So unterschiedlich kann unsere Wahrnehmung sein: In der „Welt“ vertritt der stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP und Vizepräsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Kubicki, die Ansicht: „Das alles beherrschende Thema Islamismus verliert an Gewicht. Nur nach Anschlägen wie in Straßburg oder Vergewaltigungen durch Täter mit Migrationshintergrund gibt es immer einen kleinen Peak.“ In derselben Ausgabe wird das Thema „Moscheesteuer“ in großer Breite erörtert. Dabei wird deutlich, dass es um wesentlich mehr als die Unabhängigkeit muslimischer Verbände in Deutschland von ausländischen Finanziers geht, also vor allem der Türkei, Saudi-Arabien, Iran oder Katar, nämlich um den von Bassam Tibi erstmals in die Debatte eingeführten Euro-Islam, jetzt als „Islam in, aus und für Deutschland“ etikettiert oder als ein „Islam der deutschen Muslime.“
Dahinter verbirgt sich nichts anderes als der berechtigte Zweifel, ob der sogenannte Scharia-Islam mit unseren westlichen Vorstellungen von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten vereinbar ist. Der Justiziar der Unionsfraktion, Michael Frieser (CSU), fordert deshalb eine Videoveröffentlichung von muslimischen Predigten: „Imame sollten ihre Predigten ins Internet stellen, damit wir den Tendenzen der Radikalisierung besser entgegenwirken können. Die Moscheen müssen offen und transparent sein.“
Diese Forderung wird von der Initiatorin der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin-Moabit, der Rechtsanwältin und Imamin Seyran Ateş, unterstützt, die schon entsprechend verfährt – derzeit nur mit den Texten, Videos sollen folgen. Doch Frieser geht noch weiter. Er verlangt von den Moscheeverbänden klare Bekenntnisse, nicht nur zum Grundgesetz, sondern: „Nötig ist eine deutliche Absage an jede Form von Extremismus, Rassismus und Antisemitismus.“ Auch dies trifft bei Ateş auf Zustimmung.
Dabei ist diese Forderung keineswegs neu. Der zum Christentum konvertierte britische Scharia-Experte Sam Solomon hat einen entsprechenden Vorschlag schon vor mehr als zehn Jahren mit seiner Charta zum (richtigen) Islam-Verständnis (A Proposed Charter of Muslim Understanding) gemacht. Diese wurde vom britischen MEP Gerard Batten im Europäischen Parlament eingebracht und war a priori eine Totgeburt. Der Grund: Batten ist Mitglied der Partei für die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs, UK Independence Party, kurz UKIP. Wer sich nicht so genau auskennt: Die UKIP ist für das Vereinigte Königreich das, was die AfD für Deutschland ist. Also quasi ein Paria in der britischen politischen Landschaft.
Der Innenminister hatte nicht die Traute, mit „ja“ zu antworten
Worum ging es in diesem Vorschlag? Kurz gesagt, sollten die maßgeblichen islamischen Organisationen durch ihre Unterschrift bekräftigen, dass sie sich von allen Koran-Suren distanzieren, die irgendwie mit Gewalt zu tun haben.
Dr. Sahib M. Bleher, Generalsekretär der Islamic Party of Britain (IPB), wies dieses Ansinnen in einer ausführlichen Stellungnahme vom 16. Januar 2007 mit der Überschrift „EU Charter of misunderstanding Muslims” entrüstet zurück:
„Gibt es demnächst auch eine Charta zum katholischen Verständnis, zum protestantischen Verständnis, zum jüdischen Verständnis, zum humanistischen Verständnis, zum atheistischen Verständnis, zum Verständnis des Hinduismus, der Sikhs und von Scientology usw. usw."
Diese Äußerung überrascht inhaltlich nicht, wird der Islam doch allenthalben als „religion of peace“, als „Religion des Friedens“ gepriesen; überraschend ist lediglich das Datum, da die IPB, jedenfalls laut Wikipedia, bereits seit 2006 nicht mehr besteht.
In ähnlicher Weise fragte übrigens die TGD (Türkische Gemeinde in Deutschland) Anfang 2006 nach dem Inkrafttreten des „Muslim-Tests“ in Baden-Württemberg dessen Innenminister: „Mit dem für die Einbürgerung erforderlichen Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung erkennen die Einbürgerungsbewerber ohnehin die Grundsätze der deutschen Gesellschaft an. Warum überprüfen Sie dann nur Muslime mit einem zusätzlichen Fragebogen auf ihre Verfassungstreue. Glauben Sie etwa Muslimen weniger als Juden, Christen oder Hindus?“ Leider hatte der Innenminister nicht die Traute, diese Frage mit einem schlichten „Ja“ zu beantworten.
Andererseits: Totgesagte leben bekanntlich länger. Oder wie die Briten sagen: “There's life in the old dog yet“ (Da ist noch Leben in dem alten Hund). Das gilt natürlich nicht nur für die IPB. Auch Batten versuchte, dem alten Hund wieder auf die Beine zu helfen, indem er seinen Vorschlag wenige Tage nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt am 7. und 9. Januar 2015 erneut in die Debatte warf. Sein Ziel:
„Repräsentanten des Islams” und Einzelpersonen, die den Glauben praktizieren, sollten die Charta unterschreiben, um sich so von der „winzigen Minderheit von Muslimen abzugrenzen, die ins finstere Mittelalter Arabiens zurückkehren und unter Scharia-Recht leben wollten“
Batten erklärte, er könne nicht erkennen, warum „ein vernünftiger normaler Mensch” seine Unterschrift verweigern sollte.
Ausgerechnet von der UKIP vorgeführt werden...
Der seinerzeitige UKIP-Chef Nigel Farage sah das anders und distanzierte sich umgehend von dem Aufruf:
„Dies war eine persönliche Publikation von Gerard Batten im Jahr 2006, deren Inhalt nicht Politik von UKIP ist und zu keiner Zeit war. Derartige Vorschläge würden unter keinen Umständen von UKIP akzeptiert. UKIP glaubt an die Gleichbehandlung aller Menschen."
Über den eigentlichen Verfasser des Vorschlags liest man (hier und hier):
„Sam Solomon, geboren und aufgewachsen als Muslim [Herkunftsland wird aus Sicherheitsgründen nicht genannt], hat 15 Jahre Scharia-Recht gelehrt, ehe er zum Christentum konvertierte. Er wurde inhaftiert und vernommen und sollte hingerichtet werden, worauf er das Exil wählte, unter Androhung der Todesstrafe im Fall seiner Rückkehr. Als führender Experte für Islam und Scharia-Recht hat Herr Solomon vor dem US-Kongress ausgesagt und ist Berater des britischen Parlaments in Fragen des Islams."
Es gibt eine Revised Edition vom April 2007. Mittlerweile wird der Vorschlag als Paperback bei Amazon (116 Euro für 28 Seiten!) gehandelt.
Auf meine Frage, was aus diesem erneuten Anlauf geworden ist, ließ Batten die Reaktion seines Parteichefs unerwähnt und schrieb nur:
„Der Stand ist immer noch der gleiche, den ich auf meiner Webseite veröffentlicht habe und wo er meines Wissens immer noch unter ‚Publikationen‘ steht. Die Absicht war, die Passagen aufzuzeigen, die von Fundamentalisten und Extremisten benutzt werden können, um Gewalt zu rechtfertigen. Und ihnen ein Angebot für das weitere Vorgehen zu machen – d.h. sie [die betreffenden Textpassagen] abzulehnen. Wie Sie wissen, hat sich die Lage zwischenzeitlich nicht verbessert, sondern verschlechtert."
In der Tat steht der Vorschlag immer noch auf Battens Webseite (Punkt 15), aber man erfährt nichts über sein weiteres Schicksal, was ich an sich mit meiner Anfrage bezweckte. Wer sich für weitere Details interessiert, kann diese hier nachlesen (auf Englisch).
Nun weiß man natürlich nicht, ob der Vorschlag letztlich etwas gebracht hätte. Aber einen Versuch wäre er auf jeden Fall wert gewesen. Zumindest hätte alle Welt gewusst, wo die islamischen Verbände in Europa stehen. Aber genau das wollte das EU-Parlament ihnen vielleicht gerade ersparen: ausgerechnet von der UKIP vorgeführt zu werden. Schließlich haben wir Religionsfreiheit. Und das ist ein hohes Gut. Sollte es auch die eigene Identität kosten.
Und was den Einwand des Generalsekretärs der nicht mehr existierenden IPB betrifft: Katholische und protestantische Christen, Juden, Humanisten und Atheisten, Hindus, Sikhs und Scientologen bringen unter Berufung auf ihre Religion oder Weltanschauung nicht pausenlos dutzende völlig unbeteiligter Menschen in der ganzen Welt um. Gelegentliche Ausnahmen bestätigen diese Regel. Kurzum: Nicht alle Muslime sind Terroristen, natürlich nicht, aber (fast) alle Terroristen sind (gegenwärtig) Muslime.
Nun wussten schon die alten Römer: Quod licet Jovi non licet bovi – Was Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen nicht erlaubt. Wobei Jupiter in unserem Zusammenhang die etablierten Parteien wären, während die Rolle des Ochsen der UKIP bzw. der AfD zufiele.
Kehren wir noch einmal an den Anfang zurück, die Moscheesteuer für Muslime. Gerd Buurmann hat hier auf der Achse überzeugend dargelegt, dass mit der Einführung einer solchen Steuer auch der Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft geregelt werden müsste und welche Risiken das für die „Apostaten“ nach sich ziehen könnte. Patrick Sookhdeo hat in seinem Buch „Islam the Challenge to the Church“ (Isaac Publishing 2006) folgendes dazu gesagt: “Theologisch betrachtet ist dies eine der wenigen Sünden, die Gott nicht vergeben kann." Die Befürworter dieser Steuer betreten mit ihrem Vorschlag also vermintes Gelände.
Lesenswert sind auch die Ausführungen des ägyptischen Islamwissenschaftlers und katholischen Theologen Samir Khalil Samir in einem Beitrag „Islam humiliates religious freedom of Christians and human rights of Muslims. It’s time for change”:
„Muhammad Chalabi, der Chef der Al-Azhar [Universität in Kairo] in den 1950ern, pflegte zu sagen 'Wir zwingen den Apostaten nicht, zum Islam zurückzukehren, um uns nicht in Widerspruch zum Wort Gottes zu setzen, das jeden Zwang im Glauben verbietet [Sure 2, 256]. Aber wir geben ihm Gelegenheit freiwillig zurückzukehren. Wenn er es nicht tut, muss er getötet werden, weil er ein Instrument der Auflehnung (fitnah) ist und die Tür öffnet für die Heiden, den Islam anzugreifen, und Zweifel sät unter den Muslimen. Der Apostat befindet sich deshalb erklärtermaßen im Krieg mit dem Islam, selbst wenn er sein Schwert nicht gegen Muslime erhoben hat.' Dies ist das übliche Denken im Islam".
Diese und weitere Äußerungen machen deutlich, dass sich hinter der „Moscheesteuer“ wesentlich mehr verbirgt als das Problem der Finanzierung der islamischen Gemeinden in Deutschland. Es geht in der Tat um das richtige Verständnis des Islam (ob mit oder ohne Moscheesteuer), wie es Sam Solomon in seiner Proposed Charter of Muslim Understanding zum Ausdruck gebracht hat. Islam-Kenner wie Hamed Abdel-Samad, Seyran Ateş, das Muslimische Forum Deutschland und viele andere könnten dazu einen wesentlichen Beitrag leisten. Es ist Zeit für eine breite Diskussion, die weit über die Deutsche Islam Konferenz hinausgeht.
Übersetzung aller englischen Zitate vom Verfasser.