Bergpredigt 7.5 „Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.“
In der Nacht zum 6. Dezember 2007 brach im Turiner Stahlwerk von ThyssenKrupp ein Brand aus. Es kam dabei zu einem Rohrbruch, und heißes Öl ergoss sich über die anwesenden Arbeiter. Nur einer überlebte, sieben seiner Kollegen erlagen ihren Verletzungen, manche erst Wochen später unter fürchterlichen Schmerzen.
Was war geschehen? Das Turiner Werk von ThyssenKrupp stand 2007 kurz vor der Schließung. Nach Ansicht der Anklage waren deshalb Sicherheitsvorkehrungen vernachlässigt worden. Das Management hatte wohl angenommen, dass es sich nicht mehr lohnte, in die Verbesserung der Sicherheitsvorkehrungen zu investieren. Vorhergehende Ermahnungen durch die italienischen Sicherheitsorganisationen waren daher nicht umgesetzt worden. So sollen in der Nacht des Brandes Feuerlöscher leer gewesen sein, und das Nottelefon soll nicht funktioniert haben.
Die italienische Staatsanwaltschaft warf zwei deutschen und vier italienischen Managern vor, das Risiko eines Brandes "bewusst in Kauf genommen zu haben". ThyssenKrupp widersprach dem und wies auf eine "Verkettung unglücklicher Umstände" hin. Mittlerweile hat der Konzern allerdings die Hinterbliebenen mit insgesamt rund 13 Millionen Euro entschädigt. Außerdem versicherte ThyssenKrupp, die Ausbildung der Kinder der toten Arbeiter zu bezahlen.
Der deutsche Werkschef Harald Espenhahn wurde in erster Instanz zu 16 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, fünf weitere Angeklagte zu Haftstrafen zwischen 10 und 13 Jahren. Das galt als ein hartes Urteil, mit dem ein Exempel für mehr Sicherheit am Arbeitsplatz statuiert werden sollte. Das Kassationsgericht, die höchste Instanz im italienischen Strafsystem, befand im April 2014, das Urteil sei unverhältnismäßig hart und ordnete eine Neuauflage des Prozesses an.
Die deutschen Verurteilten sitzen bis heute nicht ein
Insgesamt neun Jahre mussten die Angehörigen der Opfer auf ein definitives Urteil warten. Im Mai 2016 war es dann so weit: Das Kassationsgericht bestätigte diesmal die Verurteilungen wegen fahrlässiger Tötung. Espenhahn, ehemaliger Chef des Werks wurde zu 9 Jahren und 8 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, Priegnitz, damaliger Finanzchef von ThyssenKrupp, zu 6 Jahren und 3 Monaten.
Die italienischen Verurteilten traten die Strafen am Tag nach der Urteilsverkündung an. Allerdings haben die zwei deutschen Verurteilten bis heute ihre Strafe noch immer nicht angetreten – und das, obwohl das Urteil seit über drei Jahren rechtskräftig ist.
Ausgeliefert nach Italien werden sie auch nicht. Den geltenden bilateralen Abkommen zufolge könnten die beiden Manager die Haftstrafe in Deutschland verbüßen – allerdings in dem Umfang, der in der Bundesrepublik für die entsprechenden Straftaten vorgesehen ist. Für fahrlässige Tötung sind das hier höchstens fünf Jahre.
Vor zwei Jahren verlor der italienische Justizminister Andrea Orlando die Geduld. Die Vollstreckung seitens der Deutschen dauerte ihm zu lange, weswegen er seinem deutschen Kollegen, dem damaligen Justizminister Heiko Maas, ein Schreiben zukommen ließ. Zwar handele es sich nicht um einen "offiziellen Schritt", ließ Orlando wissen, er wolle aber schon einen gewissen politischen Druck ausüben. Reaktion aus dem Hause von Heiko Maas – proprio niente. Aber man trifft sich im Leben immer zweimal. Heute ist Heiko Maas Bundesaußenminister. Und er twittert gerne, das hat er mit dem US-Präsidenten gemein.
Das Ganze sieht nach einer Machtprobe aus
Nun wurde eine deutsche Staatsbürgerin auf der Insel Lampedusa verhaftet. Die „Kapitänin“ Carola Rackete hatte vergangene Woche das NGO-Rettungsschiff „Sea-Watch 3“ mit mehr als 40 Migranten an Bord unerlaubt in die italienischen Hoheitsgewässer gesteuert. In der Nacht auf Samstag fuhr sie – ebenfalls trotz eines Verbots – in den Hafen der sizilianischen Insel Lampedusa. Die italienische Staatsanwaltschaft wirft Rackete nun Widerstand gegen ein Militärschiff und Vollstreckungsbeamte vor. Rackete hatte sich nicht nur über Anweisungen hinweggesetzt, das Schiff hatte beim Anlegen in Lampedusa sogar ein kleines Schnellboot der Finanzpolizei zwischen Pier und dem 650 Tonnen schweren Bootskörper der Sea-Watch eingeklemmt, wobei sich Polizisten durch Sprünge an Land retteten.
Zudem wird gegen Rackete wegen Beihilfe zur illegalen Migration ermittelt. „Es gab keine Notlage“, sagte der Staatsanwalt Luigi Patronaggio am Montagabend. Sea-Watch habe auch außerhalb des Hafens ärztliche Hilfe bekommen. Das Schiff hätte ohne Weiteres eine anderes Land anlaufen können. Aber Rackete erzwang die Einfahrt in den italienischen Hafen, obwohl selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wenige Tage vor dem unerlaubten Einlaufen in Lampedusa einen Eilantrag abgelehnt hatte, mit dem Schiff in Italien anlegen zu dürfen. Das Ganze sieht eher nach einer Machtprobe aus.
Einhellig ist die deutsche Politik über die Italienische Regierung in höchstem Grade empört. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagt: „Wer Menschenleben rettet, kann kein Verbrecher sein“, von einem EU-Gründungsstaat wie Italien erwarte Deutschland einen anderen Umgang mit solchen Fällen. (Dass er sonst andere Saiten aufziehen wird, bleibt unausgesprochen.) Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) forderte Racketes „sofortige Freilassung“ und ein Ende der „unhaltbaren Zustände“. Der Grünen-Chef Robert Habeck kritisierte die Festnahme der Kapitänin der „Sea Watch 3“, Carola Rackete, scharf: „Die Verhaftung von Kapitänin Rackete zeigt die Ruchlosigkeit der italienischen Regierung und offenbart das Dilemma der europäischen Flüchtlingspolitik“.
Und natürlich erwartet auch der Bundesaußenminister Heiko Maas eine schnelle Freilassung der in Italien festgenommene Kapitänin der "Sea-Watch 3". Maas twitterte: „Aus unserer Sicht kann am Ende eines rechtsstaatlichen Verfahrens nur die Freilassung von Carola Rackete stehen." Das werde er Italien nochmal deutlich machen.
Hoffentlich fragt dann nicht der Italienische Außenminister höflich nach dem werten Befinden der Herren Espenhahn und Priegnitz.