„Möge Allah es spät geschehen lassen!“

„Allah gecinden versin!“ – „Möge Allah es spät geschehen lassen!“ Der Satz wird in der Türkei oft verwendet. Besonders, wenn es um den Tod, oder eine schlimme Krankheit, und überhaupt um Dinge geht, die zwangsläufig passieren werden, aber die man nicht jetzt schon erleben möchte, sondern später halt.

Der Eine tat es letztes Jahr und der Andere im März dieses Jahres. Die Rede ist vom ehemaligen Ministerpräsidenten der Türkei unter Erdogan, Ahmet Davutoglu, und dem ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten und für die Wirtschaft zuständigen Minister, Ali Babacan.

"Auf Grundlage der bisherigen Erfahrung mit dem Präsidialsystem stehen wir für ein parlamentarisches System, ohne jegliche Bevormundung. Aber dieses parlamentarische System darf nicht das gleiche sein, das uns der Putsch von 1980 beschert hat, sondern ein durch und durch freiheitliches parlamentarisches System", so Davutoglu. Klingt gut, aber solche Reden hat auch Erdogan früher gehalten. Die Partei von ihm heißt „Zukunftspartei“.

Die Risse im konservativen Lager sind tief. So machte sich auch Ali Babacan auf und gründete die „Demokratie und Innovations-Partei“. Da Babacan in der guten Zeit der türkischen Wirtschaft für die wirtschaftlichen Belange zuständig war, passt der Name zu ihm. Der als frommer Muslim geltende Babacan war Wirtschaftsminister und führte das Land aus einer Krise. Er war zwischenzeitlich Chefunterhändler für die EU-Beitrittsgespräche. Zu den Unterstützern soll auch der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül gehören.

Still und leise und nicht sonderlich angriffslustig

Den Spruch „Möge Allah es spät geschehen lassen!“ in dem Zusammenhang, wie ich sie jetzt schildern werde, würden sie nicht laut aussprechen, aber er beschreibt exakt das Bild, das Babacan und Davutoglu in der Öffentlichkeit abgeben. Sie sind still und leise und nicht sonderlich angriffslustig. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen regulär erst 2023 sind. Eigentlich noch lange hin, für türkische Verhältnisse, denn hier ist man in der Ära Erdogan, besonders in den letzten Jahren, daran gewöhnt, alle paar Monate wählen zu gehen, und sei es auch nur, um die Wahlen zu wiederholen, weil das Ergebnis nicht passte. Der alte Taktiker Erdogan (Ironie) erweckt hin und wieder das Gefühl, dass für ihn vorgezogene Wahlen Sinn machen, bevor er 2023 noch schlechter dasteht, denn bei den Umfragen sinken seine Sympathiewerte. Immer wenn der Eindruck entsteht, es geht auf vorgezogene Wahlen zu, müssten die beiden – Babacan und Davutoglu – Zuckungen bekommen und sagen: „Möge Allah es spät geschehen lassen!“

Über Krisen spricht man nicht, über die schwere Wirtschaftskrise in der Türkei auch nicht, beziehungsweise es ist per Dekret verboten worden, Schlechtes über die Wirtschaft zu schreiben, was die Menschen demoralisieren würde. Daran, dass noch ein Hauch von Moral und Motivation vorhanden ist, kann auch nur ein Erdogan glauben. 

Während die Türkstat einen Rückgang der Arbeitslosenzahlen vermeldete – und das zu Corona-Zeiten! – kommen Erhebungen der Arbeitnehmerverbände der Türkei zu einer Arbeitslosenquote von 39 Prozent. Türkstat zählt beispielsweise einfach nur die als Arbeitslose, die in den letzten vier Wochen nach Arbeit gesucht haben. Diejenigen aber, die die Hoffnung aufgegeben haben, fallen aus der Statistik. Die schlechte Wirtschaftslage ist dennoch derzeit ein Schutzschild für Erdogan, denn wer möchte ausgerechnet in dieser Phase an die Macht gelangen und einen bankrotten Staat regieren?

„Schau dir die Mutter an und du begreifst die Tochter“, heißt ein alter Spruch. Ich begreife die Mutter (Türkei), wenn ich mir die Tochter (Istanbul) anschaue. Seit einem Jahr ist der OB von Istanbul nunmehr im Amt. Viel Sichtbares hat er nicht gemacht, kann er auch nicht. Womit denn? Die Stadt ist überschuldet, wie eigentlich viele Städte weltweit, jedoch waren die Einnahmequellen außerdem angezapft, und zwar von den Seilschaften und Stiftungen rund um Erdogan.

Erdogan wird uns noch lange erhalten bleiben

Tausende städtische Angestellte waren lediglich angestellt und bekamen Gehalt, ohne auch nur einmal einen Handschlag für das Geld, was sie bekamen, getan zu haben. Istanbul zeigt den Zustand, den der Nachfolger von Erdogan erleben würde, wenn er jetzt in diese Phase hineingewählt werden würde. Katar unterstützt Erdogan und bekommt als Gegenleistung Stück für Stück die Türkei dafür. Nicht nur Grund und Boden, auch die tragenden Unternehmen des Landes gehören bereits den Katarern. Eigentlich könnte man die Türkei bald Katar II nennen. Andere kaufen sich mit ihrem Geld eine Insel, die Katarer kaufen sich gleich ein ganzes Land.

Die schlechte Wirtschaftslage mussten weltweit Diktatoren mit ihrem Leben bezahlen, oder sie zahlten zumindest mit dem Zustand, dass sie aus dem Land verjagt wurden. Nicht so bei Erdogan. Geht nicht! Wer möchte schon so ein Chaos übernehmen, zumal man nicht einmal ermessen kann, wie groß dieses ist. Stell dir vor, du bist ein Unternehmer und hörst irgendwann mal auf, die Buchhaltung zu machen. Erstaunlicherweise spielt das Finanzamt mit, und du lässt es dir gutgehen. Brutto gleich netto macht Laune. Du kaufst, verkaufst, verschenkst, wen kümmert es schon? Nichts anderes passiert derzeit in der Türkei, mit der Türkei.

Durch immer neue Formeln der Wirtschaft und verfälschter Zahlen kann man den Ist-Zustand der Türkei nicht mehr ermitteln. Wer hat wann was mitgehen lassen? Weiß man nicht! Da die Ära Erdogan oder eher das Debakel Erdogan (aus der Sicht der Türkei) schon 18 Jahre andauert und die Regierung seit bald über zehn Jahren kein Kontrollorgan mehr akzeptiert, wissen nicht einmal die Beteiligten, wie es um die Finanzen der Türkei steht.

Da gibt es noch die Asset-Fonds der Republik Türkei. Darin sind alle Werte enthalten, die die Türkei noch hat. Dazu gehören die staatlichen Banken, die Anteile an Turkish Airlines sowie alle staatlichen Betriebe und Beteiligungen. Auch die staatseigenen Grundstücke und Gebäude sind da mit hineingerechnet worden, damit man diese, wenn man denn Geld leihen möchte, beleihen oder gleich überschreiben kann. Wer jetzt denkt, dass das nicht so leicht funktioniert, irrt sich, denn Erdogan ist letztendlich Alleinzeichnungsberechtigter.

Babacan und Davutoglu danken Allah, dass da ein Schutzschild um ihn ist, und sie noch nicht am Zug sind. Fünfmal am Tag gehen sie beten und sagen jedes Mal: „Möge Allah es spät geschehen lassen!“

Foto: Bundesregierung.de

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Wilfried Cremer / 10.07.2020

Die Scheichs werden aber bedröppelt aus der Wäsche schauen, wenn sie - es möge spät geschehen - dereinst enteignet werden.

Volker Kleinophorst / 10.07.2020

Mir reicht schon das Bild oben. “Das Grauen, das Grauen.” (Passenderweise Marlon Brando in “Apokalypse now”). Wilhelm II, Hitler, Merkel. Das wird eines Tages als der Idioten-Dreisprung in die Geschichte eingehen.

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