. Das von Frenkel eingereichte Projekt versprach den Bau der größten Sauna innerhalb von 24 Stunden mit nur 50 von ihm ausgewählten Arbeitern. Der Lagerleiter Barinov rief Frenkel zu sich: 

„Du willst also an einem Tag bauen?“

„Ja, wenn Sie mir alles geben, was ich brauche.“

„Machen wir. Wenn Du es vermasselst – Sekirka [1]!“ 

„Ich weiß.“

„Leg los!“

Frenkel suchte ungefähr 30 kräftige junge Arbeiter aus, in der Mehrzahl Kronstädter Matrosen mit geschickten Händen. Aus seiner früheren Arbeit als Aufseher kannte er sie schon und suchte sie zielsicher aus. Die restlichen forderte er aus der Invalidenbaracke an. […] Beide Gruppen – Arbeiter und Invaliden – stellte Frenkel auf der geplanten Baustelle gegenüber. Es wehte Nordostwind. Der Frost biss an Ohren und Händen. Die Alten aus der kleinen Gruppe wickelten sich ein und stampften auf der Stelle. Viele trugen Lumpen. 

„Die Sache steht so:“ wandte sich Frenkel an die Arbeiter. „In 24 Stunden müssen wir hier eine Sauna bauen. Wenn wir die Aufgabe nicht erfüllen, gehen wir von hier direkt auf die Sekirka. Ihr, ich und sie.“ Und zeigte auf die Alten. „Warmes Essen mit Fleisch wird uns gebracht. Jeder bekommt ein Glas Schnaps. Los geht’s.“ Die Jungen sahen auf die Alten. Die Alten sahen auf die Jungen. Die Jugend hat, weniger mit dem Kopf als vielmehr mit dem Herz verstanden, dass das Leben der Alten im Moment von ihr und nur von ihr abhängt. […] Die Wände aus dicken Baumstämmen waren noch nicht hochgezogen, da wurden im Inneren schon die Öfen gebaut. Bretter, Platten und Balken flogen wie von selbst durch die Luft. Zweizollnägel wurden von starker, geübter Hand mit einem Hammerschlag versenkt. 

Die Alten halfen, wo sie konnten, aber sie konnten wenig. Frenkel hatte bewusst die kümmerlichsten und ältesten Bischöfe und Generale ausgewählt. Er selbst war Mittelpunkt der gesamten Arbeit, ihr Gehirn – und führte ruhig, sachlich, geschickt. Seine Versprechen hielt er ein: Es gab dicke Schtschi [2] mit Fleisch, unbegrenzt Brot und Schnaps […] 

Der kümmerliche Solowezky-Wintertag ging zur Neige. Über der Baustelle erstrahlten Scheinwerfer, und die Arbeit ging in gleichem Tempo weiter. Am nächsten Morgen kam Barinov vorbei und trat in den Saunavorraum ein, der nach Kiefernspänen duftete. Aus der Tür quoll weißer Dampf der siedenden Kessel. „Gut gemacht“ schnurrte der begeisterte Barinov. […] „Jedem ein Glas Schnaps! Von mir! Und du“ sagte er zu Frenkel gewandt, „kommst mal bei mir vorbei. Zum Plaudern.“

Die Arbeit war zweieinhalb Stunden schneller fertig geworden als versprochen. Nur zwei alte Priester mussten ins Lazarett getragen werden, die in der Nacht fast erfroren waren. 

Dieser Tag war der Anfang einer neuen Ära im Solowezky-Gefängnis. Es trat in das System des sozialistischen Aufbaus ein, und breitete sich auf ein Sechstel des Territoriums der Welt aus.“ 

Vollumfänglich begnadigt

Ob sich die Geschichte tatsächlich so zugetragen hat, ist nicht durch Primärquellen belegbar. Sie legt jedoch die Vermutung nahe, dass Frenkel im Unterschied zur bildungsfernen Tscheka-Funktionärskaste über herausragende analytische und organisatorische Fähigkeiten und psychologisches Gespür verfügte. Sein phänomenales Zahlengedächtnis wird im Gorki-Buch über den Weißmeer-Kanal umfassend thematisiert.

Alsbald wurde Frenkel vollumfänglich begnadigt und später zum Leiter der Bauarbeiten des sozialistischen Großprojekts Weißmeer-Kanal ernannt. Der im „Archipel Gulag“ erwähnte Besuch von Frenkel bei Stalin ist nach heutigem Stand des Wissens nicht belegt. Es hält sich jedoch hartnäckig die Legende, Frenkel habe Stalin auswendig Zahlenkolonnen über Bauprojekte vorgetragen. Stalin vermutete einen Bluff und soll Frenkel um Wiederholung der Zahlen gebeten haben. Frenkels Angaben sollen sich im zweiten Durchlauf mit den erstgenannten eins zu eins gedeckt haben. 

Der Weißmeer-Kanal

Der auf Russisch Belomorkanal („Беломорканал“) genannte Bau erstreckt sich auf 227 Kilometern von Powenez nach Belomorsk und besitzt 19 Schleusen. Er verbindet St. Petersburg mit dem Weißen Meer. Auf Stalins Befehl erbauten Häftlinge den Kanal in 20-monatiger Rekordgeschwindigkeit vom Oktober 1931 bis Juni 1933 mit primitivem Werkzeug. Über die Zahl der Todesopfer liegen keine gesicherten Angaben vor. Konservative Schätzungen gehen von mindestens 10.000 aus. Die Organisation des Baus lag in den Händen des freigesprochenen Frenkel.

Mit dem eingangs zitierten Gorki-Buch liegt eine 613 Seiten starke Sekundärquelle über den Kanalbau vor. Zwar weist Solschenizyn darauf hin, dass es sich um ein Propagandawerk handelt: „Material für dieses Buch [Archipel Gulag, Anm. d. Verf.] lieferten auch SECHSUNDDREISSIG von MAXIM GORKI angeführte sowjetische Schriftsteller, die Verfasser des Buches über den Weißmeer-Kanal, jenes schändlichen Werkes, in dem zum ersten Mail in der russischen Literatur der Sklavenarbeit Ruhm gesungen wurde.“ Ungeachtet der an heutige Energiewendegesänge erinnernden panegyrischen Rhetorik („Der Weißmeerkanal wird zur wichtigsten Arterie unseres Nordens. [Er] eröffnet für Karelien, für den sowjetischen Norden, für die gesamte Sowjetunion neue ökonomische Perspektiven. Brot, Salz, Erdöl, Metall, Maschinen, Holz, Fisch, Konsumgüter Apatit, Nephelin – werden auf dem Kanal transportiert.“) verbergen sich im Gorki-Buch einige Fakten über Frenkel, die vermutlich glaubwürdig sind und beim Verständnis seiner Persönlichkeit helfen.

Es ist unzweifelhaft, dass Frenkel die Gulag-Sklavenarbeit industrialisiert und sich damit am Tod hunderttausender Häftlinge schuldig gemacht hat. Die Tagesrationen wurden nach seinem Schema an unerfüllbare Normen geknüpft. Es wäre jedoch falsch, Frenkel auf eine Stufe mit Stalin, Jagoda und Jeschow zu stellen, ebenso wie Albert Speer und Adolf Hitler nicht auf einer Stufe stehen. Im Kapitel 7 „Kanalkämpfer“ wird Frenkels Rolle beim Kanalbau wie folgt beschrieben: 

„Man kann nicht sagen, dass die Ernennung von Frenkel zum Bauleiter […] einen großen Eindruck gemacht hätte. Die Zahlen über Kubikmeter an Felsen und Beton […] wurden eher zur Beruhigung des Gewissens an die Leitung geschickt, als in der Erwartung einer schnellen und klaren Weisung. […] Doch zur Verwunderung aller zeigte das erste Treffen geradezu unmittelbare Reaktionen […] Mittleren Wuchses, schlank, mit einem Stock in der Hand erschien [Frenkel] auf den Baustellen, mal hier mal da. Ging schweigend an den Arbeitern vorbei, blieb stehen, sich auf den Stock stützend, die Beine kreuzend. Und stand stundenlang da. […] Nein, er schrie und fluchte nicht. Er war höflich. Doch beim ersten Anblick wurde jedem Untergebenen klar, dass er entweder Frenkels Methoden annehmen oder mit ihm kämpfen muss. […] Die Ingenieure hielten ihn für einen Dilettant, dessen Aufregung sich legt, wenn er mit technischen Details konfrontiert wird, die ihm unbekannt sind. […] Gespräch mit einem Vorarbeiter:

„Wieviel Grund wurde in dieser Grube innerhalb der Fünftagesfrist ausgehoben?“

Der Vorarbeiter haut sich auf die Taschen, holt das Notizbuch heraus und bewegt die Finger über die Seiten. 

„Wissen Sie das nicht aus dem Kopf?“ sagt Frenkel und Verachtung schwingt in seiner Stimme.

Der Vorarbeiter findet die Zahl.

„Zu wenig! Wieso?“

„Zu wenig Arbeiter“

„Wie viele Arbeiter haben Sie?

Wieder geht der Finger durch das Notizbuch.

„Sie wissen nicht, wie viele Arbeiter Sie haben? Na dann sage ich es Ihnen … Sie haben 935 Arbeiter.“ 

„Ja“ sagt der Vorarbeiter „tatsächlich“

„Das heißt, wenn man für jeden Arbeiter 2 ½ Kubikmeter pro Tag rechnet und den Untergrund in Betracht zieht, sowie die Transportentfernung und das Wetter, könnten Sie 1 ½ Mal mehr geschafft haben.“ Die Berechnung von Frenkel ist exakt. Er hat sie ohne Papier, ohne Nachschlagewerk, ohne Verzögerung gemacht. Da kann man nichts entgegnen. 

Frenkel: „Sie sind also nicht in der Lage, die Arbeit zu organisieren.“ 

Die Exekution ist beendet. Der Ingenieur hat nicht einmal einen Tadel erhalten. [Frenkel] hat ihm die Zahlen für die nächsten fünf Tage diktiert. Er geht an die Arbeit zurück wie ein Schuljunge, der eine Vier erhalten hat. 

So begann die Eroberung der Ingenieure.“ 

Phänomenales Zahlengedächtnis

Filimonov berichtet auf der Basis von Archivmaterialien, dass Frenkel nicht nur ein herausragender Geschäftsmann und Organisator war, sondern auch ein phänomenales Zahlengedächtnis gehabt haben soll. Er summierte Zahlenkolonnen im Kopf, ließ sich Stifte nur zum Unterschreiben geben und brüstete sich gern damit, Gesichter, Namen und Strafmaße von 40.000 Häftlingen seines Lagers zu kennen. 

Für die Fertigstellung des Kanals – vor 90 Jahren – wird Frenkel der erste von drei Leninorden verliehen. Später, am 4. Januar 1940, wird er zum Leiter der Gulag-Unterabteilung für den Eisenbahnbau GULZHDS („ГУЖДС“) ernannt. Der Weißmeer-Kanal besaß weder damals noch heute wirtschaftliche oder militärische Bedeutung. Monatelang ist er zugefroren.

Ein umfassendes Psychogramm Frenkels steht noch aus. Doch lässt sich mit einiger Sicherheit resümieren, dass es sich einerseits um einen skrupellosen und menschenverachtenden Technokraten des Grauens handelt, andererseits um ein unternehmerisches und analytisches Genie, welches unter demokratischen Verhältnissen womöglich ein Unternehmer wie Werner von Siemens oder Steve Jobs geworden wäre. 

Während Frenkels Wirken für den Weißmeerkanal nachträglich als nutzloser Prestigebau des Sozialismus betrachtet werden kann, ist sein späteres Wirken möglicherweise von Bedeutung für den Ausgang des Zweiten Weltkrieges gewesen. 

Die Wolga-Feldbahn

Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht verlor die Sowjetunion im Herbst 1941 die Kontrolle über die Eisenbahnlinie Moskau-Kursk-Charkov-Rostov. Zum Sommer 1942 waren sämtliche Bahnverbindungen westlich der Wolga blockiert. Mit dem Beschluss Nr. 1286 vom 15. Februar 1942 legte das staatliche Verteidigungskomitee der UdSSR (VKU) deshalb fest, östlich der Wolga eine knapp 1.000 Kilometer lange Eisenbahnverbindung von Ilowlja bei Stalingrad bis Swijaschsk bei Kasan zu errichten. Die Wolga-Feldbahn, auf Russisch Wolga-Rochade (Волжская рокада), sollte einerseits die Evakuierung der Bevölkerung Stalingrads und andererseits den Transport von Kriegsmaterial nach Stalingrad ermöglichen. 

Auf Anweisung Frenkels und des VKU wurden für den Bau der Wolga Feldbahn Abschnitte der Baikal-Amur-Magistrale abgebaut und Schienen, Kabel, Schubkarren, Schaufeln an die Wolga gebracht. Innerhalb eines halben Jahres wurde die Wolga-Feldbahn fertiggestellt. Die genaue Rolle von Frenkel ist nicht literarisch beschrieben. Doch erhielt er für seine Verdienste um den Bau der Wolga-Feldbahn den dritten Leninorden. Feldmarschall Schukow sagte später über das Projekt: „Der Bau der Wolga-Feldbahn versorgte die gesamte Schlacht um Stalingrad mit Reserven und Waffen, was einen radikalen Wendepunkt im Kriegsverlauf markierte.“ Vor ziemlich genau 80 Jahren – im Januar 1943 – dürfte die Wolga-Feldbahn in der Schlacht von Stalingrad ihre maximale Wirkung entfaltet haben. 

Anders als bei zahlreichen seiner Mitstreiter endete Frenkels Leben nicht mit einem Genickschuss in der Lubjanka. Sein Spürsinn hat ihn womöglich rechtzeitig erkennen lassen, dass es nach dem Kriegsende Zeit wurde, sich zurückzuziehen. Es wird gemutmaßt, er habe sich mittels eines fürstlichen Bestechungsgeldes im Jahr 1947 ein ärztliches Attest über Arbeitsunfähigkeit besorgt. So konnte er seinen Lebensabend bis zum Tode 1960 in Moskau in Ruhe verbringen. 

Falls seine Mitwirkung an der Wolga-Feldbahn auf solide deutsche Ingenieursausbildung in Köthen zurückzuführen ist, stellt sich am Ende die bemerkenswerte Frage: 

Liegt im Sieg der Roten Armee über die Deutsche Wehrmacht womöglich eine homöopathische Dosis des Köthener Studenten Naftali Frenkel?

 

André D. Thess ist Universitätsprofessor, Leiter eines Energieforschungsinstituts und Autor des Buches „Sieben Energiewendemärchen?“. Die im vorliegenden Beitrag getroffenen Aussagen sind rein privater Natur.  

 

[1] Todeshügel auf den Solowezky Inseln, Anm. d. Verf.

[2] Russische Krautsuppe

Foto: Public domain

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Yehudit de Toledo Gruber / 21.01.2023

@Christain Feider: Sibyllisch, Ihre Zeilen. Weshalb nicht deutlicher? Und welches sind Ihre Quellen?

A. Ostrovsky / 21.01.2023

@Stefan Riedel : In Texas, da wird spanisch gesprochen. Nebenan, wo sie so was wie Französisch reden, das heißt Louisiana. Und im Spanischen wird der Muttersname hinter den Vatersnamen gestellt. Stalin Stalinowitsch Zapata muss dann noch den Muttersnamen Spencer dahinter bekommen, wenn Sie verstehen. Und ein aristokratischer Grad Compte de Blabla auch noch, wenn es sein muss. Das sind schon Schlingel die Südwestspanier. Jugozapata eben.

A. Ostrovsky / 21.01.2023

@Stefan Riedel : Auf dem Bild sind gar keine Zwangsarbeiter, nur gute Genossen und sehr aufgeschlossen alle. Nur der Naftalin schaut etwas streng. Sicher ist er in Sorge wegen der Verantwortung. Der wäre als Justizminister im Buntland eine gute Wahl. Dann brauchts auch das ewige Gewinsel wegen Grund und den Rechten nicht mehr. Ruft neulich der Schwimmschüler “Hilfe, ich habe keinen Grund!” Da hat ihn der Aufseher mit der langen Stange mal richtig untergetaucht und hat dann gerufen, “Was schreist du denn dann so, wenn du gar keinen Grund hast?”, Haha. Da müsste der Naftalin sicher auch lachen. Ist eben ein feinsinniger Mensch. Gepflegt und fair. Fair auf jeden Fall, fair gehandelt. Sapad heißt im Russischen “der Westen”. Daher der Name Zapata für die amerikanischen Erdölbohrer, weil die vom Russen aus gesehen im Westen waren, also vom Westrussen aus. Zapata und Naftalin, ein schönes Paar. Zapata Oil wurde 1953 unter dem Namen Zapata Petroleum durch George Herbert Walker Bush, den späteren 41. Präsidenten der USA gegründet. Alles richtig große Leute. Die spanische Bedeutung von Zapata (Bremsklotz) macht keinen Sinn. Dann eher westrussisch. Der muss den Naftalin gekannt haben, der Herbert. Die haben sicher beim Schein der Petroleumlampe Ochsenkopf gespielt zusammen. Vieleicht war der Ali vom Kap auch mit dabei. Schwant Ihnen nun etwa, es könnte auch alles ganz anders geblieben sein? Gegen Zwangsarbeit hatten die anfangs alle nichts. Das galt nur hinterher nicht mehr als vornehm.

Hans Kloss / 21.01.2023

Steuer, gez und ähnliche Abgaben plus Inflation einerseits, die Überwachung des Einzelnen und Konsequenzen für einigen Beispielen für den Rest anderseits und man braucht keine Gulags und KZs. Funzt ohne auch ganz gut. Ob es auch funzt wenn statt Fleisch, Weizenmehl usw die Ersatzstoffe wie Insektenmehl benutzt werden, werden wir Mal sehen. Ich kann mir vorstellen, dass die meisten Deutschen fressen das aus Loyalität. Ob Amis das auch tun? Mal sehen. Es bleibt spannend.

Andreas Mertens / 21.01.2023

@Christian Feider Haben sie wieder Nachts die Protokolle der Weisen von Zion gelesen? Ihr Therapeut sagt doch sie sollen das lassen. Das bekommt ihnen nicht. Versuchen sie es mal mit Mechthild Scheffer’s “Die Bachblütentherapie” oder Hoimar v. Ditfurth’s “So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen”

A. Ostrovsky / 21.01.2023

@Stefan Riedel : Moment Genosse, Kommando zurück! Ich hatte geschrieben “Auf jeden Fall wissen wir jetzt, wie es nicht geht. Das ist ja auch schon mal was.” Das gilt ab sofort.

Jan Blank / 21.01.2023

Um Gottes Willen! Wer pliert denn da so missmutig auf dem Eingangsphoto? Ist das die Leipziger Antifa, die vor ihrer Sommerdatsche auf Nääääncys Scheck wartet? Der Text selbst macht staunen. Ein halbes Jahr für eine tausend Kilometer lange Bahnstrecke? Mehr Frenkels in die Politik und die Administration und wir lebten allesamt wie Monegassen mit Lottogewinn. Entgegen dem Clintonschen Diktum wird hier vor allem eins klar: It´s the brain, stupid…....und eben nicht - wie aktuell- the tits.

Ludwig Luhmann / 21.01.2023

@ Stefan Riedel / 21.01.2023 - “Ein Lehrer von mir: stalinistischer Dreisatz, 10.000 Zwangsarbeiter brauchen für den Stalinkanal Xyxy Jahre. Wieviel Jahre brauchen 100.000 Zwangsarbeiter?  (Genosse Stalin sorgt für Nachschub).”—- Ich kenne die menschlichste Lösung: 100.000 mit Spitzhacken und Schaufeln bewehrte Zwangsarbeiter haben innerhalb von wenigen Stunden alle Sklavenhalter zu Brei geschlagen, und das Lager platt gemacht.  Danach haben Sie andere Lager befreit und die menschenfeindlichen Politiker aller Länder ebenfalls zu Brei geschlagen! - Richtig?

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