Roger Letsch / 24.08.2019 / 12:00 / Foto: Pixabay/Montage Letsch / 19 / Seite ausdrucken

Moderne Kunst: Goethe und das Klopapier

Sind Sie manchmal beim Lesen von Nachrichten oder als Zeitzeuge der Aktivitäten ihrer Mitmenschen peinlich berührt, verstört oder gar angeekelt? Blicken Sie in die Gesichter ihrer Mitmenschen, um festzustellen, ob es denen ebenso geht? Dann machen Sie sich keine Sorgen, denn sehr wahrscheinlich wohnen Sie der Entstehung von moderner Kunst bei. Moderne Kunst ist häufig anders und bringt im Publikum gänzlich neue Saiten zum Schwingen, als dies in überwundenen, patriarchalen Zeiten der Fall war. Und sei die angeschlagene Saite auch nur der Nervus vagus. Das jüngste Meisterwerk der „Frankfurter Hauptschule“, einem halbanonymen feministischen Künstlerkollektiv mit RAF-zweipunktnull-Attitüde, war jedoch nicht einfach ein Griff ins Klo! Stattdessen langte man gründlich daneben.

Nicht die in den Augen der Künstler verdienten Exkremente warf man nach Goethe, um den Antifeministen, Rösleinbrecher und alten weißen Mann aus Weimar hart zu treffen. Man griff zu gerolltem und gebleichtem – womöglich mehrlagigem – Toilettenpapier und holte kräftig aus. So entsteht heute Kunst, ein wirklich großes Geschäft! Zu dumm nur, dass im Gegensatz zur Kunst Goethes kein Blättchen davon auf die Nachwelt kommen wird, und während Artefakte oder Handschriften des Geheimen Rates hoch geschätzt werden, verursachte der öffentliche Unrat der Neukünstler nur Reinigungskosten von 400 Euro. Geschätzt, versteht sich.

Doch lassen wir die Frankfurter Hauptschüler mal beiseite. Um erfolgreich an Goethes Sockel pinkeln zu können, braucht es ohnehin größere Terrier. Vergeben, vergessen. Auch muss man wohl bei Menschen, die keine Politiker sind, etwas großzügiger mit Prinzipien umgehen, denn einer der aktuellen Slogans der „Frankfurter Hauptschule“ lautet ja „Unsere Kunst ist nicht stubenrein, unsere Kunst ist amoralisch. Und das ist gut so“, was die moralisierende Goethe-Anschmutzung doch irgendwie ins Reich des Absurden schiebt, wo sie ja auch hingehört. Wenn postulierte Amoral über unterstellter Amoralität den Hammer hebt, kommt nur selten ein Urteil von Bestand dabei heraus.

Moralisierung und Selbstüberhöhung

Und doch wird hier etwas thematisiert, was sich wie ein roter Faden durch die letzten Jahre überschäumender öffentlicher Moralisierung und Selbstüberhöhung zieht. Vielleicht sogar absichtsvoll, gewissermaßen als Spiegelung – und nur dann fände diese alberne Performance vor dem Weimarer Goethehaus meinen Beifall.

Es ist nämlich eine schlechte, neudeutsche Angewohnheit, mit der eigenen intellektuellen und moralischen Elle (als Smartphone-App womöglich) durch die Geschichte zu wandern und auf dem Weg zurück in graue Vorzeit links und rechts moralische Ohrfeigen zu verteilen. Goethe stellte deutlich jüngeren Frauen nach, Kant war ein Pedant, Luther war ein belfernder Antisemit, Churchill war im Grunde ein Kolonialist, James Joyce war Alkoholiker … überall findet man was zu kritteln, niemand kommt auf den Gedanken, dass es vom logischen Standpunkt aus unzulässig ist, auf diese Weise in der Gegenwart in Angelegenheiten Urteile über die Vergangenheit zu fällen, von denen diese nichts wissen konnte.

Ein Urteil kommt, wenn überhaupt und wenn es sich nicht gerade um Schwerverbrecher handelt, Zeitgenossen und Nachfolgern zu, die noch nahe genug am Zeitgeschehen sind, um den Ort im See bezeichnen zu können, wo der Stein das Wasser durchbrach, anstatt sich Jahrhunderte später über das Kräuseln der Wellen am Ufer lustig zu machen und zu behaupten, man könne das viel besser. Die Richter sind sich in der Betrachtung sowohl im Fall Goethes als auch Luthers, Kants oder Joyce einig: Das Genie überstrahlt die sonstigen Unzulänglichkeiten bei weitem, die durch die Betrachtung mit neofeministischer Brille entstehen könnten.

Mach nicht kaputt, was Dich kaputt machen kann

Es geht der Mensch, es bleibt die Kunst. Und ist es nicht seltsam, dass man dank modernster Erkenntnisse der Gender-Wissenschaft heute zwar 64 unterschiedliche Geschlechter identifizieren (bei Mondschein 65) und ihnen individuelle, unveräußerliche und nicht verhandelbare Rechte zuordnen kann, jedoch bei Goethe, der seit 187 Jahren als Mensch tot ist, nicht in der Lage zu sein scheint, die Unsterblichkeit und Unteilbarkeit seines Werkes anzuerkennen?

Dabei ist man als „progressiver Künstler” heute in der Wahl seiner Zielscheiben sehr selektiv und bedenkt das Echo, das einen erwartet. Man schafft es gerade mal, Göttern der Kunst wie Goethe ans Bein zu pinkeln, schreckt aber vor selbsternannten Propheten zurück, denen man aus heutiger Sicht dieselben Vorwürfe mangelnden Feminismus machen könnte. Ein Germanist, der vor Wut schäumend über so viel Impertinenz den Zauberlehrling zitiert, macht dem modernen Spötter keine Furcht – zu recht.

Ein Schriftsteller, der die „Satanischen Verse“ schreibt, muss sich hingegen für den Rest seines Lebens versteckt halten – aus gutem Grund. Die Frage, ob Goethe den Maßstäben des 21. Jahrhunderts in Sachen Emanzipation und Frauenrechten entsprechen kann, ist nicht zu beantworten – schon deshalb, weil sie sich nicht stellt. Kommt man mit derselben Elle aber einem gewissen Religionsstifter aus dem 7. Jahrhundert zu nahe, sind der empörte Aufschrei und die Beteuerung kultureller Bereicherung groß.

Jede Zeit hat ihre Symbole, und wenn Goethe im 18. Jahrhundert noch keine Begriffe für Feminismus, moderne Kunst, Regietheater oder für von Weltgerechtigkeit fantasierende Künstlerkollektive hatte, so würde er umgekehrt die beabsichtigte Symbolik in dem gerollten und saugfähigen Papier nicht erkennen, denn das Toilettenpapier in dieser Form wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts erfunden. Diese Kunstaktion der „Frankfurter Hauptschule” bleibt also einerseits in der Metapher stecken, füllt diese aber auf der anderen Seite mit Bedeutung: Die Realschul- oder Gymnasialempfehlung wurde zu recht verweigert.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs BlogUnbesorgt”.

Foto: Pixabay/Montage Letsch

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Leserpost

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Wolfgang Kaufmann / 24.08.2019

Ein Alleinstellungsmerkmal jenes Volkes, dem die Italiener und Franzosen die Invasion der Barbaren zu verdanken haben, ist die absolute Elitefeindlichkeit. Der dümmste Vollhorst und die schrägste Esoteriktussi bekommen mehr mediale Aufmerksamkeit als der erfahrenste alte weiße Mann. – Jeder Minderbegabte darf zweiunddrölfzig Silvester studieren ohne irgendwie unter Leistungszwang zu geraten, und wird am Ende eben Märchenonkel oder Energieberaterin bei der Firma Heinzelmann. – Ja, es gibt das deutsche Wesen und unsere Nachbarn erkennen es hundert Meter gegen den Wind. Dann hören wir nur ein leises TOC TOC TOC.

E. Albert / 24.08.2019

Werden demnächst dann wieder Bücher und Partituren unliebsamer Dichter, Denker, Autoren und Komponisten publikumswirksam verbrannt? Diese Art verblendeten, verblödeten Eifer hatten wir schon. Vielen Dank. Neuauflage unerwünscht.

Bechlenberg Archi W. / 24.08.2019

So richtig gute Menschen, an denen es nichts zu bemängeln gibt, wandel(te)n erst seit Erfindung des Sozialismus auf Erden. Zuvor gab es nur Figuren, denen man zwar spät, aber wenigstens jetzt noch ans Bein pinkeln kann. Da gibt es noch vieles auszugraben! Ob George Washington oder Faun Mozart, ob Fürstenknecht Leonardo da Vinci, der für Ludovico Sforza gefährliche Waffen ersann, die heute in jeder deutschen Innenstadt verboten wären (Leonardo war allerdings schwul, was ihn ein wenig rehabiliert) oder Walther von der Vögelweide mit seiner Obsession für einsame Burgfräulein, von jeder Menge Päpsten ganz zu schweigen. Und was ist mit Moses, der das Meer teilte und damit die Fauna und Flora empfindlich schädigte? Und was ist mit dem Kinderfreund Mohammed? Ach nein, der nicht. Der war ein Mensch seiner Zeit.

Ilona G. Grimm / 24.08.2019

@Max Wedell: „[...] wäre doch besser gewesen, diese Aktion einfach zu ignorieren.“ Ja, man möchte solche Aktionen ignorieren, um ihre Bedeutung nicht zu verstärken. Aber ich finde es doch wichtig, darauf einzugehen. Nicht alle Menschen haben ständig „Pech beim Denken“. Manche sind gelegentlich für Argumente zugänglich. Für diese Menschen müssen unermüdlich Berichte wie dieser geschrieben werden. Danke, Herr Letsch, für die Mühe. // Ich frage mich manchmal, ob es nicht schlicht und einfach grün-roter NEID ist, der diese Menschen antreibt. Neid auf Erfolg, Leistung, Anerkanntsein, Intelligenz, Mut, Weitsicht, Bildung, gutes Aussehen, Gewandtheit, Stil/Klasse, Vielseitigkeit, (Welt-) Geltung über den Tod hinaus, etc. pp.? Neid von in jeder Hinsicht Minderbemittelten?

Ulrich Jäger / 24.08.2019

„Goethes ‚Heidenröschen‘, sagte Franz Löbling von der Klassik-Stiftung, ‚sei ein Gedicht, bei dem die ‚Vergewaltigungsinterpretation‘ durchaus möglich sei. Aber ich halte es für die Pflicht der Lehrer, die offene Deutungsmöglichkeit zu vermitteln.“ („Thüringer Allgemeine“ 22.08.). Das von einem der Weimarer Gralshüter der deutschen Klassik zu dem „Happening“ der Hauptschüler an Goethes Gartenhaus ist nichts weiter als billiges Heranschleimen an den Zeitgeist (oder das, was er dafür hält). Aber heute ist nichts mehr unmöglich, wenn man auf den vulvenmalenden Kirchentag schaut, der spätestens seit dem Reformationsjubiläum sich des antisemitischen Reformators schämt.

Karla Kuhn / 24.08.2019

“Das jüngste Meisterwerk der „Frankfurter Hauptschule“, einem halbanonymen feministischen Künstlerkollektiv mit RAF-zweipunktnull-Attitüde, war jedoch nicht einfach ein Griff ins Klo! Stattdessen langte man gründlich daneben.”  Hauptschule ?? ABGANG NEUNTE KLASSE ? Ich glaube nicht, daß Hauptschüler sich an so einem Mist beteiligen würden !  Wissen die überhaupt wer Goethe war ??  Ich habe eine Frage,  HABEN DIE EINEN AN DER KLATSCHE ?????,  Übrigens, warum Klopapier ?? Wären ihre, wahrscheinlich- reizlosen Unterhosen, genannt Pumper- nicht viel interessanter gewesen. Das Wort “feministisch” verursacht bei mir Brechreiz. Bei Aktionen solcher Art frage ich mich, haben die Akteure SO WENIG SELBER zu bieten, daß die sich mit so einem Dreck ins Rampenlicht stellen müssen ??  WAS kommt als nächstes ?? Daß Goethe eine ihrer UR UR… Großmutter betatscht hat ??  Goethe war Feinschmecker, entweder konnte seine Angebetete gut kochen, wie Christiane Vulpius, er konnte sich geistig mit ihr auf einer Ebene, wie mit Frau von Stein und seiner Mutter austauschen oder sie waren wesentlich jünger als er.  Jedenfalls haben wir diesem Dichter und Denker noch heute viel zu verdanken. Aber in Deutschland scheinen ja die Denker auszusterben !  Gestern konnte ich auf meiner Startseite eine wirklich HERRLICHE Schlagzeile lesen, KEIN WITZ !  Die Deutschen werden IMMER GLÜCKLICHER !!

J. Polczer / 24.08.2019

Zwei Kommentare über diese Aktion. Oha! Tut mir leid, aber ich sehe nicht die gesellschaftliche, hohe Relevanz, dass der Vorfall 2 Mal kommentiert werden muss. Es ist niemand daran gestorben oder auch nur verletzt worden. Goethe interessiert es nicht mehr oder er wäre sogar amüsiert. Immerhin hat er auch den berühmten Spruch des Ritter Götz von Berlechingen verwendet, vielleicht sogar geprägt. Es scheint ja nicht so ganz sicher, ob der Götz diesen berühmtesten aller Sprüche in deutschen Landen erfunden hat, oder ob es der Goethe war. Vielleicht, aber nur vielleicht, könnte der dritte Autor dann das Zitat beherzigen, falls er verführt sein sollte, noch einmal über dieses Event zu schreiben.

Bernhard Maxara / 24.08.2019

Wieso kostet die Beseitigung des Drecks 400 Euro? Soll das heißen, man läßt diese Erdferkel ihren Mist nicht wieder beseitigen?

herbert binder / 24.08.2019

All den Klopapierrollenverdienstordenträgern geht es nicht um Goethe, Domingo oder sonstwen aus dem Regal der Kultur-Schwergewichte (who and what the fuck is john? Lokus, Klo oder Johann, oder vielleicht beides - rein umgangssprachlich?). Die wollen action, die feiern ausschließlich sich selbst. Aufmersamkeitsheischend. Den Beifall der Szene (und sonst) bedürfend. Und Beachtung wird denen reichlich zuteil. Somit Plansoll erfüllt. Wie immer: auf Kosten der “Leute”. Der andere Wolfgang, der Don Amadé, hat das ganze Theater möglicherweise vorausgeahnt und seine Hauptfigur vorsorglich der Höllenglut anvertraut. Ob’s ihm helfen wird? Wir werden seh’n. Kommt Zeit, kommt Unrat.

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