Es war einmal ein Mann, der es zu etwas bringen wollte. Er träumte von Macht und Einfluss und davon, etwas Besonderes zu sein. Sein Problem war leider, dass ihm so ziemlich alles fehlte, was man dafür zu seiner Zeit üblicherweise brauchte. Er stammte aus keiner der einflussreichen und angesehenen Familien vor Ort, er war nicht reich und besondere Kräfte hatte er auch nicht – aber er hatte Phantasie und Überzeugungskraft! Das zusammen kann, schlau eingesetzt, mehr als genug sein, um es nach ganz oben zu schaffen. Also machte er sich ans Werk.
Zugegeben, für eine Besprechung des Buches „The Wizard of Oz“ von Lyman Frank Baum komme ich 116 Jahre zu spät. Aber an genau dieses Kinderbuch musste ich immer wieder denken, als ich das neueste Buch von Hamed Abdel-Samad, „Der Koran – Botschaft der Liebe, Botschaft des Hasses“, las.
Der Zauberer von Oz kommt mir nach dieser Lektüre wie eine Allegorie auf den Propheten Mohammed vor. Nicht die Sprache oder die Handlung lassen mich Parallelen sehen. Es ist vielmehr die perfekte Scheinwelt des „Zauberers“, der in der Smaragdenstadt herrscht, die er sich mit Tricks und dem Vortäuschen einer Macht, die er nie besaß, angeeignet hatte und sich dort erfolgreich einrichtete. Er kannte die Hebel der Macht, weil er selbst sie erschaffen hat, um nach Bedarf Rauch, Donner und Höllenfeuer hervorzubringen. Jede Regel, jede Drohung in der Smaragdenstadt dient nur dazu, den Zauberer noch größer und mächtiger erscheinen zu lassen, bis dieser eines Tages selbst glaubte, er wäre mächtig und ein großer Zauberer. Doch wehe, es zieht jemand den Vorhang zur Seite…
Den Koran aus dem Himmel der wörtlichen Rede Allahs holen
Hamed Abdel-Samad stellt die richtigen Fragen, wenn er die koranischen Suren und ihre chronologische Entstehung der jeweiligen Lebensphase Mohammeds gegenüber stellt. Der Autor zeigt immer wieder aufs Neue, wie ein gerade „frisch offenbarter“ Text perfekt zu einem aktuellen und akuten Problem im Leben Mohammeds passt. Über den gesamten Zeitraum der mündlichen Entstehung des Korans, angefangen mit Sure 96 bis zur letzten, der Sure 5, weist der Autor detailliert nach, wie perfekt Inhalt und Wortlaut der Korantexte zur aktuellen Situation passte. Enttäuschung, Wut, Rachegedanken, Gebote und Verbote – Mohammed findet durch den Text als Mittler genau die Projektionsfläche, die er für die Legitimation seines Handelns braucht. Nicht Allah spricht durch Mohammed – im Koran spricht Mohammed durch Allah!
Die Zweckmäßigkeit des Textes zieht sich mit Hilfe der sonst nicht üblichen chronologischen Reihenfolge der Suren wie ein roter Faden durch den Koran, ist aber auch die Ursache dafür, dass Muslime heute sowohl Erbauung, Spiritualität und Frieden in den Suren finden können, wie andererseits auch Gewalt, Ausgrenzung und Weltherrschaftsanspruch daraus zu lesen sind – und zwar gleichzeitig! Hamed Abdel-Samad zeigt auf, welchen Zielen und Einflüssen Mohammed zu folgen versuchte, als er die Suren mündlich unter seine Anhänger brachte und wie sich beides im Laufe der Zeit immer wieder anpasste.
Der Autor ist der Meinung, dass es nichts nützt, den Koran pauschal in eine friedliche (weil machtlose) mekkanische Phase und eine kriegerische (weil mächtige) medinensische Phase zu unterteilen. Er legt stattdessen überzeugend dar, dass es vielmehr an der Zeit ist, den Koran aus dem Himmel der wörtlichen Rede Allahs zu holen und ihn dort zu verorten, wo er nach Meinung von Historikern längst hingehört: als schriftlich zusammengetragene, mündliche Überlieferung des Wirkens eines sehr cleveren und erfolgreichen Mannes und Kriegsfürsten aus dem Arabien des 7. Jahrhunderts. Der Koran ist also, wie andere heilige Schriften auch, ein Buch der Auswahl, Interpretation und auch der Weglassung von Texten. Von Menschen überliefert und niedergeschrieben, die ganz und gar Kinder ihrer Zeit waren. Einer Zeit, deren Werte und Kämpfe man besser nicht eins zu eins ins 21. Jahrhundert übertragen sollte.
Fazit: Wieder ein herausragendes Buch von Hamed Abdel-Samad zum Verständnis des Islam. Es könnte sich als wichtiger Beitrag zu dessen Rettung erweisen. Lesen!
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Blog Unbesorgt.