Wenn sich Deutschland von 1950 bis 2012 vermehrt hätte wie Gaza (200.000 auf 1,6 Millionen), hätte es nicht 82, sondern 550 Millionen Einwohner (1950: 68 Millionen). Darunter wären 80 Millionen junge Männer im besten Kampfalter von 19 bis 29 Jahren. Würden die zehnmal mehr Pazifismus in die Welt tragen als die rund acht Millionen, die man wirklich hat? Oder würde Berlin die Linie Palästinas fahren? Das sieht sich gern als schuldloses Opfer deutscher Politik, obwohl sein Führer, Mufti al-Husseini, ab 1941 direkt aus Hitlers Berlin an der Vernichtung der europäischen Juden mitgewirkt hat.
Die progressive deutsche Jugend, so bekäme die Welt zu hören, dürfe doch nicht für die – unstrittig furchtbaren – Verbrechen der Nazis bestraft werden. Weit über den rechtsextremen Rand hinaus klängen die Choräle „Breslau, Danzig und Stettin sind deutsche Städte wie Berlin“. Nicht nur 12.000 Raketen wie aus dem kleinen Gaza gegen Israel, sondern viele Millionen Projektile würden nach Straßburg und Eger oder nach Bozen und Marburg an der Drau gefeuert. Ganz Westpolen läge unter Beschuss und dazu die Ostseeküste hoch bis nach Königsberg und Memel. Da die Nachbarn sich handfest wehren würden, müssten sie nicht endende Berliner UNO-Demarchen über ihre „Kriegsverbrechen“ und „Menschenrechtsverletzungen“ hinnehmen. Vor allem aber würden sie mit Grauen auf die stetig wachsenden Mega-Armeen deutscher Jünglinge schauen.
Eine fortschrittliche Partei gäbe es auch. Sie würde die Verbrechen der Nazis verurteilen und zur Belohnung die Sozialistische Internationale als Mitglied zieren. Niemals wieder wolle man bis zum Ural siedeln und dafür die Slawen austilgen oder ins sibirische Eis treiben - obwohl man die Leute dafür eigentlich hätte. Das seien unverzeihliche genozidale Aktionen gewesen, von denen man sich vor jedem denkbaren Gremium vollen Herzens distanziere.
Man wisse, dass die Vernichtungsmelodien aus Gaza jetzt auch hier gesungen würden. Aber, mit Verlaub, der Refrain ginge immer noch auf Wotan und nicht auf Allah. Das sei einem zwar peinlich, aber am Vertreibungsunrecht leidende Landsleute seien auch sie, weshalb man sie von der linken Friedensflottille nicht ausschließen könne. Auch könne man die rassistische Germanophobie nicht billigen, die allenthalben in der Verteuflung dieser Gottheit zum Ausdruck komme. Gleichwohl wolle man lediglich die verlorenen Gebiete zurück, weil es bei einer halben Milliarde Menschen zwischen Rhein und Oder nun einmal unerträglich eng geworden sei. Da gehe es einem in der Tat ähnlich wie in Gaza. Auf ferne Siedlungsräume von Wolgadeutschen oder Donauschwaben werde man hingegen ganz verzichten, obwohl es unter deren zahllosen Nachfahren Heißsporne gebe, die einen dafür liquidieren könnten. Das Recht auf Rückkehr fordere man nur für die zehn Millionen Flüchtlinge – und natürlich für ihre 100 Millionen Nachkommen. Das könne unblutig verlaufen durch die Abreise der jetzt dort Lebenden in ihre alten Heimatgebiete, wo auf Grund des Geburtenrückgangs doch jede Menge Platz sei.
Die Bundesrepublik ist kein Gaza, sondern lebt auch deshalb in einer nachbarlich entspannenden Vergreisung, weil nach 1945 den Deutschen niemand versprochen hat, dass sie und alle ihre Nachkommen auf unvorhersehbare Zeiten von der Weltgemeinschaft als Flüchtlinge behaust, beschult, ernährt und entlohnt würden. Doch für Gaza wird diese Garantie aus Berlin und Washington oder aus Stockholm und Den Haag regelmäßig erneuert. Das vierte Kind der ersten Frau und auch das dritte der vierten erhält eine menschwürdige Bezahlung aus deutschen und anderen Kassen. Deshalb glänzt seine Jugend unter den Arabern – außer den israelischen – mit der besten Qualifikation. Sie hat Muße ohne Ende – für das Tunnelgraben, für das Bauen und für das Zünden der Raketen. Die Clans habe eigene Abschussrampen. Und ihr westlich gefördertes Familienleben sorgt dafür, dass alle paar Jahre ein mittlerer Krieg ausgehalten und dennoch die Zahl der Rekruten wuchtig erhöht werden kann.
1993 hätten in Oslo zwei Beschlüsse durchgesetzt werden müssen: Israel baut keine Siedlungen mehr und die Palästinenser kommen für ihre Familien ebenso auf wie etwa ihre Nachbarn im Libanon. Dort hat man nicht fünf bis sechs, sondern ein bis zwei Kinder. Die nach 1993 in Gaza geborenen Jungen wären dann die einzigen Söhne ihrer Eltern gewesen und hätten eine Perspektive. Jetzt müssen sie gegen zwei oder drei Brüder konkurrieren und sie würden sich noch heftiger – Fatah gegen Hamas - gegenseitig eliminieren, wenn der Hass nicht nach außen gerichtet werden könnte. Würde man Gaza den Weg der Selbstversorgung wenigsten ab 2013 eröffnen, könnte es dort bereits 2033 ruhiger zugehen. Beginnt man damit erst 2023, dauert es eben bis 2043.
(Eine Kurzfassung dieses Textes erschien am 17.11. in der WELT)