Vera Lengsfeld / 29.08.2021 / 14:30 / Foto: Imago / 30 / Seite ausdrucken

Monika Maron: „Was ist eigentlich los?“

Andersdenken und Individualität sind heutzutage ebenso wenig gewünscht wie in der DDR. Wie gefährlich es ist, sich abhängig machen zu lassen, beschreibt Monika Maron in ihrem neuen Buch.

Monika Maron, die in diesem Jahr ihren 80. Geburtstag und ihr vierzigjähriges Jubiläum als Schriftstellerin feierte, hat in ihrem neuen Verlag einen Band mit Essays aus vier Jahrzehnten herausgebracht. Was man da lesen kann, ist keineswegs verstaubt, sondern überwiegend brandaktuell. Maron gehört zweifelsohne zu den schärfsten Analytikerinnen des Zeitgeistes. Ihre Beobachtungen sind genau, ihre Schlussfolgerungen präzise. Das bekommen ihre Kontrahenten zu spüren, denen sie keine Ungenauigkeit durchgehen lässt.

Jürgen Kaube bringt in seinem Vorwort ein Beispiel aus dem öffentlichen Briefwechsel mit dem Autor Joseph von Westphalen, mit dem sie 1987 einem größeren westdeutschen Publikum bekannt wurde, weil er wöchentlich in der Zeit abgedruckt wurde.

„Unvergesslich bleibt, wie Westphalen den Spruch 'Schwerter zu Bierdosen' aufnahm, eine Persiflage auf das friedensbewegte 'Schwerter zu Pflugscharen!', um Monika Maron zu fragen, ob der 'pfiffige Aufruf' womöglich aus der DDR stamme. Maron: In der DDR gäbe es gar kein Dosenbier. Und kein Verwaltungsrecht, das einem im Umgang mit dem Staat womöglich nützlicher sei, als Pfiffigkeit. Man könne sich beschweren, aber nicht klagen.“

Solche Sätze liest man in Zeiten der Bundesnotbremse, mit der die Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgehebelt wurde, um die vielen Klagen gegen undurchdachte Corona-Schutzmaßnahmen zu drosseln, ganz neu.

Man solle sich seine Biografien erzählen

Es ist immer schwierig, einen Band mit vielen Essays zu besprechen, deshalb konzentriere ich mich auf eines aus dem Jahr 2002, um meine oben getroffenen Feststellungen zu belegen.

„Lebensentwürfe und Zeitenumbrüche“ ist der Titel des Textes, der in der Süddeutschen Zeitung erschien.

„Wer es sich zu einfach macht beim Rückblick auf seine Geschichte, beraubt sich seiner Biografie.“ Dieser Satz hätte nicht nur Annalena Baerbock als Warnung dienen müssen, bevor sie mit einem zusammenphantasierten Lebenslauf in den Kampf ums Kanzleramt zog. Er ist essenziell, um zu verstehen, was nach der Vereinigung der zwei deutschen Teilstaaten schief lief.

Man solle sich seine Biografien erzählen, forderte die Schriftstellerin Christa Wolf im Osten und Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Westen. Das gegenseitige Verständnis wurde damit nicht wesentlich gefördert.

„Es schien sogar, als ob die ostdeutschen Lebensberichte über Stasiverfolgung, Bildungsbehinderung, Berufsverbote oder auch nur den täglichen Irrsinn, die, da sie ein eintöniges Leben beschrieben auch eintönig anzuhören waren, die Westdeutschen bald langweilten, zumal sie selbst wenig zu Wort kamen.“ Außerdem konnten die Ostdeutschen ihr Leben verklären, wenn es gelang, „den eigenen Lebensfaden“ mit „dem grandiosen historischen Ereignis, dem Sturz eines Regimes und dem Vollzug der nationalen Einheit“ zu verschmelzen. Die Ostdeutschen hatten die Revolution gemacht, von der die Westdeutschen, jedenfalls die 68er, nur geträumt hatten.

Unsere Gesellschaft besteht aus Betreuungsmodulen

Es wurde aber weitgehend übersehen, was die nachhaltigste Hinterlassenschaft der DDR war, nämlich, ihre Bürger in einer Art Dauerpubertät gehalten zu haben.

„Wer ein Leben lang gehindert wird, die berechenbaren Folgen seines Tuns zu verantworten und im Dialog mit seiner Umwelt die eigenen Konturen und Grenzen zu erfahren, wird ein Leben lang nicht erwachsen werden, sondern sich, je nach Temperament, in infantilen Trotz, ziellose Rebellion oder andere Ausweichstrategien flüchten; die defensiven Talente werden bis zur Perfektion entwickelt, während die offensiven verkümmern.

Wer als Staatsfeind endete, begann möglicherweise nur mit einem unbeherrschten Ausbruch gegen einen Lehrer oder Polizisten und setzte damit einen Mechanismus in Gang … bis der aufsässige Mensch sich außerhalb der Gesellschaft wiederfand, zu der er ursprünglich hatte gehören wollen, aber als der, der er war.“

Maron beschreibt hier Mechanismen, wie sie im vereinten Deutschland seit 20 Jahren wieder auferstehen.

Der Hirnforscher Gerald Hüther beschreibt die Infantilisierung unserer Gesellschaft, in der Menschen nicht mehr erwachsen werden wollen. Unsere Gesellschaft besteht aus Betreuungsmodulen, die vom Kindergarten bis zum Altersheim reichen. Das macht Menschen abhängig und unfähig, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Wie soll jemand Verantwortung übernehmen, der das für sich selbst nicht kann?

Es sollte uns eine Warnung sein

Das vereinte Deutschland hätte aus der Erfahrung der Diktatur den Schluss ziehen müssen, dass es alles tun muss, die Autonomie und Selbstverantwortung des Menschen zu stärken. Stattdessen hat es seine Bürger zu abhängigen Betreuungsfällen gemacht. Andersdenken und Individualität sind ebenso wenig gewünscht wie in der DDR. Wie gefährlich es ist, sich abhängig machen zu lassen, beschreibt Maron so:

„Wer in einer Diktatur, und sei es in einer gemäßigten, lebt, neigt dazu, was immer geschieht, oder nicht geschieht, dem anzulasten, der ungebeten in sein Leben eingreift. Misserfolge im Beruf, vergeudete Talente, gescheiterte Ehen, schwere Krankheiten werden den äußeren Zwängen zugeschrieben … Verschwindet die Diktatur, bleiben die Menschen mit ihren als unzureichend oder gar als misslungen empfundenen Biografien allein zurück.“

Auch das sollte eine Warnung sein.

Die Ostberliner Mauer, so Maron, erschien anfangs so unfassbar, dass auch ihre Befürworter an ihre Dauerhaftigkeit nicht glauben konnten. Aber sie wurde mit den Jahren zur Normalität.

„Was nicht zu ändern ist und dauerhaft zu unseren gewohnten Lebensbedingungen gehört, nimmt, so unnormal es auch sein mag, allmählich die Gestalt des Normalen an …“

Genau das geschah mit den Corona-Maßnahmen, die inzwischen zur kaum noch hinterfragten Gewohnheit geworden sind, sodass sie fast widerstandslos nach Abebben der Pandemie weitergeführt werden können. Sollten sie von einer Gesundheitsschutzmaßnahme in eine Klimaschutzmaßnahme überführt werden, ist zu befürchten, dass dies auf wenig Widerspruch stoßen wird.

Wer wissen will, was eigentlich los ist und wie es dazu kommen konnte, der sollte die Essays von Monika Maron lesen.

„Was ist eigentlich los?“ von Monika Maron, 2021, Hamburg: Hoffmann und Campe. Hier bestellbar.

Foto: Imago

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lutzgerke / 29.08.2021

@ G. Böhm Gut! / Was hat die Mauer eigentlich zu Fall gebracht? Daß die DDR als DDR beschrieben worden ist? Die DDR als Zustandsbeschreibung ist so saftlos wie Kamillentee bei Heroinentzug. Mir kommt das so vor wie ein Werbefeldzug für die DDR? Und die Parteien fühlen sich dadurch ja eher animiert als getroffen. Hey, ihr Linken, ihr seid ja Linke! ? Hier ist wirklich einiges schief gelaufen. / Der Wolf kommt im Schafspelz, das wissen wir im Westen.    

Peter Groepper / 29.08.2021

“Das ständige Lügen wird wiederkommen”, so die Bürgerrechtskämpferin Bärbel Bohley in einem Gespräch 1991 über die Entwicklung in der BRD. Und weiter: “Alle diese Untersuchungen, die gründliche Erforschung der Stasi-Strukturen, der Methoden, mit denen sie gearbeitet haben und immer noch arbeiten, all das wird in die falschen Hände geraten. Man wird diese Strukturen genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen. Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien westlichen Gesellschaft passen. Man wird die Störer auch nicht unbedingt verhaften. Es gibt feinere Möglichkeiten, jemanden unschädlich zu machen. Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.” —- Bärbel Bohley, Bürgerrechtlerin (1945-2010)

Hartmut Laun / 29.08.2021

Mal scharf nachdenken, welcher der Kandidaten kann denn so bescheuert sein das Trümmerfeld von Merkel als Bundeskanzler zu übernehmen? Den Schaden, den Merkel angerichtet hat, das ist keiner der durch Ärmel hochkrempeln und mit einer kollektiven Kraftanstrengung wie nach dem 2. Weltkrieg wieder repariert werden kann. Der wird über Generationen mit ungewissen Folgen bleiben, wird dem, wird jedem Amtsnachfolger von Merkel vor die Füße fallen und jeder wird nach kurzer Zeit scheitern müssen.

Geert Aufderhaydn / 29.08.2021

Die Demokratie ist uns von den Amerikanern geschenkt worden. Was man geschenkt bekommt, ist bekanntlich nichts wert, muß daher auch nicht verteidigt werden.

giesemann gerhard / 29.08.2021

@Harald Unger: Gerade die von Ihnen beschriebene historische Erfahrung mit den Deutschen zeigt doch: Besser wir sind nicht allein mit denen. Zur Invasion: Das wird ja geradezu forciert durch ÜberAlimentierung der Alis in DE - die anderen ringsum sind davon so gar nicht begeistert. Nicht mal Österreich, geschweige denn die anderen Visegrads. Wer giftet denn am meisten gegen Ungarn? Und Griechenland? Wobei die alles richtig machen. Usw..

Angela Seegers / 29.08.2021

Meiner Meinung nach ist alles eine Frage der Wahrnehmung. Und um diese ist es nicht gut bestellt in Deutschland.

giesemann gerhard / 29.08.2021

Andersdenkende, Eigenbrötler, Sonderlinge, “Nerds” waren und sind nie beliebt. Was soll’s. Dumm nur, wenn die Doofen Macht bekommen und damit die Abweichler schurigeln können, bis hin zum Mord. Aber gerade DAS erkennen die Nerds am spätestens, als letzte. Die gehen allzu sehr von sich selbst aus ... . Porca miseria. Wer Augen hat zu sehen, ... .

Dirk Jungnickel / 29.08.2021

Es gab immer noch die Möglichkeit , diesen Staat “DDR” zu verlassen, den manche leider fälschlicherweise noch als ihr “Land” bezeichnen. Der “illegale” Versuch konnte einem die Freiheit, die Gesundheit oder das Leben kosten. Der “legale” brachte Schikanen in einer nicht absehbare Wartezeit mit sich. Wir, die wir uns so oder so aufgemacht hatten, diesen SED/ MfS - Staat zu verlassen, hatten zwar gewisse Illiusionen, was die Bundesrepublik betraf, mit ihnen lernte man umzugehen. Dass wir allerdings nach 30 Jahren vom Regen unter der Traufe, vom Überwachungsstaat in einer siechen Demokratie aufwachen würden, haben uns die schlimmsten Alpträume nicht prophezeit. Und das ist auch der Grund, warum wir uns nicht unter die schlafenden Deutschen Michel subsumieren lassen.

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