Chaim Noll / 06.09.2016 / 15:53 / Foto: Christopher Michel / 0 / Seite ausdrucken

Nähe und Unvereinbarkeit von Bibel und Koran (4)

Von Chaim Noll.

Im Islam sind text-analytische Ansätze traditionell behindert. Der Prophet selbst hat vor derlei „Mutwillen“ gewarnt: „Und wenn du solche siehst, die über unsere Zeichen grübeln, so wende dich von ihnen ab.“ (Sure 6,68) Mohameds Freund und Nachfolger (im Amt des ersten Khalifen) Abu Bekr wird der Spruch zugeschrieben: „Wie könnte mich die Erde tragen oder der Himmel beschatten, wenn ich über den Koran nach meiner subjektiven Meinung spräche, als über etwas, wovon ich nichts verstehe.“ Noch strikter lehnt der maßgebliche Theosoph at-Tirmidi jede nicht durch muslimische Autoritäten gebilligte Beschäftigung mit den „heiligen Texten“ ab: „Wer den Koran nach Gutdünken erklärt, ist dadurch ein Ungläubiger.“

Das Menschenbild: „Gott ist gütig gegen alle, und sein Erbarmen waltet über all seinen Geschöpfen“, heißt es in Psalm 145,9. In dieser Textstelle wird – stellvertretend für viele – das entscheidende Kriterium des biblischen Menschenbildes ausgesprochen: die Gleichwertigkeit aller Menschen vor dem Schöpfer. Das Volk der Bibel hält sich nicht für besser oder moralischer als andere Völker und Religionen. Die hebräische Bibel versucht nirgendwo, Israel zu glorifizieren. Eher das Gegenteil: alle seine Schwächen und Verfehlungen werden in einer manchmal erschreckenden Offenheit dargestellt.

Die „Erwähltheit“ des biblischen Volkes ist als Verpflichtung gemeint, als kritischer Anspruch an sich selbst, nicht als Erhöhung über andere. Der Text betont, dass die Flüchtlinge aus Ägypten, die am Berg Sinai das Gesetz empfingen, nur zu einem Teil Hebräer waren, zum anderen Teil Unterdrückte und Verzweifelte anderer Völker, die sich ihnen angeschlossen hatten, im hebräischen Original erev rav (a mixed multitude in der King James Bible, fremdes Volk in der Luther-Bibel), und diese Fremden „stiegen mit Israel auf“, wie das Verb alah im Hebräischen wörtlich meint, sie nahmen das Gesetz an wie die Hebräer, und schon von daher ist das Sein und Wesen Israels seit seiner eigentlichen Geburtsstunde mit Fremden verbunden.

Den Fremden sollt ihr nicht bedrücken, heißt es immer wieder in den Mosaischen Büchern, denn ihr seid selbst Fremde gewesen in Ägypterland. Die für die Völker der alten Welt unübliche Wertschätzung des „Anderen“ – gemeint im Sinne von „Anderssein“ – begann bei den Frauen. Die zunächst in 1 Moses 3,16 ausgesprochene, von den frühen Völkern als „gottgewollt“ angesehene Superiorität des Mannes gegenüber der Frau wird schon wenig später im selben Buch für die hebräischen Patriarchen korrigiert. In der Abraham-Sarah-Geschichte wird dem Stammvater von seinem Gott geboten, fortan auf seine Frau zu hören: „In allem, was dir Sarah sagt, höre auf ihre Stimme“ (1 Moses 21,12). Die Aufforderung erfolgt in derselben sprachlichen Formel – im Hebräischen sh’ma b kolah – mit der sonst geboten wird, auf das Wort Gottes oder seiner Sendboten zu hören.

Die Unterwerfung der Frau konnte sie nicht mehr für „gottgewollt“ erklärt werden

Von da an ist in der biblischen Sphäre die Unterwerfung der Frau unter den Willen des Mannes aufgehoben, zumindest in Frage gestellt. Wo sie dennoch gesellschaftliche Gepflogenheit blieb, konnte sie jedenfalls nicht mehr für „gottgewollt“ erklärt werden. Die Behauptung der Gottgewolltheit eines solchen Vorrechts wird in der Bibel nirgendwo mehr erhoben. Zwei Stellen im Neuen Testament, in Briefen des Paulus, die einen Aufruf zur Unterordnung der Frau enthalten, berufen sich gleichfalls nicht auf Gottes Wort, sondern geben ausdrücklich die Ansicht des Apostels wieder.

Auch über den Fremden oder Andersgläubigen besteht nach biblischem Verständnis kein gottgewolltes Vorrecht des „Gläubigen“ – so wie kein gottgewolltes Vorrecht des Mannes gegenüber der Frau besteht. Beide Relationen werden oft im biblischen Text verknüpft, das Verhältnis zu den Fremden und das zu den Schwächeren im eigenen Volk, zu den Frauen und Kindern, den ökonomisch Abhängigen und Unfreien, meist in der Metapher ihrer ohnmächtigsten, schutzbedürftigsten Gruppe, der „Witwen und Waisen“.

Im Besonderen wird in der Bibel das Verhältnis zu denen geregelt, die anderen Glaubens sind. Schon zu antiken Zeiten lebten sie zahlreich unter den Juden, als „dein Fremder, der in deinen Toren wohnt“ und wurden (und werden bis heute) in jüdische Segenssprüche eingeschlossen, sogar in den Shabat-Segen. Die biblische Toleranz gegenüber allen Andersgläubigen wird im Buch des Propheten Micha 4,5 verbindlich formuliert: „Mag jedes Volk im Namen seines Gottes wandeln, während wir im Namen unseres Gottes wandeln werden für immer“. Der Bund des biblischen Volkes mit Gott gilt nur für die, die durch Geburt darin einbezogen sind oder sich freiwillig anschließen, die übrige Menschheit mag andere Zugänge zu Gott oder Göttern finden, sie gilt als gerechtfertigt durch die noachidischen Gesetze oder die Disziplin ihrer jeweiligen Religionen.

Unter Berufung auf andere Stellen der hebräischen Bibel ermutigt das Neue Testament zu einer friedlichen Mission unter Andersgläubigen. Diese entwickelte sich aus ihren noch ganz auf inner-jüdische Mission bezogen Anfängen zu jenem „Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker“ (Matthäus 28,19). Alle der Mission geltenden Textstellen im Neuen Testament meinen ohne Zweifel die Bekehrung von Individuen, nicht ihre massenhafte Unterwerfung oder das Erobern von Gebieten. Der Text der Evangelien äußert keine Drohungen oder Strafen gegenüber denen, die sich der Bekehrung entziehen. Missbräuche seitens der Kirchen ändern nichts an der ursprünglichen christlichen Idee einer spirituellen Überzeugungsarbeit ohne gewaltsamen Nachdruck.

In der nächsten Folge: Das Konzept des Koran vom menschlichen Zusammenleben ist eine klare, sozusagen heilige Hierarchie, eine Unterteilung der Menschheit in zwei Klassen.

Chaim Noll ist ein deutsch-israelischer Schriftsteller.

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