Nachdem sich die Aufregung um Prigoschins „Marsch der Gerechtigkeit“ gelegt hat, findet sich die Ukraine in der Realität auf dem Schlachtfeld wieder. Und die sieht alles andere als erbauend aus.
Die Welt hielt den Atem an, als sich die Truppen der Gruppe Wagner Moskau näherten. Indem Prigoschins Söldner wie eine Dampfwalze jegliche Gegenwehr aus dem Weg räumten, ließen sie das russische Militär kraftlos und desorientiert wirken. Die Gunst der Stunde wollte Kiew für sich nutzen. Und ging an mehreren Frontabschnitten zum Angriff über. Infolgedessen haben vor allem die Kämpfe in Saporischschja und im Süden der Region Donezk erheblich an Intensität gewonnen. Immer häufiger dringen die ukrainischen Streitkräfte hier in die russische Verteidigung ein. Die Russen wiederum versuchen, dies durch Gegenangriffe zu unterbinden. Dass ihnen dies vielfach gelingt, ist kein Zufall. Längst hat Moskau strategische Reserven aus Cherson herangeführt. Ihr Ziel ist es, die Ukrainer noch vor den Hauptverteidigungslinien zu stoppen.
Obwohl das ukrainische Militär seit vier Wochen kontinuierlich vorrückt, fällt seine Bilanz doch bescheiden aus. Der stellvertretenden Verteidigungsministerin Hanna Maljar zufolge hatte es zum 19. Juni 2023 insgesamt acht Siedlungen befreit: Nowoworowka, Lewadne, Storoschewo, Makarowka, Blagodatnoje, Lobkowje, Neskutschnoje und Pjatschatki. In einer Tiefe von 7 Kilometern umfasste das eroberte Gebiet 113 Quadratkilometer. Hinzu kommen die vor einer Woche gestarteten Vorstöße bei Bachmut, der unlängst am rechten Dnjeprufer errichtete Brückenkopf sowie eine neue Fronteinbuchtung nördlich von Tokmak.
Aus Kiews Sicht mögen diese Erfolge zu weiteren Aktionen anspornen. Das gilt vor allem nach dem monatelangen Stillstand der vergangenen Monate. Eine nennenswerte Signifikanz für das globale Kriegsgeschehen haben sie jedoch nicht. Das weiß man auch im ukrainischen Verteidigungsministerium. Besonders die Lage in Lugansk und Norddonzek sorgt für Unruhe. Das russische Militär hat hier zuletzt starke Gegenangriffe vorgetragen. „Der Feind hat seine Truppen zusammengezogen, rückt aktiv in Richtung Liman und Kupjansk vor und versucht, uns die Initiative zu entreißen. Es wird ein hoher Grad an feindlichem Beschuss verzeichnet. Intensive Kämpfe halten an. Unsere Truppen hindern den Feind am Vormarsch“, kommentierte Maljar die unübersichtliche Situation.
Diese Berichte sind auch vom russischen Verteidigungsministerium bestätigt worden. Konkret war von aktiven Vorstoßversuchen der ukrainischen Streitkräfte in den südlichen Regionen Donezk, Saporischschja und Donezk die Rede. Der Sprecher des Ministeriums, Igor Konaschenkow, sagte, die ukrainischen Streitkräfte hätten vier Angriffe in Richtung Donezk, drei Angriffe auf den Außenposten Wremja an der Grenze zwischen den Regionen Saporischschja und Donezk sowie zwei Angriffe im Gebiet Malaja Tokmatschka in der Region Saporischschja zurückgeschlagen.
Höhere Verluste
Nach Angaben des Verteidigungsanalyseportals Oryx, das auf der Grundlage verifizierter Fotos und Videos die Ausrüstungsverluste auf beiden Seiten berechnet, hat Russland seit Anfang Juni 2023 wenigstens 129 Fahrzeuge, darunter 32 Panzer, verloren. Die Ukraine hat nach den Berechnungen von Oryx 155 Ausrüstungsgegenstände verloren, darunter 24 Panzer. In diesem Zusammenhang hat sich die westliche Berichterstattung zuletzt als lückenhaft erwiesen. Wie die Neue Zürcher Zeitung in einem Beitrag vom 1. Juli 2023 darlegte, beliefen sich die ukrainischen Verluste bei gepanzerten Fahrzeugen auf weit höhere Zahlen, als man aus offiziösen Quellen habe vernehmen können.
Die hohe Ausfallquote sei vor allem eine Folge der dicht gestaffelten russischen Verteidigung und einer klugen Abwehrtaktik. Die Ukrainer seien immer wieder in Fallen getappt. Bei einem Angriff vom 8. Juni 2023 im Raum Robotine seien insgesamt 17 Schützenpanzer des Typs Bradley, 4 Leopard 2 A6 sowie 3 Leopard 2R Minenräumpanzer verloren gegangen. Auch wenn die Ukraine das Gros ihrer Kampfbrigaden noch immer in der Etappe hält, lässt sich vier Wochen nach dem Beginn der Offensive ein Zwischenfazit ziehen. Demnach ist es nicht gelungen, einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen. Das Offensivpotenzial ist zu schwach, um die feindlichen Linien zu durchbrechen.
Andererseits sind nach anfänglicher Unklarheit nun zumindest das Gesamtbild der Kampfhandlungen und die Stoßrichtung von Kiews Offensivbemühungen klar geworden. Demnach greifen die ukrainischen Streitkräfte die erste russische Verteidigungslinie in verschiedenen Abschnitten der Frontlinie an, und zwar von der Stadt Wasyliwka am Ufer des Kachowka-Stausees bis zum westlichen Teil der Region Donezk. In mehreren Gebieten ist es dem ukrainischen Militär gelungen, vorzurücken und verschiedene Siedlungen zu besetzen. Darunter sind auch solche, die der russischen Armee als Festungen dienten.
Gleichzeitig halten die Pressionen der ukrainischen Einheiten nördlich und südlich von Bachmut unvermindert an. Mehrfach schon hat Kiew seine Absicht bekundet, die Stadt einzukesseln. Dies hat den russischen Generalstab dazu gezwungen, neue Reserven in die Region zu verlegen. Ebenfalls gibt es Berichte über eine Verstärkung der ukrainischen Streitkräfte am rechten Ufer des Dnjepr bei Nowaja Kachowka. Die russische Armee tritt dem entgegen, indem sie ein eigenes Angriffspotenzial bildet, das für Vorstöße in Richtung Kupiansk und Limansk gedacht ist. Gleichzeitig sind Moskaus Truppen bemüht, die Ukrainer aus den Donezker Vororten Awdijiwka und Marinka zu verdrängen, die Kiew zuletzt als Hochburgen gedient hatten. Nichtsdestoweniger hat die Ukraine ihr Hauptaugenmerk auf das Gebiet Saporischschja gerichtet, wo seit Anfang Juni heftige Kämpfe stattfinden und die Lage vielfach widersprüchlich und unübersichtlich aussieht.
Ist die „Surowikin-Linie“ unüberwindlich?
Aus russischer Sicht stellt sich die Gesamtlage deutlich günstiger dar, wobei es auch hier teilweise erhebliche Probleme gibt. Da die Mittel für offensive Operationen im Süden der Ukraine nicht ausreichen, hat sich Moskau seit dem letzten Jahr auf die strategische Verteidigung in diesem Gebiet verlegt. Angesichts der enormen Länge der Frontlinie in den Regionen Cherson, Saporischschja und einem Teil der Oblast Donezk – die über 450 Kilometer beträgt, sofern man die Mündung des Dnjepr bis zum Gebiet von Wolnowacha mitzählt – stützte sich das russische Militär auf eine natürliche Wasserbarriere an der westlichen Flanke und auf starke Verteidigungsanlagen an der von Panzern bedrohten Ostflanke.
Diese Befestigungen, die informell als „Surowikin-Linie“ bezeichnet werden, umfassen ein ausgedehntes Netz von Schützengräben, Unterständen, Panzerabwehrgräben, Betonbunkern und anderen Befestigungen sowie umfangreiche Minenfelder. Insgesamt gibt es mindestens drei Verteidigungslinien, die nicht überall parallel zueinander verlaufen und jeweils eine andere Funktion haben.
Die erste Linie, die entlang der Achse Kamenskoje – Rabotino – Polohy – Staromlinowka – Volnowacha verläuft, dient als Operationszone. Dort ist die Zahl der verteidigenden Truppen relativ gering, aber es gibt hier die meisten und dichtesten Minenfelder, die oft das gesamte Gebiet übersäen. Für die Ukrainer ist das ein riesiges Problem. Der Zweck der ersten Verteidigungslinie besteht darin, den Vormarsch des Feindes zu stoppen oder zumindest zu verzögern. Greift er in großer Zahl an, gilt es, durch das Anlegen zusätzlicher Minenfelder und die Ausrichtung des Artillerie- und Flugzeugfeuers maximalen Schaden anzurichten und die Stellungen und Befestigungen möglichst lange zu halten.
Im Detail stellt sich diese Taktik folgendermaßen dar. Immer wenn den Ukrainern Vorstöße gelingen, beginnen die Russen mit der Verminung des rückwärtigen Gebiets. Hierzu kommen spezielle Minenwerfer zum Einsatz, die bis zu 15 Kilometer ins Hinterland reichen. Sobald die vorstoßenden ukrainischen Verbände in ihren schmalen Korridoren durch die weitverzweigten Minenfelder festsitzen, werden sie von der Artillerie und der Luftwaffe attackiert. Die Folgen dieser Taktik sind katastrophal und haben den ukrainischen Brigaden enorme Verluste beschert. Auf diese Weise will Moskau ihnen die Möglichkeit nehmen, einen Brückenkopf für den Angriff auf die zweite Verteidigungslinie zu bilden. Bislang ist dies in geradezu mustergültiger Weise gelungen.
Minenfelder sind ein Problem für beide Seiten
Intendiert ist auch, die vorrückenden ukrainischen Einheiten ausbluten zu lassen, so dass sie nach dem Durchbruch der ersten Verteidigungslinie nicht mehr über genügend Kraft und Ressourcen verfügen, um die zweite Haupkampftlinie zu stürmen, wo der Großteil der Kampfausrüstung und des Personals stationiert ist. Sollte sich ein Durchbruch dennoch nicht verhindern lassen, bliebe die dritte Abwehrlinie.
Die schiere Unüberwindlichkeit von Befestigungen wie der Surowikin-Linie ist eine Tatsache. Offensichtlich waren sich die ukrainischen Generäle, die sich auf eine Großoffensive vorbereiteten, dessen bewusst und wussten um die Gefahr, sich mit großen Truppen an der ersten Linie zu verzetteln. Statt eines entscheidenden Großangriffs, auf den viele Sympathisanten der Ukraine gehofft hatten, beschloss Kiew, die russischen Verteidigungsanlagen in Saporischschja und Teilen des Gebiets Donezk schrittweise zu knacken. In der ersten Phase der Operation wurden relativ kleine Truppen eingesetzt, allerdings entlang der gesamten Front. Damit verfolgten die ukrainischen Streitkräfte wahrscheinlich mehrere Ziele.
Erstens versuchten sie, die Verteidigung der russischen Armee zu dehnen und ihre Logistik zu erschweren. Gegenwärtig ist die Frontlinie so beschaffen, dass sich die ukrainischen Truppen innerhalb des Konditionierungskreises befinden, während die russischen Truppen an dessen Außenseite stehen. Zumindest theoretisch spielt diese Konstellation den ukrainischen Streitkräften in die Hände. Denn aufgrund ihrer kurzen logistischen Versorgungswege können sie viel leichter und schneller manövrieren und Munition und Ausrüstung an die Frontlinie bringen als die russische Armee.
Zweitens schneiden die kleinen Ausbuchtungen, die sich aus dem langsamen Vormarsch der Ukraine ergeben, in die russische Verteidigung ein, verbreitern sich allmählich und nähern sich ihrer zweiten Linie. Dadurch könnten die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die Hauptstreitkräfte das Schlachtfeld betreten können.
Der Abwehrkampf erweist sich für die Russen aber auch aus einem anderen Grund als große Herausforderung. Die zahlreichen Minenfelder vor der ersten Linie erschweren nicht nur den Gegenangriff, sondern auch ihre aktive Verteidigung. Flankenmanöver sind wegen der Minen oft nicht möglich; und Versuche, ukrainische Einheiten aus den von ihnen besetzten Gebieten zu vertreiben, beschränken sich entweder auf frontale Gegenangriffe oder Artilleriefeuergefechte.
Die größere Last der Ukraine
Wegen der großen Länge der Verteidigungslinien ist die russische Führung gezwungen, rechtzeitig Reserven in die bedrohten Gebiete zu verlegen. Dabei muss sie diese sparsam einsetzen, um gleichzeitig andere Frontabschnitte nicht zu entblößen. Mittlerweile gibt es zahlreiche Berichte über russische Einheiten, die in der zweiten Verteidigungslinie in Gefechte verwickelt sind. Dabei handelt es sich um dieselben Einheiten, die nach Angaben der russischen Führung den Hauptangriff der ukrainischen Panzerfahrzeuge und der am besten ausgebildeten Einheiten Kiews abwehren sollen.
Trotz allem hat die ukrainische Armee eine weitaus größere Last zu schultern. Sie muss mit den klassischen Verlusten rechnen, die eine Offensive mit sich bringt. Hinzu kommt ihre Unfähigkeit, sich der russischen Luftüberlegenheit entgegenzustellen. Noch nie im Zeitalter der industriellen Kriegführung hat ein Angreifer feindliche Festungen ohne Luftunterstützung angegriffen.
Bei all dem muss Kiew tunlichst darauf achten, sowohl die militärische Initiative als auch das Rückgrat seiner Streitkräfte zu bewahren. Sollte es unter ihnen zu erheblichen Verlusten kommen, wäre der Plan, die russische Hauptverteidigungslinie zu durchbrechen, unerreichbar. Darüber hinaus reicht es nicht aus, wenn die Ukraine die „Surowikin-Linie“ in einem einzigen Gebiet durchbricht, da in diesem Fall die Richtung des Angriffs für den Feind offensichtlich wäre. Stattdessen müsste ein Durchbruch in wenigstens drei oder vier Richtungen gelingen. Und selbst das wäre noch keine Garantie für einen Erfolg der Ukraine.
Stattdessen gilt: Je länger sich Kiew an den russischen Verteidigungsanlagen die Zähne ausbeißt, desto mehr schließt sich das Zeitfenster der Sommerperiode. Sollte es ihr nicht gelingen, bis Anfang September signifikante Erfolge an der Front zu erzielen, dürften die Kampfhandlungen erstarren. Angesichts der bisherigen, eher bescheiden ausfallenden ukrainischen Offensiverfolge sowie im Hinblick auf die hohen materiellen Verluste scheint ein solches Szenario sehr wahrscheinlich. Was auch immer Kiew für den Juli 2023 plant, müssen die erzielten Leistungen weit über die des Juni hinausgehen.
Christian Osthold ist Historiker und als Experte für Tschetschenien und den Islamismus tätig. Darüber hinaus befasst er sich mit islamisch geprägter Migration sowie dem Verhältnis der Politik zum institutionalisierten Islam in Deutschland.