Alex Feuerherdt / 07.07.2015 / 23:07 / 22 / Seite ausdrucken

Mythos Wirtschaftswunder und die Schulden der Griechen

Einer der hartnäckigsten politischen (und ökonomischen) Mythen in Deutschland ist zweifellos der vom »Wirtschaftswunder« nach dem Zweiten Weltkrieg. Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen wird der unerwartete ökonomische Aufschwung in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts gerne damit (v)erklärt, dass die Bevölkerung sich nach dem erzwungenen Ende des »Dritten Reiches«, durch das ihr Land zu großen Teilen in Trümmer gelegt worden sei, brav und fleißig an die Aufräum- und Wiederaufbauarbeiten gemacht und so im Schweiße ihres Angesichts »die Wirtschaft« wieder in Schwung gebracht habe, was verdientermaßen in erklecklichen Wohlstand gemündet sei.

Vergessen wird dabei vor allem eines: dass dieser Wohlstand nicht zuletzt »auf der kontinuierlichen Verwertung von Profiten aus dem Nationalsozialismus« beruhte, wie Jörg Rensmann im 2003 erschienenen Buch »The Final Insult« schrieb.* »Man halluzinierte sich«, so der Politikwissenschaftler weiter, »ein ›Wirtschaftswunder‹, dessen materielle Grundlage gleichzeitig verdrängt wurde, nämlich die Profite aus ›Arisierung‹ und Zwangsarbeit«. Hinzu kommt, dass 80 bis 85 Prozent der Produktionsanlagen intakt geblieben waren und die Gesamtkapazität jene der Vorkriegszeit weiterhin übertraf. Man kann also nicht sagen, dass Vernichtungskrieg und Holocaust sich gerächt hätten, schon gar nicht in puncto Prosperität.

Zumal da noch das Londoner Schuldenabkommen von 1953 war, mit dem 65 Staaten – darunter Griechenland – der Bundesrepublik einen Großteil ihrer Verbindlichkeiten erließen und so erheblich zum ökonomischen Aufstieg Westdeutschlands beitrugen. Es ging dabei um die Vorkriegslast – größtenteils nicht geleistete Reparationszahlungen nach dem Ersten Weltkrieg – und um die Nachkriegsschulden, bei denen es sich vor allem um Zahlungen aus dem Marshall-Plan und um alliierte Kredite für Wirtschaftshilfe unmittelbar nach dem Krieg handelte.

Trotz des Verzichts der Gläubigerstaaten auf entgangene Zinszahlungen ab 1934 ergab sich eine Gesamtschuld von rund 30 Milliarden Mark, bei einer westdeutschen Wirtschaftsleistung von 70 Milliarden Mark. »Unmöglich zu erfüllen«, befand der deutsche Verhandlungsleiter Hermann Josef Abs, der während des Nationalsozialismus im Vorstand der Deutschen Bank mit der »Arisierung« von Unternehmen und Geldinstituten, die Juden gehörten, beauftragt war. Die Gläubiger reduzierten die deutschen Auslandsverbindlichkeiten schließlich um über 50 Prozent, senkten die Zinsen massiv und streckten die Schulden bis zum Jahr 1988.

Der Erlass wurde nicht von der Umsetzung von Austeritätsprogrammen abhängig gemacht, sondern sah wachstumsfördernde Maßnahmen vor. Deutschland sollte die Rückzahlungen aus seinen Exporteinnahmen decken können und nicht durch die Aufnahme neuer Schulden.

Kein Bestandteil des Londoner Abkommens waren die Reparationen für die von Deutschland besetzten Länder. Diese Zahlungen sollten nach einer deutschen Wiedervereinigung in einem Friedensvertrag geregelt werden, sie wurden also gestundet. Auch die millionenschweren Zwangskredite, die das Deutsche Reich dem besetzten Griechenland abgepresst hatte, um damit vor allem den Krieg im östlichen Mittelmeer zu finanzieren, standen nicht zur Debatte.

Hagen Fleischer, Historiker an der Universität Athen, bezeichnet die deutsche Besatzung in Griechenland als »eindeutig die blutigste von allen nicht-slawischen Ländern«. In einem Beitrag des ARD-Magazins Kontraste bilanzierte er: »Weit über 30.000 exekutierte Zivilisten, darunter auch viele Frauen und Kinder. Systematisch zerstörte Infrastruktur und Wirtschaft. Plünderorgien, vom Raubbau in den Bergwerken, die für die deutsche Seite interessant war, bis hin zum Abtransport von Olivenöl und von Lebensmitteln. Und daraus resultierten die mindestens 100.000 Hungertoten vom ersten Besatzungswinter.«

Als die Mauer fiel, standen die deutschen Kriegsschulden wieder auf der Agenda. Doch die Bundesregierung wollte sich vor Reparationszahlungen unbedingt drücken. Außenminister Hans-Dietrich Genscher habe deshalb »sämtlichen Botschaften ein geheimes Rundschreiben zugeschickt, wie man die jetzt vermutlich aufkommenden Entschädigungsansprüche abwimmeln sollte«, sagt Historiker Fleischer. In diesem Schreiben hieß es unter anderem: »Kommt es nicht zu Verhandlungen über einen formellen Friedensvertrag, so könnten wir darlegen, dass sich […] keine Notwendigkeit ergibt, die Frage der Reparationen aufzugreifen.«

Also gab es offiziell keinen Friedens-, sondern einen »Zwei-plus-Vier-Vertrag« zwischen der Bundesrepublik, der DDR und den großen Siegermächten, in dem kein Wort über Entschädigungen und Zwangskredite verloren wurde. Griechenland durfte nicht mitreden und war darüber begreiflicherweise alles andere als begeistert. In einer diplomatischen Note forderte die griechische Regierung deshalb im Jahr 1995 Verhandlungen über die Rückzahlung der Zwangsanleihe, wurde aber mit den Worten abgekanzelt, »nach Ablauf von 50 Jahren nach Kriegsende« habe »die Reparationsfrage ihre Berechtigung verloren«. Heute sagt Vizekanzler Sigmar Gabriel: »Wir haben eine klare rechtliche Antwort auf solche Forderungen, nämlich, dass die spätestens mit den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen und den Ergebnissen alle diese Themen rechtlich beendet worden sind.«

Jetzt, wo die »Wiedergutwerdung der Deutschen« (Eike Geisel) abgeschlossen und die Geschichte zur Strecke gebracht worden ist, tönt es wieder laut und gnadenlos in Richtung der Griechen. Faul, frech und fordernd seien sie, hört und liest man allenthalben, auf »unser« sauer verdientes Geld hätten diese Pleitiers es abgesehen, und die hierzulande qua Selbstläuterung vorbildlich bewältigte Vergangenheit wollten sie auch nicht ruhen lassen. Der Boulevard fordert die »Eiserne Kanzlerin«, während ARD und ZDF die Frage stellen, ob der Grieche überhaupt wusste, worüber er da beim Referendum am Sonntag abgestimmt hat.

Die Großkotzigkeit und Überheblichkeit, der völlige Mangel an Empathie und das absichtsvolle Beschweigen derjenigen politischen und ökonomischen Krisengründe, die von Deutschland und der EU zu verantworten sind und nicht von Griechenland, stehen dabei hinsichtlich ihrer Widerwärtigkeit in harter Konkurrenz zu einer Geschichtsvergessenheit, die Ihresgleichen sucht. Nur allzu berechtigt ist es deshalb, dass sich die Griechen in aller Form gegen die nassforschen Töne aus einem Land verwahren, dessen Wiederaufstieg auch auf ungesühnten Verbrechen an der griechischen Bevölkerung, eiskalten Zahlungsverweigerungen gegenüber Griechenland und großzügigen Schuldenerlassen basiert. Und wer sich über Tsipras und Varoufakis ereifert, aber über Abs nicht (mehr) reden will, möge ohnehin am besten ganz schweigen.

* Jörg Rensmann: Anmerkungen zur Geschichte der deutschen Nichtentschädigung, in: gruppe offene rechnungen (Hg.): The Final Insult. Das Diktat gegen die Überlebenden. Deutsche Erinnerungsabwehr und Nichtentschädigung der NS-Sklavenarbeit, Münster 2003, S. 45-70 (S. 55).

Zuerst erschienen auf der Seite https://www.fischundfleisch.com

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Geert Aufderhaydn / 10.07.2015

Die Griechen sind ein Drittweltland, das sich aufplustert wie eine Industrienation. In Ihnen, Herr Feuerherdt, haben sie einen verständnisvollen Apologeten gefunden, der ihnen nach einem Einstieg mit Betrug noch einen Ausstieg mit vergoldeter Nase gönnt. Clowns wie Varoufakis und Tsipras sind nicht zufällig an die Staatsspitze gelangt; das hat sich zwangsläufig und ganz organisch aus einem System ergeben, das Leistung und Fähigkeiten ignoriert, sich aber umsomehr aus ruinösem Nepotismus nährt.  Solche Strukturen, meist Begleiterscheinungen von Diktaturen,  haben sich bisher in schöner Regelmässigkeit selbst zerstört. Dem aktuellen Niedergang wohnen wir gerade - quasi in Zeitlupe - bei. Das alte System hat abgewirtschaftet; frei nach Lenin - “die oben können nicht mehr, die unten wollen nicht mehr” - sind nun die Jüngsten und Unerfahrensten dran, der politische Volkssturm, der noch rausholen soll,was rauszuholen ist. Im übrigen hängt mir diese “Mea Culpa” - Tour, “der Westen ist an allem schuld!” zum Hals raus. Emanzipieren Sie sich mal von den unseligen 68ern! Das kann doch nicht so schwer sein - ich hab es schliesslich auch geschafft . . .

Helmut Driesel / 09.07.2015

Einerseits muss sich ja niemand über griechische Befindlichkeiten aufregen, wir leben ja nicht in einer griechischen Diktatur. Wobei es wahrscheinlich ist, dass ein derart sozusagen genossenschaftlich verinnerlichter Wunsch, auf alle Ewigkeit von deutschen Reparationen zehren zu wollen, sich verheerend auf die Leistungskraft und das Selbstvertrauen der griechischen Jugend auswirken könnte. Aber andererseits müssen doch auch die führenden Europäer zugeben, das die derzeitigen Strukturen, Grundlagen und Instrumentarien unvollkommen sind und man zugleich wenig Initiative und noch weniger Elan verspürt, Grundlegendes zu ändern. Alles Handeln ist auf bestimmte Zahlen zugeschnitten, niemand wagt es, deren Relevanz für die Menschen in Frage zu stellen. Der Mainstream glaubt, man könnte Griechenland aus dem Status Quo heraus schonend reformieren. Die Extremisten linkerhand glauben, dies sein nur mit einem 30%igen Schuldenschnitt möglich. Die Rechten wollen lieber ein Exempel, an dem man sich auf Jahrzehnte noch ideologisch abarbeiten kann. Wenn ich da die Situation in Thüringen betrachte, fällt mir auf: Die Verschuldung des Freistaates liegt hier nur bei etwa 30% der jährlichen Wirtschaftsleistung. Aber es ist bereits heute sicher zu sagen, dass sich daran in den nächsten 10 Jahren nichts zum Besseren verändern wird. Schuldenbremse hin oder her. Woher also kommt diese Zuversicht?

Alwin Föller / 09.07.2015

Auch wenn es knapp am Thema vorbei ist, mit dem Geldern aus dem Marschallplan war es auch nicht weit her. Zum einen, weil die Summe selbst gehebelt als Kreditrahmen nicht so hoch war (~400Mrd über 10 Jahre insgesamt), zum anderen, weil es in gewissen Sinne die Bezahlung darstellte für die gesamte dt. Luft-und Raumfahrttechnologie. Mit Operation Paper Clip gingen ja mehrere tausend hochkarätige anwendungsorientierte Wissenschaftler in die USA, gefolgt von zahlreichen Leuten, die nach dem Krieg ihr Zelt in Princeton, Berkeley etc. aufschlugen. Dazu kommen noch etliche (>tausend) Wissenschaftler, die sich in den Dienst der UdSSR und anderen stellten/stellen durften. Nimmt man an, dass insgesamt 5.000 Hochkaräter verloren gingen und jeder umgerechnet im Schnitt das Zeug hatte, die Technologie für ein mittelständisches Unternehmen mit 200 Mitarbeitern bereitzustellen, dann gingen insgesamt 1 Mio Arbeitsplätze in der Hochtechnologie verloren. In Bruttowertschöpfung zu heutigen Preisen gerechnet wären dies gut 400 Mrd Euro pro Jahr. Ich kenne keine Arbeiten dazu, aber ich würde mich nicht wundern, wenn ein Gutteil davon den amerikanischen Nachkriegswohlstand sicherstellten. Seis drum, angesichts der Gräuel, die Deutschland angerichtet hat war es eine sehr gnädige Behandlung, die wir erfahren durften.

Bernhard Keim / 09.07.2015

Danke für diesen Beitrag. Der Gründungsmythos der Bundesrepublik wirkt nach wie vor nach. Allzu gerne lässt man dabei die unschönen Seiten unter den Tisch fallen. Ohne die Wirtschaftsgeschichte des Dritten Reiches ist schwer zu verstehen und welchen Voraussetzungen er eigentlich stattfand. Da sind zum einen die Enteignungen großen Stils. Enteignet man 5% der Bevölkerung, dann kann sich der Rest natürlich darüber freuen. 5% klingt im ersten Moment nicht nach viel entspricht aber in der Regel der Wirtschaftsleistung eines ganzen Jahres, die es für das verbleibende Volk gab. Das andere ist die Schuldenpolitik des Dritten Reiches. Am Vorabend des WK II war Deutschland schlichtweg pleite, trotz der Trinkereien mit den MEFO-Wechseln. Seine Kritik an der mehr als unsoliden Finanzpolitik war Anlass Hjalmar Schacht als Reichsbankpräsidenten zu entlassen. Der Krieg erlaubte es nun in kurzer Zeit auch die Vermögen fremder Völker zu requirieren, so unter anderem 50 Tonnen Gold aus Belgien etc. Zwangsarbeit war nur ein besonders eklatantes Beispiel der Expropriierung fremder Arbeitskraft. Unabhängig davon wurde der Haushalt laufend mit der Notenpresse finanziert. Zu Ende des Krieges belief sich die Staatsschuld auf ca. 450% des BSPs von 1939. Die Geldmenge war enorm aufgebläht, doch konnte man mit all dem Geld nicht wirklich etwas kaufen. Zuteilungsscheine sorgten dafür, dass die vorhandenen Guthaben keine Nachfrage entfalten konnten. Mit der Währungsreform wurden dieses Geld dann endgültig entwertet und aus dem Verkehr gezogen. Gewinner waren jene, die über Sachwerte verfügten. Hier liefert der Artikel von Feuerherdt nun zusätzliche und recht gute Informationen. Was man hatte, war zu einem Großteil nicht durch eigene Arbeit entstanden, sondern fremde Hände und Enteignung entstanden. Darüberhinaus profitierte man durch sehr großzügige Rentenregelungen der Nazis nun unverdient am Aufschwung.

Wilfried Paffendorf / 09.07.2015

Sehr geehrter Herr Feuerherdt. Nach dem ersten Durchlesen Ihres Artikels dachte ich, Sie hätten sich einen Scherz erlaubt, hätten die Absicht gehabt, eine Satire auf das deutsche “Wirtschaftswunder zu verfassen. Während Sie unbestreitbare Fakten nennen, schlagen Sie aber gleichzeitig mit Ihrer Diktion einen Ton an, der sich in den Chor der derzeitigen, sich in Hochkonjunktur befindenden Intransigenz zu Deutschland, zu den Leistungen der deutschen Kriegs- und ersten Nachkriegsgeneration harmonisch einfügt. Hatte ich bereits zuvor schon aus dem Munde des hochverehrten türkischen Staatspräsidenten Erdogan vernommen, dass die Türken nach dem 2. Weltkrieg Deutschland wiederaufgebaut hätten, so muss ich nun hören, dass es noch ganz anders war. Weiterhin höre ich mit Entsetzen, dass die “Wiedergutmachung” abgeschlossen sein soll. Gott sei Dank ist dem aber nicht so, wie ich mir an Hand der immer noch laufenden Zahlungen der Deutschen an verschiedene Opfervereine und Einzelpersonen schnell ins Bewusstsein rief. Ich kann Sie, verehrter Herr Feuerherdt, beruhigen, denn die Wiedergutmachungs-Kette erhält aktiuell ein neues Glied, das mit den Forderungen der Hereo-Betreuer bereits in Auftrag gegeben wurde und demnächst wohl realisiert werden wird. Also schonen Sie sich, erregen Sie sich nicht zu arg und denken an Ihre Gesundheit. In diesem Sinne verbleibe ich hochachtungsvoll Ihr 67 Jahre alter Leser Wilfried Paffendorf

Henry Berner / 08.07.2015

Richtig ist, daß die Bundesrepublik ihren wirtschaftlichen Aufstieg mit großzügiger Hilfe (besonders aus den USA) bewerkstelligt hat. Richtig ist auch, daß Griechenland durch seine EU-Mitgliedschaft ähnlich gute finanzielle Förderung von Aussen hatte. Die Resultate sind bekannt: Hier Wirtschaftswunder, dort griechische Tragödie. Nun wird -nach Schuldenschnitt und diverser Rettungskredite- eine Wiedergutmachung für die deutsche Besatzung gefordert. Finanziell dürfte es dem deutschen Steuerzahler keine größeren Kopfschmerzen bereiten als die Eurorettung oder die Energiewende. Vielleicht sollten wir bei der Gelegenheit auch gleich eine Wiederaufbauhilfe für den griechischen Bürgerkrieg (1946-1949) leisten. Um unsere Empathiefähigkeit zu dokumentieren, könnten wir die griechischen Verwüstungen in Ismir bezahlen. ..Damit nicht irgendwann ein türkischer Urenkel eines Geschädigten, bei dem griechischen Nachfahren eines Schädigers peinlich anfragt.

Jürgen Liebich / 08.07.2015

Lieber Herr Feuerherdt, legen wir mal alle emotionalen und sicher auch berechtigten Verweise Ihres Beitrages bewußt zur Seite und stellen uns einfach zwei ganz simple Fragen. 1. Nehmen wir an, die Griechen wären schon vor Jahrzehnten entschädigt worden. Hätten Sie mit diesen Geldern Ihren Staat IN ORDNUNG gebracht? 2. Nehmen wir an, die Sowjetunion, die ja als Sieger und Besatzungsmacht sich viele Jahre ihre Reparationen selbst organisiert hatte, hätte diese nicht gehabt, würde sie (heute Russland) noch schlechter dastehen? Aus dieser Fragestellung allein ergibt sich schon der Fakt, daß Reparationen, wenn man diese denn nicht zielgerichtet einsetzt, für sich genommen gar nichts bewirken. Hier die Griechen, die es in Jahrzehnten nicht fertig gebracht haben, einen modernen, funktionsfähigen Staat zu schaffen. Und eine funktionierende Finanzverwaltung hat ja wohl nichts mit Reparationen zu tun. Da die Sowjets, pardon heute die Russen, die den Krieg gewonnen, aber trotz erklecklicher Reparationen, für die Ostdeutschland, pardon die DDR, aufkommen mußte, kläglich “verloren” haben. Den Anteil des Naziprofits am Wiederaufstieg Westdeutschlands, pardon der BRD, vermag ich nicht zu beurteilen. Für die DDR trifft dieses Argument überhaupt nicht zu. Was aber für beide Deutsche Staaten zutrifft ist die Tatsache, daß man wußte, wie ein Staat auch ohne Nazis ordentlich zu funktionieren hat, denn schließlich war man schon weit vor dem Kaiserreich in Preußen in diesen Fragen sehr weit entwickelt. Und man hatte in beiden Deutschen Staaten auch das Potential in Form hochqualifizierter Menschen, um wieder auf die Beine zu kommen. Das auf Grund des unterschiedlichen politischen Systems beide Deutsche Staaten letztlich viele Jahre recht unterschiedliche Wege gingen ändert an den Tatsachen gar nichts. Man kann Deutschland stets an seine Kriegsschuld erinnern. Man kann auch Reparationen verlangen. Sicher kann man das. Ich bin kein Staatsrechtler. Was man aber nicht kann ist diese Karte ziehen um damit das heutige griechische Elend zu begründen. Die Ursache für diese Malaise haben die Griechen ganz allein zu verantworten. Und wenn wir schon mal beim mündigen Bürger, hier konkret dem mündigen Bürger Griechenlands sind. Es ist ja nicht so, daß diese Menschen, und das über Jahrzehnte hinweg, von gar nichts ihrer Staatsprobleme gewußt haben wollen. Sie haben es in der übergroßen Mehrheit sehr wohl gewußt. Aber immer wieder ihren korrupten Eliten bei Wahlen die nächste Blankovollmacht erteilt. Es ging ja immer irgendwie weiter. Sich heute nur als Opfer hinzustellen und keine Verantwortung für dieses Dilemma zu übernehmen ist mehr als billig. Mitgegangen, mitgehangen sagt der Volksmund dazu treffend. Das mit dem WEITER SO und der Blankovollmacht bei Wahlen funktioniert in Deutschland und anderswo übrigens ganz genau so.

Michael Schlenger / 08.07.2015

Herr Feuerherdt, ohne mit konkreten Zahlen aufwarten zu können, kommt mir einiges an Ihren Ausführungen fragwürdig vor. Während der Zeit der deutschen Besatzung (die auf den gescheiterten Versuch der Italiener folgte, was gern vergessen wird) habe man Ressourcen aus Griechenland abgezweigt, um “Krieg im östlichen Mittelmeer” (wo, eigentlich?) zu führen. Können das im Agrarstaat Griechenland nennenswerte Ressourcen außer lokal requirierten Nahrungsmitteln und Treibstoff der griechischen Armee gewesen sein? Da sich die Wehrmacht auf Dauer in Griechenland einrichtete, hat sie sich zweifellos mehr oder weniger vor Ort “versorgt”. Dass sie dabei aber gleichzeitig “systematisch” Infrastruktur und Wirtschaft zerstört habe, halte ich für abwegig. Auf die Infrastruktur (Straßen, Brücken, Eisenbahn, Häfen) war sie ja selbst zu Sicherstellung ihrer Beweglichkeit angewiesen. Und die hauptsächlich aus dezentraler Agrarwirtschaft bestehende Ökonomie kann sie allein schon mangels Personal in der Fläche nicht zerstört haben, davon abgesehen, dass sie sich damit ins eigene Fleisch geschnitten hätte. Mir scheint, hier wird gezielt ein Bild von einem einst reichen, wirtschaftlich hoch entwickelten Staat zugrundegelegt, der von den Deutschen ausgeplündert wurde und sich davon bis heute nicht erholt hat. Die Deportation der jüdischen Bewohner Griechenlands steht auf einem anderen Blatt - hier gibt es auch nichts “wiedergutzumachen”. Es fällt mir schwer zu glauben, dass es aus der Zeit vor 70 Jahren belastbare griechische Statistiken über Demontagen, Beschlagnahmungen, Ressourcenverzehr, Hungertote usw. gibt, die eine Grundlage für Entschädigungszahlungen darstellen können. Griechenland hat sich ab 1945 in einem Bürgerkrieg selbst zerfleischt, der den Aufbau einer halbwegs vernünftigen Verwaltung auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, verzögert hat. Von daher kann es m.E. nur anekdotische Evidenz über den behaupteten deutschen Raubzug in Griechenland geben, etwa die Beschlagnahme des Goldes der Notenbank (die aber keinen faktischen Entzug von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit darstellte, da das Gold ohne produktiven Nutzen im Tresor lag). Gibt es von Hagen Fleischer diesbezüglich eigentlich Quellenangaben? Gar nicht einleuchten will mir, was deutsche Sünden der Vergangenheit und Schuldenerlasse nach einem verheerenden Krieg mit den berechtigten Erwartungen der europäischen Gläubiger des heutigen Griechenlands zu tun haben sollen. Dabei geht es schlicht um die Einhaltung von Verträgen, seriöse Verhandlungsführung, sachliche Rhetorik und Einsicht in Reformnotwendigkeiten in einem gänzlich anderen politischen Umfeld. Griechenland hat sich eindeutig selbst in seine derzeitige Lage hineinmanövriert, indem es sich betrügerisch in eine Währungsunion eingeschlichen hat, die ihm eine staatliche und private Schuldenorgie zu extrem niedrigen Zinsen ermöglichte. Es hat sich so einen Konsumstandard erkauft, den es aus eigener Kraft nicht refinanzieren kann, weil dazu die produktive Basis fehlt. Die freiwillig eingegangene Überschuldung von Staat und Konsumenten (mit daraus resultierender Bankenpleite) ist die Ursache der heutigen Misere, keine Diktatur, kein Krieg, keine Millionen Toten, keine Zerstörungen, keine Demontagen. Griechenland hat sich in einem besinnungslosen Konsumrausch selbst das Licht ausgeknipst. Der einzige Fehler der Euro-Staaten war der, das Spiel zu lange mitgespielt zu haben. Deutschland hier eine besondere Schuld zu geben und dabei tief in die historische Mottenkiste zurückzugreifen, ist schlicht unredlich. Dessen ungeachtet muss und wird der Schuldenschnitt kommen, weil das reine Zahlenbild es verlangt. Dazu braucht es keine besondere “Empathie” und auch kein schlechtes Gewissen. Der heutigen Generation deutscher Steuerzahler ständig eine besondere Verantwortung einzureden, ist eine billige Strategie von Leuten, die sich an ihrer eigenen Wohltätigkeit ergötzen wollen, ohne dafür zahlen zu müssen. 

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