Von Chaim Noll.
Als Europäer stehen wir im Bann von Lessings berühmter Ring-Parabel, welche die drei monotheistischen Konzepte Judentum, Christentum und Islam drei einander zum Verwechseln ähnlichen Ringen vergleicht und in dieser Metapher die tiefen Gegensätze und Widersprüche zwischen ihnen zu relativieren sucht. Da sie alle drei einander zum Verwechseln ähnlich sind, so die Logik der Ring-Parabel, könne es sich bei den in ihrem Namen ausgefochtenen Konflikten und Kriegen nur um Missverständnisse handeln, die durch geistigen Austausch, Aufklärung und Toleranz zu überwinden sind.
Die Ring-Parabel nimmt ihre Legitimation aus dem gemeinsamen Ursprung der drei monotheistischen Religionen aus einer nahöstlich-nomadischen Welt, symbolisiert in der Gestalt des biblischen Patriarchen Abraham, eines Flüchtlings aus dem babylonischen Ur, wandernden Herdenfürsten und Propheten, auf den sich alle drei Religionen als Urvater berufen. Aus diesem Grund und wegen ihrer weltweiten Wirkung ist es üblich geworden, Judentum, Christentum und Islam summarisch als die „drei abrahamitischen Religionen“ zu bezeichnen.
Diese Sicht hat sich das moderne, weitgehend säkulare Europa des 19.und 20. Jahrhunderts zu eigen gemacht. Die Kategorie „abrahamitische Religionen“ bedeutet eine Pluralisierung, damit auch relative Entwertung. Wie sich in Lessings Ringparabel nicht ermitteln lässt, welcher der drei Ringe der echte, ursprüngliche ist, soll folglich auch keine der drei Religionen die wahre, ursprüngliche sein. Und da keine der drei Religionen die wahre, ursprüngliche ist, meinte man sie fortan in einem Plural zusammenfassen zu können, der ihre tiefgreifenden Unterschiede verwischt.
Bei genauerem Hinsehen erweist sich Lessings Parabel von den drei gleichen Ringen als verfehltes Bild. Die Metapher von den drei Ringen, die einander zum Verwechseln ähneln, so dass sich angeblich nicht mehr feststellen ließe, welcher der ursprüngliche war und welcher der nachgeahmte, ist schon deshalb falsch, weil bei den drei in Frage stehenden Religionen ganz zweifelsfrei eine Reihenfolge ihrer Entstehung und damit der Originalität ihrer Ideen feststellbar ist.
Das Judentum ist der erste in der historischn Reihenfolge
Schon von daher sind die „drei abrahamitischen Religionen“ von Grund auf verschieden: das Judentum ist in der Reihenfolge die erste, das Christentum die zweite, unmittelbar aus dem Judentum hervorgegangene – Jesus war Jude – , während der Islam eine wesentlich spätere, außerhalb oder am Rand der jüdisch-christlichen Sphäre entstandene Bewegung ist, deren Textwerk, eine Sammlung von Gesängen, genannt Koran, sich der beiden vorhergegangenen bedient und zugleich ihre Vertreter bekämpft.
Die über Jahrtausende auseinander liegende Entstehungszeit der drei Religionen ist ein weiterer Grund, die Konklusionen der Ring-Parabel zu bezweifeln. Noch in der Renaissance-Version dieser uralten, seit der Spätantike bekannten Erzählung, in der Novellensammlung „Decamerone“ des Italieners Boccaccio, war die Ring-Parabel nichts als ein listiges „Geschichtchen“ (im italienischen Original „una novelletta“), mit dem sich ein reicher alexandrinischer Jude einer Fangfrage des Sultans Saladin zu entziehen suchte. Erst durch Lessings Adaption wurde sie zu einem fundamentalen Axiom modernen europäischen Denkens.
Bibel und Koran sollen in dieser Serie in gebotener Kürze und Konzentration unter folgenden Aspekten gegenüber gestellt werden: Genealogie, Textstruktur, Menschenbild, das Verhältnis zu Krieg und Frieden, der im Text dargestellte anthropologische Prozess.
Der Koran ist zu weiten Teilen Bibel-Exegese
Zur Genealogie: Der Koran ist mehr als ein Jahrtausend nach der hebräischen und fünf bis sechs Jahrhunderte nach der christlichen Bibel entstanden, in einer Umgebung, die bereits weitgehend von biblischem Denken geprägt war. Der Überlieferung nach lebte und wirkte Mohamed am Rande des oströmischen Reiches, das rund drei Jahrhunderte zuvor das Christentum als Staatsreligion angenommen hatte, in geographischer Nähe zu den Zentren der byzantinischen und syrischen Kirche einerseits und den großen talmudischen Schulen des babylonischen Judentums, Sura und Pumbedita, andererseits. Der Inhalt der Bibel war ihm bekannt, er war mit Christen und Juden in alltäglichem Kontakt und sprach als Kaufmann aramäisch, die lingua franca der antiken nahöstlichen Welt, zugleich die Sprache, in der sowohl die Werke der syrischen Kirche als auch der babylonische Talmud geschrieben wurden.
Vielleicht behauptet deshalb der Hadit, die Sammlung der Berichte über Worte und Taten Mohameds, dass der Prophet Analphabet gewesen sei: um den bereits im Umfeld Mohameds erhobenen Vorwurf, es handle sich beim Koran um ein Plagiat, von vornherein zu entkräften. Dieses Wort ist dennoch immer wieder gefallen, gerade in den Untersuchungen von Kennern der hebräischen, griechischen, aramäischen und arabischen Originaltexte, auch in neuerer Zeit, etwa in Franz Rosenzweigs Buch „Der Stern der Erlösung“.
Der Koran ist zu weiten Teilen Bibel-Exegese. Er beschäftigt sich ganze Suren hindurch mit biblischen Figuren und erzählt ihre aus der Bibel bekannten Geschichten nach, wobei talmudische Midrashim oder christliche Legenden einfließen. Nacherzählt, paraphrasiert oder leitmotivisch erwähnt werden Lebensweg, Taten und Bedeutung von Adam, Noah, Abraham, Isaak und Jakob, in einer ganzen Sure von Joseph, in einem summarischen Abschnitt von Moses und Aharon, dann nochmals von Abraham und Noah, David, Salomon, Hiob, Jona und Sachariah, in einer eigenen Sure wiederum von David, in einer anderen nochmals ausführlich von Moses, Lot, Elias und noch anderen Gestalten der hebräischen Bibel. Auch aus den christlichen Evangelien übernahm Mohamed auf diese Weise Erzählstoff und Personen, etwa Jesus, Johannes und Maria.
Nähme man vom Koran alles hinweg, was biblischer Stoff, jüdisch-talmudisches oder christlich-theologisches Denken ist, bliebe nur noch ein schmaler Text übrig. Fast alles, was der Koran an Fakten mitteilt, ist biblischer Stoff. Wie ist bei dieser Abhängigkeit von jüdisch-christlichem Gedankengut die antijüdische und antichristliche Polemik des Textes zu erklären, die ein stilistisches Leitmotiv der 114 Suren bildet?
In der nächsten Folge: Mohameds Version der monotheistischen Botschaft gab den nomadischen Beduinenstämmen der arabischen Wüste eine Selbstgefühl schaffende, einende Identität.
Chaim Noll ist ein deutsch-israelischer Schriftsteller.