Moral-Latein für Anfänger: Ad hominem und Tu quoque

In Diskussionen vor Publikum, das sich als Bildungselite fühlt, macht man großen Eindruck, wenn man mit erhobenem Zeigefinger argumentative Fehlschüsse aufspießt und ihre lateinischen Namen weiß. Fast habe ich den Eindruck, dieses beckmesserische Treiben ist die letzte Schwundstufe der praktischen Philosophie, bevor sie endgültig im lärmenden Nichts des puren Aktivismus vergeht.

Direkte Angriffe auf Personen sind sehr beliebt. Man lehnt Argumente mit dem Hinweis darauf ab, dass die Person, die sie vorträgt, defizitär sei – zum Beispiel ein „Arschloch“. In Fragen der Lebensführung fehlt selten der Einwand, dass die Person selber praktiziere, was sie an anderen kritisiere. Ersteres nennt man argumentum ad hominem, letzteres – als Variante desselben – tu quoque („du auch“). Der Satz „Heute ist Montag“ wird nicht dadurch falsch, dass Adolf Hitler ihn äußert; die moralische Norm „Du sollst nicht töten“ wird nicht ungültig, weil auch Massenmörder sich bisweilen auf sie berufen. 

So weit so richtig. Doch jetzt kommt das Aber. Denn Argumente, die auf Personen zielen, sind als solche keineswegs unzulässig. Sie sind zum Beispiel angebracht, wenn es um Personen geht. Man sollte außerdem stets prüfen, wie es um die Glaubwürdigkeit derer bestellt ist, die moralische Normen aggressiv einfordern. Von unglaubwürdigen Personen lässt man sich nun einmal nicht überzeugen, sondern allenfalls überreden, überrumpeln, zwingen. Die Glaubwürdigkeit einer Person wirft ein Licht auf ihre Moral. Stimmt etwas mit der Person nicht, könnte auch mit ihrer Moral etwas nicht stimmen. Genauso ist es auch. Aggressive Moralisten proklamieren möglichst unerfüllbare Normen und klagen andere an, sie nicht zu einzuhalten, um Herrschaft über andere zu erlangen. Das ist der ganze Witz. Und diesen Witz versteht man nur, wenn man ad hominem denkt.

Im Disput mit Tierrechtlern, Umwelt- oder Klimaschützern, die sich einen philosophischen Anstrich geben, habe ich oft erlebt, dass sie klügelnd auf ad hominem und tu quoque verweisen. Sie wähnen sich dann aus dem Schneider und können ihre Gegner zugleich als Dummköpfe hinstellen, die nicht einmal die simpelsten Regeln der Argumentation beherrschen. Im Buch Warum gibt es alles und nicht nichts? diskutiert Richard David Precht mit seinem kleinen Sohn Oskar unter anderem über den Fleischkonsum. Nachdem Papa den Genuss von Fleisch wortreich und mit Hilfe eines schiefen Gleichnisses verurteilt hat, wendet der Sohn ein, dass Papa doch selber Fleisch esse. Der Vater macht dem Filius daraufhin klar, dass er ad hominem argumentiere. Sinngemäß sagt er (aus dem Gedächtnis zitiert): „Damit wolltest du schön ablenken, gell, und mich auf Glatteis führen?“ Precht würgt den richtigen Gedanken des Kindes erfolgreich ab. Und wenn Oskar durch den weisen Vater irgendwann auch der letzte Gedanke ausgetrieben sein wird, steht seiner Karriere als Ethik-Experte nichts mehr im Wege.

Man stelle sich einmal vor, jemand würde sagen: „Wer Schuhe trägt, ist ein Verbrecher“ und selber jeden Tag ein anderes Paar edelsten Leders tragen. Was wäre der erste Einwand? Genau: „Du trägst doch selber Schuhe, also bist du selber ein Verbrecher!“ Und nun stelle man sich vor, dieser Jemand würde in der Art reagieren, wie es jene Meisterdenker tun: „Dieser Einwand ist total das argumentum ad hominem, außerdem voll tu quoque und volltotal ungültig, du Opfer!“ Danach würde er jammern, dass er nie behauptet habe, ein Heiliger zu sein. Außerdem trage er nachts gar keine Schuhe usf. Er würde aber nicht aufhören, Andere für ihr besohltes Treiben heftig anzugreifen, ihnen die Schuld an Klimawandel, Kriegen, Hunger, Artensterben, Holocaust, Weltuntergang in die Schuhe zu schieben und der moralischen Schizophrenie zu bezichtigen.

Stände er allein mit einem Pappschild um dem Hals auf dem Jahrmarkt und blökte seine Botschaften per Megaphon über den Platz, würde man ihn wohl kaum ernst nehmen. Man würde vielleicht irgendwann das Ordnungsamt oder die Polizei benachrichtigen. Steht er aber in einem Vorlesungssaal und doziert über Tierethik, Umweltethik, Klimaethik, bekommt er Lorbeerkränze geflochten, wird mit Preisen überhäuft. Befände er sich mit anderen in einer „Aktivistengruppe“ würde es begeisterte Presseberichte geben, eine Million Wissenschaftler und scharenweise Prominente würden sich solidarisch erklären, berühmte Pianisten würden Bach dazu klimpern. (1)

Mir kommt es aber so vor, als sei diese Art der Ethik einer Gummizelle entsprungen und setze nun alles daran, Ärzte, Pfleger und andere Normalgebliebene in selbige zu sperren. Edgar Allan Poes System des Doktor Teer und Professor Feder ist inzwischen offenbar das herrschende Denksystem geworden.
 

Anmerkung:

(1) Was ich von diesem Pianisten halte, ist derart ad hominem, dass es dafür keine Worte gibt, die öffentlich geäußert werden können. Dadurch spielt er aber nicht schlechter Klavier. Er missbraucht nur Johann Sebastian Bach für ein zutiefst menschenverachtendes Unterfangen und sollte von Euterpe allein deswegen mit lebenslang steifen Wurstfingern an beiden Händen bestraft werden.

Foto: Raimond Spekking CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

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Karla Kuhn / 18.11.2019

Ich meide diese abgehobene Kaste wie die Pest !! Die meisten sind nicht Alltagstauglich,  weder in der Liebe noch im Leben ! Nee, NIE WIEDER !!  Da fällt mir schon wieder Dieter Bohlen ein, der zwar den Spruch nicht erfunden haben soll ihn aber zum GLÜCK populär gemacht hat !

Marcel Bernard / 18.11.2019

Richard David Precht hat im September dieses Jahres im Zusammenhang mit den SUVs, dem Klimathema und dem Einfluss der Grünen davon fabuliert, dass “Menschen Verbote lieben” und damit die Begleitmusik auf dem Weg in die ökofaschistische Diktatur gespielt. Damit hat er sich für mich endgültig aus dem Kreis der Philiosophen verabschiedet. Diesen Mann halte ich mittlerweile für gefährlich.

Sabine Lotus / 18.11.2019

Oh grandios. Der Philodoof debatiert also mit seinem Knirps und belehrt ihn ob der unangebrachten Argumente. Wie war das, das ist wie Schach spielen mit einer Taube. Schmeißt sämtlich Figuren um, kackt auf’s Brett und stolziert dann herum, als hätte sie gewonnen. Das Prinzip scheint ähnlich. Boah, war das jetzt ad hominem.

Leo Hohensee / 18.11.2019

Hallo Herr Alfs, um nicht unangemessen viel Text zu produzieren, sage ich mal, natürlich kann auch ein “Arschloch” vernünftige Dinge von sich geben. Kann oder “könnte” wäre noch zu fragen. Und jetzt kurz: “reinrassige* Arschlöcher” bleiben immer Ar… !!! - *reinrassig im Sinne von Vollzeitar…

Bernd Scheubert / 18.11.2019

Ich begreife einfach nicht, warum der Autor auf ein paar lateinischen Brocken herumreitet. Die Anglisierung der deutschen Sprache ist doch die aktuelle Ausdrucksweise. Got it ? Damit kann man doch viel moderner und gebildeter scheinen als mit ein paar lateinischen Brocken, die eh’ nur noch wenige verstehen. Dagegen wird z. B.  “chatten” und “tweeten” vom letzten Smartphone-Hirntoten verstanden.

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