Von Chaim Noll.
In den vom Islam eroberten Ländern bestand das vorrangige Interesse der neuen Herrscher in der Einführung der islamischen Zwei-Klassen-Ordnung, eines Systems von Tributzahlungen und Sklaverei. Anders verhält es sich in nicht islamisch beherrschten Gebieten: Hier ist das Gewinnen von Konvertiten „eine permanente Pflicht“ des gläubigen Muslim, der individuelle Teil des Gebots vom jihad. Solange die muslimische Männerkaste nicht die politische und militärische Herrschaft des Gebietes gesichert hat, zählt jeder einzelne Proselyt. Ob im Falle von Sklaven mit der Konversion ihre Freilassung verbunden ist, bleibt im Koran unausgesprochen. Anders im biblischen Text: Der Eintritt eines Sklaven in die biblische Religion (ger zedek) führte automatisch zu der (in 2 Moses 21,2 und 5 Moses 15,12-18) gebotenen Freilassung.
In den humanen Gesetzen gegenüber Unfreien und Fremden lag einer der revolutionären Aspekte, die den jüdischen, später christlichen Glauben so anziehend für die Sklaven des römischen Imperiums machten, welche ihm in großen Scharen zuströmten. Dagegen schafft der Koran durch das „gottgewollte“ Privileg der Gläubigen gegenüber den Ungläubigen einen unangreifbaren Vorwand für das Prinzip lebenslanger Versklavung. „Mit dem Islam“, findet der deutsche Orientalist Hans-Peter Raddatz, „wird der Herrschaftsanspruch des Menschen über den Menschen welthistorisch reaktiviert“.
Die im dar al islam „gottgewollt“ herrschende muslimische Männerkaste fühlt sich zur Unterwerfung aller Anderen legitimiert, weil sie selbst ihr Leben in totaler Unterwerfung verbringt, unter den Willen Allahs, wie es im Wort islam zum Ausdruck kommt. Aus der Forderung bewusster Selbstaufgabe ergibt sich eine weitere Unvereinbarkeit des koranischen Konzepts mit dem biblischen: die Frage betreffend, ob dem Menschen von Gott die Freiheit der Entscheidung zugestanden wird. Schon frühe jüdische und christliche Quellen weisen auf diesen Unterschied zwischen biblischem und islamischem Denken hin, etwa der Dialog des Johannes von Damaskus mit einem Sarazenen, ein christlicher Text aus dem 8.Jahrhundert. Der Christ Johannes von Damaskus erklärt den biblischen Standpunkt, wie in 5 Moses 30, 19 dargelegt: dass Gott dem Menschen die „freie Wahl“ zwischen dem Guten und dem Bösen überlassen hätte.
Direkte Folge einer religiös motivierten Hoffnungslosigkeit ist die Vernachlässigung des individuellen Menschenlebens
Darüber zeigt sich sein muslimischer Gesprächspartner erstaunt: nach seinem Dafürhalten sind alle Handlungen der Menschen, gute wie böse, bis ins Detail von Allah vorherbestimmt. Sein Erstaunen reflektiert die Haltung der orthodoxen islamischen Theologie. Das Gegenargument des Johannes war, dass der Mensch, falls ihm Gott nicht freien Willen zugestanden hätte, auch nicht für seine Untaten verantwortlich gemacht werden könne. „Dann würden auch alle menschlichen Pläne und Bemühungen um Verbesserung und Fortschritt vergeblich sein“, heißt es dazu summarisch in der Lehre Buddhas, die den jüdisch-christlichen Standpunkt teilt und den islamischen verwirft. „Es ist kein Wunder, dass Menschen, die dieser Vorstellung verhaftet sind, alle Hoffnung verlieren und ihre Bemühungen vernachlässigen, weise zu handeln und Böses zu vermeiden“.
Direkte Folge einer religiös motivierten Hoffnungslosigkeit ist die Vernachlässigung des individuellen Menschenlebens, zunächst der Qualität des Lebens, dann des Lebens selbst. Sie zeigt sich nicht nur in den Selbstmordattentätern, die sich offenbar freudig für eine in unseren Augen sinnlose Sache opfern wie das Zünden von Bomben und Töten anderer Menschen (Muslime wie „Ungläubige“), sondern – noch unbegreiflicher – in der seltsamen Schicksalsergebenheit großer Menschenmassen, die über Jahrhunderte despotische Herrscher, Gewalt und Korruption, ein Leben in Elend und Bevormundung ohne Widerstand erduldet haben.
In der Geringschätzung des eigenen Lebens liegt nach biblischer Vorstellung eine Missachtung der Werke des Schöpfers. Daher wird in der Bibel der Selbstmord abgelehnt: unter Berufung auf 1 Moses 9,5 gilt Selbsttötung als Tötung menschlichen Lebens, der Selbstmörder folglich – von wenigen Ausnahmefällen abgesehen – als Mörder. Im Islam wird dagegen für ein mit der Tötung anderer Menschen verbundenes Selbstopfer „gewaltiger Lohn“ verheißen, es wird sogar einem Sieg gleichgesetzt (Sure 4,74). Diese Art Märtyrertum, shahid, ist mit dem biblischen Menschenbild unvereinbar, auch wenn es im Christentum, vor allem in seiner frühen Phase, zahlreiche Martyrien gegeben hat: sie galten jedoch nicht, wie im Islam, der Tötung anderer, sondern waren, im Gegenteil, zu deren Rettung gedacht.
Das Martyrium des shahid ist die intimste Form des Menschenopfers. Die Geringschätzung des eigenen Lebens impliziert die Geringschätzung von menschlichem Leben überhaupt, das Selbstopfer verschafft dem Opfernden eine Pseudo-Legitimation zum Opfern anderer. Diese Haltung wird vom Koran gepriesen. Im Gegensatz dazu lehnt der Gott der Bibel jegliches Menschenopfer ab. Als Abraham seinem Gott den eigenen Sohn opfern wollte, eine in der Alten Welt übliche Praxis, sandte der biblische Gott einen Engel, um ihn daran zu hindern (1 Moses 22, 1-19). Hierin lag die erste revolutionäre Botschaft der Bibel, der Grundstein des humanen Zeitalters. Mit der Belohnung des shahid – zumal, wo es mit der Tötung anderer verbunden ist – hat der Islam die Rückkehr zum Menschenopfer vollzogen und den humanen Ansatz der Bibel aufgehoben.
In der nächsten Folge: Die geringe Wertschätzung des einzelnen Menschenlebens liegt im jihad begründet, dem der islamischen Glaubensgemeinschaft gebotenen heiligen Kampf zur weltweiten Durchsetzung des Islam
Chaim Noll ist ein deutsch-israelischer Schriftsteller.