Georg Etscheit / 09.03.2022 / 16:00 / Foto: Pixabay.com / 24 / Seite ausdrucken

Münchner Kammerspiele: Klassiker gehen gar nicht mehr

Gerade haben die Münchner Kammerspiele wieder ihren Newsletter verschickt. Geschauspielert wird am Traditionshaus immer weniger, dafür nachgeschöpft, dekonstruiert und dokutheatert. Klassisches Theater sucht man vergebens.

Nein, es soll hier nicht um den Solidaritäts-Tsunami gehen, der gerade über die deutschen Kulturstätten hereingebrochen ist und alles in den Schatten stellt, was sich öffentlich finanzierte Theaterleute einfallen ließen, als es darum ging, die Katastrophe des syrischen Bürgerkrieges weltanschaulich korrekt abzubilden und den Menschen die Sinnhaftigkeit millionenfacher Masseneinwanderung aus einem fremden Kulturraum ans Herz zu legen. Es soll auch nicht darum gehen, wie sich vor allem in der Sphäre der Kultur, angeblich Hort von Aufklärung und Toleranz, der Meinungskorridor immer weiter verengt und denjenigen, die trotz 2G-Apartheid, Maskenzwang und Gesinnungsterror den Weg in eine Spielstätte finden, noch unerbittlicher klargemacht wird, wer auf der richtigen und wer auf der falschen Seite steht.

Nein, diesmal geht es um das ganz normale, ganz alltägliche Elend der Spielpläne an deutschen und deutschsprachigen Sprechtheatern. Gerade haben die kommunalen Münchner Kammerspiele, pars pro toto, wieder ihre monatliche Mail verschickt, in der das Traditionshaus an der Münchner Maximilianstraße, das sich konsequent jeder Traditionsbindung entledigt hat, über das kommende Angebot informiert, diesmal für den Monat April, und ich war so unvorsichtig, sie zu lesen. Spaßeshalber durchforstete ich das Angebot der gesamten Spielzeit auf das Vorhandensein sogenannter „Klassiker“, also jener europäischen Autoren, die dank einer gewissen Begabung und möglicherweise nicht ganz zu Unrecht Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte den Kanon ausmachten: die alten Griechen, Shakespeare, Goethe, Schiller und Lessing, Hölderlin und Kleist, Ibsen, Tschechow, Molière, Büchner, Brecht, Dürrenmatt, um nur eine Auswahl zu nennen.

Nicht das Original

Nach längerem Suchen stieß ich auf ein Stück, das sich „Die Räuberinnen“ nennt und in dem sich, wie aus einer Erläuterung hervorgeht – heute geht nichts mehr ohne Kommentar – eine gewisse Leonie Böhm gemeinsam mit dem Ensemble der Kammerspiele den „alten Text als Material“ vornimmt, „um es selbst einmal zu versuchen (…). Wirkliche Nähe ohne Zwang, eigene Gesetze, keine Angst. Raus aus den Mustern, rein in die Liveness. Ganz ,frei‘ nach Schiller.“ Frau Böhm ging, einer Kurzbiografie im Internet zufolge, in Heilbronn auf die Waldorfschule, arbeitet heute als „Regisseurin, Performerin und bildende Künstlerin“ und interessiert sich dafür, wie man sich zu „kanonischen Texten“ in Beziehung setzt „und die eigenen Bedürfnisse und Ideen hineinschreibt“.

Weiter mit der Suche nach den verschollenen Klassikern und ein zweiter Treffer: Thomas Bernhards „Heldenplatz“. Mit etwas theaterüblicher Toleranz kann Bernhard, gestorben 1989, ja noch als „moderner“ Autor durchgehen. Man müsste ferner meinen, dass Bernhards Sprache so überaus prägnant und genial-eigentümlich ist, dass man tunlichst die Finger davon lassen sollte, denn hier gibt es, wie bei allen „großen“ Autoren nichts Zufälliges – jeder Satz, jedes Wort, jede Silbe, alles steht genau da, wo es hingehört. Doch weit gefehlt, auch hier gibt's nicht das Original, sondern eine „Fassung mit neuen Texten von Falk Richter“. Der Herr ist leitender Regisseur an den Kammerspielen und wenn man die Erläuterung zur Neuinszenierung liest, weiß man schon, wohin die Reise geht: „Thomas Bernhards letztes und skandalträchtigstes Theaterstück ist ein wütender, verzweifelter Text über den untoten Ungeist des Faschismus. Ein Werk von gespenstischer Virulenz in Zeiten, in denen in Europa Antisemitismus, Rechtsterrorismus und Ausgrenzung von Minderheiten wieder beängstigende Konjunktur haben.“

Kammerspiele-Gruselmonat April

Was lernen wir daraus? Klassiker gehen gar nicht mehr und, wenn überhaupt, nur in woken NACH-Schöpfungen namenloser Waldorfregisseure und Theaterdramaturgen, gerne weiblich oder trans. Ansonsten ähnelt das Programm an der einstmals bedeutendsten Bühne des deutschsprachigen Raums einem zeitgeistigen Sammelsurium von allerlei multimedialen und transkulturell ausgerichteten „Formaten“, wobei Schauspieler, wenn sie heute noch reüssieren wollen, nicht mehr sprechen und schauspielern müssen, sondern „performen“, was immer das heißt. Kostproben: In „Nightcore“, als Uraufführung deklariert, „horchen drei Schauspielerinnen und ein Videokünstler mit der Langsamkeit der stetig gleichen Bewegung in die Ewigkeit des digitalen Echos unserer Stimmen“. Und zwar in einem „Setting aus Sauna und Comfort-Club-Atmosphäre.“ Bei der zweiten Uraufführung im April mit dem spanisch-deutschen Titel „Oasis de la impunidad/Oase der Straflosigkeit“ – handelt es sich um ein Gastspiel aus Santiago de Chile, in dem die „Ursprünge und Mechanismen von Gewalt“ untersucht werden sollen. Den Rest im Kammerspiele-Gruselmonat April schenke ich mir, mit Ausnahme des „Lesbentelefons“.

Die zunächst tiefrote, jetzt zunehmend grüne Münchner Kulturpolitik hat es geschafft, innerhalb von knapp einem Jahrzehnt ein großes Sprechtheater mehr oder weniger abzuwickeln. Ein Theater, dessen glorreiche Geschichte noch während des Ersten Weltkrieges unter Otto Falckenberg begann, der von 1917 bis 1944 das städtische Theaterleben prägte und mit der Uraufführung von „Trommeln in der Nacht“ auch den Ruhm Bertolt Brechts begründete – mit Schauspielern wie Käthe Gold, Therese Giehse, Marianne Hoppe, Elisabeth Flickenschildt, Willy Dohm, Heinz Rühmann. O.E. Hasse und Hans Schweikart, der später selbst Intendant wurde. Fritz Kortner, Peter Stein und George Tabori wirkten hier als Regisseure und schließlich Dieter Dorn, der mit seinen Shakespeare-Inszenierungen Theatergeschichte schrieb, Inszenierungen, die durchaus nicht altbacken erschienen, sondern in der Ästhetik Jürgen Roses zeitlos aktuell. Auch Dorns Ensemble prunkte mit großen Namen und hielt ihm 30 Jahre lang die Treue, zunächst an den Kammerspielen, dann am (staatlichen) Residenztheater („Resi“).

„Altmodisches“ Regie- und Schauspielertheater

Der Niedergang begann eigentlich schon unter dem Holländer Johan Simons, in dessen Ära sich das Münchner Theaterpublikum zunächst daran gewöhnen musste, dass einige Schauspieler mit holländischem Akzent sprachen. Aber immerhin wurde (meist) noch Theater gespielt und meist in deutscher Sprache. Dann engagierte das Münchner Kulturreferat mit dem Berliner Matthias Lilienthal eine Abrissbirne, auch physiognomisch. Lilienthal propagierte gleich zu Beginn seiner Amtszeit „die Zusammenarbeit mit internationalen Theaterkollektiven“, wollte die „Ästhetiken der freien Szene ins Stadttheater“ holen. Damit legte er die Axt an das Ensemble der Kammerspiele, das heute kaum noch in Erscheinung tritt. „Altmodisches“ Regie- und Schauspielertheater, in dem bereits vorhandene Stücke inszeniert, interpretiert und Texte gesprochen werden, war für Lilienthal „Kunstkacke“.

Nachdem Lilienthals Vertrag im Jahre 2018 auf Betreiben der CSU-Stadtratsfraktion nicht verlängert wurde, hofften die letzten frustrierten Anhänger eines Sprechtheaters eher klassischer Prägung auf eine, wenn auch zaghafte Renaissance alter Schauspieltugenden. Doch Barbara Mundel, seit der Spielzeit 2020/21 die erste Frau auf dem Intendantenposten der Kammerspiele, setzt das Zerstörungswerk unbeirrt fort, wenn auch diplomatischer im Ton. Heute wird an den Kammerspielen, nachgeschöpft, dekonstruiert, dokutheatert, diskutiert, performt, geworkshopt, abgerockt, gepodcastet, gegendert, in allen Zungen der Welt hinterfragt und, ganz aktuell, Solidarität geübt, aber so gut wie kein Theater gespielt. Im Resi auf der gegenüberliegenden Seite der Maximilianstraße und an vielen anderen deutschen Sprechbühnen sieht es nicht viel besser aus. Opernhäuser wie das Münchner Nationaltheater widerstehen noch halbherzig diesem Trend. Eine vollständige Dekonstruktion von Musiktheaterwerken des gängigen Repertoires ist nicht möglich, ohne in die Substanz der Kompositionen einzugreifen, wogegen sich die meisten Dirigenten zur Wehr setzen.

Eigentlich sollte es nur eine Frage der Zeit sein, bis ein findiger Impresario abseits des gleichgeschalteten Kulturbetriebs in die Lücke springt und wieder ganz normales Theater mit klassischem Programm und gediegener Schauspielkunst bietet. Wer auch immer das sei, ihm würden die Türen eingerannt!

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Leserpost

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FriedrichLuft / 09.03.2022

Der als Wilhelm Dohm geborene Schauspieler wurde als “Will Dohm” bekannt, und nicht als “Willy” ...

Ludwig Luhmann / 09.03.2022

Das Problem sind nicht die Bolschewoken an sich, sondern deren Wille, uns ihren Willen aufzuzwingen.

Reinhard Ickler / 09.03.2022

Und das Schlimmste: alle diese Barbaren glauben noch, die Klassiker zu “verbessern”, zu “entstauben” ...

Dr. Joachim Lucas / 09.03.2022

Wer schaut sich denn sowas an. Da muss man ja Masochist sein. Aber solange Subventionen fließen kann man jeden Deck bringen.

Arne Ausländer / 09.03.2022

Ein Mosaikstein in der Großen Kulturrevolution, die wir alle derzeit miterleben “dürfen”.

Stefan Kressin / 09.03.2022

Welch ein Glück ,wenn man großes Theater erleben durfte. Die Schaubühne unter Peter Stein in Berlin z.B. Politisch, innovativ,aber immer Theater ! Oder hier in Hamburg, Die Zeit mit Jürgen Flimm am Thalia Theater in den 70er , 80er Jahren ,und mit dem Münchner Baumbauer als Intendant am Schauspielhaus. Tempi passati. Heute sind die ” Woken ” in ihrem Marsch auch in der Kunst angekommen. Und das Publikum beklatscht und bejubelt jeden Mist. Man ist unter sich!    

Oliver König / 09.03.2022

@Petea Wilhelmi Leuten, die eine Menge Geld ausgeben, um anderen Leuten dabei zuzusehen, wie sie splitternackt über die Bühne stolzieren und dabei wie ein Huhn gackern, kann man alles verkaufen.

E. Meierdierks / 09.03.2022

Es ist mehr als überfällig, steuerfinanziertes (okok: öffentlicheschuldenfinanzierte) Selbstverwirklichungskultur der selbstberufenen Volksumerzieher auf Null zurückzufahren. Ich habe nichts gegen dieses Kommunistengeschwurbel - sicher nehmen die von den begeisterten Kleinbildungsbürgern mehr als genug Geld ein und müssen mit den von ihnen erwirtschafteten Überschüssen keine reaktionäre Kulturkacke querfinanzieren.

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