Vor 116 Jahren verbrachte der junge Winston Churchill ein Abendessen mit politischen Verbündeten und dem berühmten Joseph Chamberlain, Vater des späteren Rivalen Neville. Laut Churchill verabschiedete sich der Senior mit einer großmütigen, verheißungsschwangeren (und vermutlich volltrunkenen) Geste der Dankbarkeit: „Ihr jungen Leute habt mich königlich unterhalten, und im Gegenzug lüfte ich euch ein unbezahlbares Geheimnis: Zölle! Sie sind die Politik der Zukunft, und der nahen Zukunft. Studiert sie sorgsam und meistert sie. Dann werdet ihr eure Gastfreundschaft mir gegenüber nicht bereuen.“ Zumindest kurzfristig sollte der Mann recht behalten.
Aber in gewisser Hinsicht sollte er auch langfristig recht behalten. Donald Trump hat das Koordinatensystem der amerikanischen Politik komplett über den Haufen geworfen, als er als Republikaner mit einem Programm des muskulösen Protektionismus die Präsidentschaft eroberte. So einen Politikansatz kannte man vorher eher von linken Demokraten wie „Crazy Bernie“ Sanders und Konsorten (freilich abzüglich der Muskulosität). Unabhängig davon, ob Chamberlain recht behielt, stellt sich also die Frage, ob Trump „rechts“ behielt.
Dabei ist der Präsident nicht der einzige unter den abendländischen Populisten, der verwegen den althergebrachten Kategorien trotzt. In Frankreich ist der Protektionismus schon länger Angelegenheit des (mittlerweile umbenannten) Front National mitsamt Marine Le Pen, die sich außerdem großer Beliebtheit bei schwulen Wählern erfreut. Geert Wilders stellt sich der Islamisierung unter anderem deshalb entgegen, weil er die Juden und Israel schützen möchte. Matteo Salvini koaliert – und er erfolgreicher als sie – mit einer Partei, die von einem Komiker gegründet wurde und ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen möchte. Alice Weidel ist turbokapitalistisch und (aber?) lesbisch. Verwirrende Zeiten.
Kein Wunder also, dass etwa Georg Diez von SPON längst auf dem Zahnfleisch geht. Anders lässt sich seine beinahe tollwütige Kolumne von letzter Woche kaum erklären, in der er „eine gefährliche Form des politischen Denkens in Deutschland“ beklagt, die auf einer „falschen Geometrie“ beruhe, nach welcher „links wie rechts in etwa das Gleiche sind“. Zusätzlich erschien einen Tag darauf ein ganz ähnlicher Artikel auch auf Bento, dem hauseigenen Fake-Kinderkanal des SPIEGEL. Dort wird erklärt: „Warum Aussagen wie ‘Da stehen sich Rechte und Linke bei Protesten gegenüber‘ gefährlich sind“ . Wenigstens die Arbeitsteilung stimmt also bei den Hamburgern.
Eine große Halluzination
Auch deren politische Geometrie zielt aber ins Leere. Ja, es gibt eine große Halluzination in unserem Land und, ja, sie hat auch mit dem politischen Koordinatensystem und dessen Unzulänglichkeiten zu tun. Aber begründet liegt sie in Angela Merkels langfristiger Strategie, die Union mitsamt ehemals stolzen bayrischen Berglöwen in eine sozialdemokratische Mitte-Links-Partei zu verwandeln. Dass dieser Schachzug für die Karriere der Kanzlerin persönlich großartig aufgegangen ist, dass sie der nun überflüssigen SPD damit politisch das Genick gebrochen hat, dass sie rein machttaktisch sogar einen Nobelpreis – oder besser einen Machiavellipreis – bekommen müsste, kann man ihr als kognitive Meisterleistung hoch anrechnen, genau wie man den florentinischen Philosophen aufgrund seiner Ausgefuchstheit nur bewundern kann – freilich ohne ihm gleichzeitig die Verantwortung für das eigene Gemeinwesen übereignen zu wollen. (Xenophon schrieb einst über die Spartaner, dass jeder sie lobt, aber keiner sie imitiert. Die Schlussfolgerung überließ er aus gutem Grund dem Leser.)
Noch ein Wort zu Machiavelli. Eine der großen politischen Illusionsnummern, die er aufrichtig bewunderte, war die gewiefte Vorgehensweise des Augustus Caesar bei der Transformation der römischen Republik in eine imperiale Alleinherrschaft. Anstatt sich den Titel des „Diktators“ oder eines verhassten „Königs“ anzuheften, bestand Augustus auf die bescheidene Bezeichnung princeps senatus, was ursprünglich wenig formal den „ersten Mann“ im Senat designierte, der dort lediglich als Erster sprechen durfte.
So betrieb Augustus die Einführung einer Diktatur unter dem Schleier der Wahrung alter Formen – und verkaufte es seinen ehemaligen Mitbürgern und jetzigen Untertanen als Wiederherstellung der wahren Republik. Eine beachtliche Leistung, gerade wenn man die nachfolgende Karriere des westlichen politischen Vokabulars betrachtet, das von „Prinz“ über „Fürst“ (vgl. Englisch first) bis hin zum russischen Zaren (von Caesar) reicht. Die Lektion: Wer sich nur von den Namen der Dinge leiten lässt, dem entgeht so manche Revolution.
Auch die Kanzlerin hat hoch gepokert und gewonnen. Ihre Kalkulation beruhte auf der Annahme, dass das einzige Risiko, welches sie bei ihrem Linkskurs unter Beibehaltung des konservativen Etiketts eingehen würde – nämlich die Gründung einer neuen, vakuumfüllenden Partei – gar kein echtes Risiko sein würde. Warum auch? Merkel, die schon 2006 von der Presse unironisch als „Medienkanzlerin“ bezeichnet wurde, hat kommen sehen, dass eine solche Partei sich eines nie dagewesenen, historisch aufgeladenen Rechtfertigungsdrucks ausgesetzt sehen und daran zugrunde gehen würde.
Die in der DDR sozialisierte Kanzlerin wusste, dass der grünlich-linke, politisch-mediale Komplex, dessen zentraler claim to fame seit Hegel und Marx die Geschichtlichkeit ist, eine solche sich gegen die historische Logik auflehnende Partei geradezu zermalmen würde. Die weltliche Eschatologie der Linken würde sich auf Merkels Seite schlagen. Sie konnte gar nicht verlieren. Ihr Land allerdings schon.
An diesem Punkt hat Merkel sich verzockt
Zwar hat die Kanzlerin insoweit recht behalten, als das Aufkommen der AfD in der Tat eine fiebrige Jagdsucht unter den Okkupanten der intellektuellen Kommandohöhen ausgelöst hat. Sie hat allerdings nicht antizipiert, was passieren würde, wenn diese Partei sich entgegen aller Unkenrufe im Koordinatensystem festbeißt. An diesem Punkt hat Merkel sich verzockt. Denn die Medien sind – trotz AfD und trotz gelegentlicher Sympathie in der Flüchtlingsfrage – nie zu ihr übergelaufen, sondern stehen weiterhin brav wie ein Schäferhund bei Fuß des rot-rot-grünen Triumvirats der deutschen Postmoderne.
Im Gegensatz zu einem Schäferhund nämlich sind die Medien undankbar. Merkel hat ihnen einen riesigen ideologischen Knochen hingeworfen, aber SPON und Co rühren ihn nicht an. Sie bleiben ihren „Herrchen“ treu. Wenn sie sich von Zeit zu Zeit gezwungen sehen, Merkel in Schutz zu nehmen, erschrecken sie innerlich und erinnern sich daran, dass es sich bei ihr ja um eine CDU-Politikerin handelt (Unvergessen etwa Cem Özdemirs zwanghafte Verkündung seiner Parteimitgliedschaft, bevor er sich im Clinch mit Henryk M. Broder in der Sarrazin-Debatte gewissenhaft auf die Seite der Kanzlerin schlug).
Mit dem gleichen Phänomen, wenn auch mit anderen dramatis personae, haben übrigens die amerikanischen Republikaner zu kämpfen. Die merken nämlich gerade, dass dieselben Medien, welche einerseits plötzlich Lobeshymnen auf den konformistischen Verlierer Mitt Romney und den ebenfalls längst besiegten, kürzlich verstorbenen John McCain singen, andererseits genau diese Gentlemen damals keinen Deut besser behandelt haben, als sie es heute mit Trump tun.
Auch diese beiden mussten sich zu ihrer Zeit, als sie sich um das Präsidentenamt bewarben und deshalb eine politische Gefahr darstellten, als Rassisten, Nazis, und Dritte-Weltkriegs-Verursacher beschimpfen lassen. (Wundert sich da noch jemand, dass Trump seinen Medienkrieg nicht nur führt, sondern auch gewinnt?)
Mit anderen Worten: Für die medialen Zeitgeister sind und bleiben Merkel und die Union konservativ, auch wenn diese seit fast zwanzig Jahren nichts unternommen haben, was dieser Bezeichnung auch nur annähernd gerecht würde (und in vielen Fällen sogar das genaue Gegenteil). Erst wenn die Kanzlerin in Zukunft durch einen Hardliner ersetzt werden sollte, wird man ihr nachheulen wie unlängst John McCain.
Wie der besoffene Joseph Chamberlain
Bis dahin werden es unsere Medien machen wie der besoffene Joseph Chamberlain, nämlich doppelt sehen: zwei Rechts-von-der-Mitte-Parteien, wo es in Wirklichkeit nur eine gibt (FDP nicht mitgerechnet). Diese gewaltige Halluzination bedroht aber ernsthaft unsere Demokratie, weil sie eine Weltanschauung verstetigt, in welcher demokratische Legitimität der AfD nicht zugeschrieben werden kann, deren Platz rechts der Mitte ja schließlich schon von der Union belegt war, ist, und immer sein wird.
Es ist also tatsächlich an der Zeit, unsere politische Geometrie zu überdenken, wenn auch anders als von SPON und Co vorgezeichnet. Dort sieht man Merkels strategisches Ballett nicht als Bewegung im zweidimensionalen Raum von „Rechts“ nach „Links“, sondern als ohnehin zwangsläufige historische Anpassung eines „Gesterns“ an „das Heute“ – nicht als Reise von A nach B mit gebuchtem Rückticket, sondern als ein Aufwachen aus einem Traum, in den es kein Zurück mehr gibt.
Es ist kein Zufall, dass sich der Begriff des „Ewiggestrigen“ als politische Beschimpfung eingestellt hat. Allzu oft liest man zudem in den einschlägigen Presseorganen davon, dieses oder jenes Land „hinke“ noch in irgendeiner sozialen Frage „hinterher“ – als sei eine unseren Journalisten genehme Reform nichts weniger als die Erfüllung der politischen Vorhersehung, gemeißelt in eine große säkulare Steintafel. Sie bewegen sich in der vierten Dimension, der Domäne der Zeit.
Vielleicht könnte man sich – quasi als Kompromiss – auf die dritte Dimension einigen? Nicht wenigen Menschen ist die traditionelle Farbenlehre ohnehin verhasst. Worauf es ihnen ankommt, ist vielmehr eine Politik, die auf dem Boden der Tatsachen bleibt und nicht entlang der Z-Achse langsam der Realität entwächst. In Osteuropa sind es auch sozialdemokratische Politiker, die sich Merkels stiller Revolution widersetzen, und zwar gerade, weil sie deutlich bodenverhafteter sind als ihre Kollegen im Westen. Einer Sarah Wagenknecht wird Ähnliches zumindest gelegentlich zugetraut.
Ja, Links und Rechts, dem trauert keiner hinterher. Dafür wird es eine neue politische Geometrie geben, nämlich eine von auf-dem-Teppich-Gebliebenen und auf-Wolke-Sieben-Abgehobenen, von Populisten und Eliten, von einer Kommentarspalte, die sich der Schlagzeile widersetzt, kurzum: von Unten und Oben.
Es ist schon bemerkenswert, dass ein New Yorker Milliardär sich als Klassenverräter und Populist erfolgreich für das Unten entschieden hat, während der politisch-mediale Komplex auf beiden Seiten des Atlantiks sich flatterhaft der globalomanischen Elite als dem Oben anschmiegt. Die AfD versteht schon, was sie tut, wenn sie die Konkurrenz als abgehobene „Altparteien“ einrahmt. Auch in Frankreich und sogar Australien verfängt das neue „Framing“.
Das ist das unbezahlbare Geheimnis unserer Zeit. Es ist die Politik der Zukunft.
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