Gastautor / 05.04.2020 / 16:00 / Foto: Honoré Daumier / 19 / Seite ausdrucken

Mit Tocqueville durch die Corona-Krise

von Marc Jacob.

In der Corona-Krise wird unser Staatswesen auf eine harte Probe gestellt. In Rekordzeit wurden dabei Grundrechte beschnitten und ein de facto Ausnahmezustand erzeugt, der das öffentliche Leben an den Rand des Stillstands bringt. Doch wie weit darf dies gehen? Wie weit muss sich das Individuum dem Gemeinwesen unterordnen? Und welche Aufgaben sollte der Staat übernehmen?

Das Corona-Virus sorgt in Deutschland für einen Ausnahmezustand. Von Geschäftsschließungen über Kontaktverbote zu Ausgangssperren wurde unser alltägliches Leben in wenigen Tagen grundlegend verändert. Scheinbar ohne Widerspruch dulden die Bürger die Abschaffung der Grundrechte, für die sie über Jahrhunderte hinweg kämpfen mussten. Im Zuge der Krise wurden die Bewegungsfreiheit, die Berufsfreiheit und die Versammlungsfreiheit massiv eingeschränkt. Darüber hinaus traf es auch eins der höchsten Freiheiten unseres Staates – die Glaubensfreiheit.

Für einen möglichen Schutz des Kollektivs wurden individuelle Interessen zurückgestuft und dem Bürger die Entscheidungsgewalt entzogen – der Staat entscheidet in der aktuellen Krise für und über die Bürger. Das Staatswesen tritt dabei als Vertretung der Öffentlichkeit auf – es diktiert die Meinung und stuft Interessen ein. Aus einem legitimen Aufruf zu wirkungsvollen Maßnahmen, die entschlossen umgesetzt werden sollten, entwickelte sich der Wunsch nach einer deutlich sichtbareren Autorität.

Schon Alexis de Tocqueville befasste sich vor 200 Jahren mit diesem Problem der Demokratie – dem Ausgleich zwischen individuellen Interessen und den Interessen des Gemeinwesens. Darf der Staat in der heutigen Krise entscheiden, dass die Sorgen Einzelner wichtiger sind als die Probleme der Anderen? Wer sagt, dass die aktuellen Maßnahmen vor mehr Schaden schützen, als sie anrichten? Und sollte der Staat nicht jede Entscheidung rechtfertigen, auch wenn diese im Ausnahmezustand getroffen wird?

Für die gefühlte Mehrheit der Bevölkerung scheint aktuell „Sicherheit“ die oberste Maxime zu sein. Der Staat wird als Macht gesehen, der die Ordnung übernehmen sollte, der jedem Einzelnen vorschreiben sollte, wie er zu agieren hat. Doch viele begehen dabei einen grundsätzlichen Denkfehler – eine Demokratie kann niemals nur von staatlichen Behörden ausgehen, sondern die individuelle Verantwortung des Einzelnen ist elementar für unser Staatswesen. Tocqueville warnte in diesem Zusammenhang auch von der "Tyrannei der Mehrheit“.

Belastungstest für die liberale Demokratie

Unser modernes und liberales Staatswesen ist stark von der antiken Idee der „Agora“ geprägt – dem zentralen Ort, an dem Diskussionen stattfinden und ein Konsens gefunden wird. Das Abwägen von Zielkonflikten ist dabei ein entscheidendes Mittel, welches unser Staatswesen auszeichnet, damit Lösungen gefunden werden, die nicht nur für die Mehrheit, sondern auch für die Minderheit akzeptierbar sind. In der aktuellen Krise unserer Gesellschaft kommt dies jedoch zu kurz. Die Entscheidungen werden nicht abgewogen, sondern im Sinne der „gefühlten“ Mehrheit getroffen.

So scheint es, dass die Gesellschaft keinerlei Diskussion über die Folgen der aktuellen Krisenpolitik mehr zulässt. Weitergehend ist insbesondere verwunderlich, wie sich die Menschen aus der Öffentlichkeit zurückziehen und die weiteren Schritte nur noch abwarten. Diese isolierenden und desintegrierenden Tendenzen bilden dabei auch für Tocqueville eine große Gefahr. Der Bürger leugnet somit den Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft, was sich insbesondere an der vehementen Forderung nach Ausgangssperren, die im optimalen Fall mit hohen Geldstrafen durchgesetzt werden sollen, zeigt. Anstatt abzuwägen und dem Individuum mehr Vertrauen zu schenken, wird einzig auf den Staat als ordnungspolitische Macht gesetzt.

Im Zuge der Krise scheint der Bevölkerung somit kein Grundrecht mehr heilig zu sein – allein um das übergeordnete Ziel zu erreichen, wird dem Staat das gesamte Vertrauen geschenkt. Dass eine Gesellschaft ohne das Individuum nicht bestehen kann, wird dabei außer Acht gelassen. Tocqueville bezeichnet dies als „die Unfähigkeit, die eigene Verantwortung in die Hand zu nehmen“. Je unmündiger und schwächer das Individuum sei, umso größer sei die Gefahr für die Demokratie, denn die Menschen seien abhängig von einer zentralen Staatsgewalt.

Zwar zeichnet Tocqueville in seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika“ ein sehr positives Bild der Demokratie, jedoch sah er auch die weitreichenden Gefahren, die von der Demokratie ausgehen. Diese zeigen sich nun auch in der heutigen Krise. Denn das Begehren der Bürger nach einem Beschützer entwöhnt jeden allmählich der freien Selbstbestimmung – für Tocqueville beginnt an dieser Stelle die Tyrannei.

Warnung vor schlichtem Staats-Vertrauen

Die Frage, wie sich Freiheit und Gemeinschaft in Einklang bringen lassen, ist auch die Frage, die wir uns heute stellen müssen. Ergibt es Sinn, dass der Einzelne seine Rechte, aber auch seine Verantwortung aufgibt und sich schlicht den Notstandsgesetzen des Staates unterwirft? Oder sollte unsere Gesellschaft nicht weiter sein? Sollte es für uns nicht möglich sein, dass der Einzelne seine Lebensführung selbst gestaltet und sich selbst seinen Pflichten bewusst wird? Denn es ist die wichtigste Aufgabe unseres Grundgesetzes, die Macht des Staates im Interesse der Freiheit des Einzelnen zu beschränken.

Auch für Tocqueville war das Ziel aber keine egoistische, sondern vielmehr eine mündige Gesellschaft. Er bezeichnete dies als „die Lehre vom wohlverstandenen Eigennutz“, bei dem sich der mündige Bürger eben selbst die Interdependenz zwischen partikularen Interessen und den Belangen des Ganzen verdeutlicht. Eine solche Mündigkeit – bei der der Bürger selbstbestimmt auftritt und am Ende moralisch agiert – wäre heute dringender nötig denn je. Denn keine Krise rechtfertigt den Abbau von Grundrechten.

Somit helfen uns die Analysen Tocquevilles, zu verstehen, dass wir auch in der Krise nicht kopflos einer zentralen Staatsgewalt vertrauen sollten. Für ihn war die Krise auch ein Moment, bei dem sich das wahre Ich der Gesellschaft zeigt: „Der Mensch bleibt in kritischen Situationen selten auf seinem gewohnten Niveau. Er hebt sich darüber oder sinkt darunter.“ Unsere Aufgabe muss es nun sein, das Individuum über den Staat zu stellen und auch im Ausnahmezustand nicht den Raum der Öffentlichkeit aufzugeben.

Schlussendlich könnte uns aber auch Tocqueville nicht sagen, wie wir korrekt auf die aktuelle Krise reagieren sollten, aber er würde uns davor warnen, schlicht auf den Staat zu vertrauen, denn die größte Gefahr für die Demokratie, ist der Rückzug des Individuums aus der Öffentlichkeit – ohne Freiheit und Verantwortung ist unsere Demokratie am Ende.

Marc Jacob arbeitet in einer Kanzlei in Frankfurt

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Hans-Peter Dollhopf / 05.04.2020

In all den vorausgegangenen Monaten vor Corona wurden Auftritte in der Öffentlichkeit immer mehr und am Schluss sogar zu 87 Prozent demokratiefeindlich! Hauptsächlich fanden Wirsindmehrs, Sauersahne Fischfilets und Rülpsköpfe wie Gröhlemeyer ihr öffentliches Publikum. Des Weiteren wurde an Freitagen nur noch öffentlich gehüpft, um auf Kosten der Freiheit Klimahysterie einzufordern. Ebenso war die EU unter vdL mit der irrsten antidemokratischen Neuordnung Europas seit Metternich am Werkeln, dem Green New Deal. Ich sehne mich nach dieser Schein-Demokratie wirklich nicht mehr zurück! Nein, ich liebe diese Zwangspause vom “Demokratie leben!”. Das ist jetzt gerade so, wie wenn man morgens noch nicht aufstehen, sondern sich noch einmal umdrehen und wieder einratzen will, bevor die gleiche Scheiße wie jeden Tag beginnt. und es gibt umgekehrt auch kein falsches leben im echten

Eckhart Diestel / 05.04.2020

Es fragt sich nur, welche aktuelle Krise ? Für Ü80 erkenne ich eine gewisse gesundheitliche Bedrohung, für den Rest der Gesellschaft, nach meinem Empfinden, eine katastrophale Realität. Adolf, Erich, Angela - Tyrannei ist leider ein reales Phänomen, jetzt wieder auf deutschem Boden. Zürich hat bei 1.5 Millionen Einwohnern im Schnitt 2 Tote pro Tag. Schweden harrt mit Vernunft aus. Und Hamburg - endlich jemand - lässt Verstorbene rechtsmedizinisch - wie denn auch sonst - auf die Todesursache untersuchen. Ergebnis 8 Tote, RKI zählt 14. Bravo.  0.00044 % der Hamburger Bevölkerung, Mitglieder einer Riskogruppe, sind nach rechtsmedizinischer Auskunft an Covid verstorben.

P. F. Hilker / 05.04.2020

Da der Mensch zum Herdenvieh gehört, muss er sich nolens volens in einer Demokratie den Allgemeininteressen unterordnen oder sich auf eine einsame unbewohnte Insel zurück ziehen. Alles andere ist ein Streit um des Kaisers Bart. Empfehle das Studium einiger Kommentare zu den Grundrechten.

Jens Rickmeyer / 05.04.2020

Art. 20, Abs. 4 GG, wenn nicht jetzt, wann dann? — Oder ist das GG bloß eine Schönwetter-Placebo-Verfassung, wie es scheint? — Ceterum censeo Angelam Mortis in carcerem mittendam. JR *1945

sybille eden / 05.04.2020

Lieber Herr Jacob, dieses alles zeigt doch überdeutlich, wie schwer beschädigt und ausgehöhlt unsere Demokratie doch schon vor dem Virus war ! Die lange Herrschaft einer autoritären Autokratin hat doch verheerende Wirkungungen auf die in Deutschland doch sowieso sehr schwach verankerten demokratischen Spielregeln.

Hans Reinhardt / 05.04.2020

Herrgott nochmal, hört doch endlich auf mit Tocqueville und Wittgenstein, mit Dichtern und Denkern, mit lateinischen Sprüchen und der High-End-Sophisterei! Die Zeit dafür ist vorbei, wir brauchen sie nicht mehr. In einem Land, das wie das unsere seine Grenzen für ALLE schließt ausser für “Asylbewerber” !!! ist die Zeit gekommen für Dreschflegel und Sensen, für Teer und Federn,  für die Jagd auf die parasitären Volksverräter in Berlin. Wenn wir diese verkommenen “Eliten” JETZT nicht wegjagen, dann nie mehr!

Frances Johnson / 05.04.2020

“Sollte es für uns nicht möglich sein, dass der Einzelne seine Lebensführung selbst gestaltet und sich selbst seinen Pflichten bewusst wird? Denn es ist die wichtigste Aufgabe unseres Grundgesetzes, die Macht des Staates im Interesse der Freiheit des Einzelnen zu beschränken.” Vielleicht, mit etwas Glück, wäre dies der nächste Schritt. Der Einzelne hatte dann reichlich Zeit, vorher darüber nachzudenken. Ich fürchte, wenn man erst dem Einzelnen die Verantwortung gegeben hätte, hätte das nicht funktioniert. So war es in GB geplant. Es wurde nicht verstanden. Im Augenblick sieht das Land aus wie ein Polizeistaat. Der Gesundheitsminister bedroht Einzelne und Paare, die etwas Sonne suchen, die mal raus müssen aus ihrer Wohnung. Ein Skandal. Ich habe den Eindruck, dass es sich insgesamt um eine Perücke handelt, die die Glatze verdecken soll: Den Kahlschlag, den man aus Profitdenken mit dem Gesundheitswesen durchgeführt hat. Grotesk ist die Benennung, teilweise namentlich, von Superspreadern, während Organisationen wie die UN, die die wahren Superspreader sind, ungeschoren davon kommen. In NYC selbst ein Viertel bis ein Fünftel aller amerikanischen Fälle, In NY State und NJ zusammen etwa die Hälfte. Der Bürger wird zum Verbrecher gemacht, wenn er ein Virus transportiert, ohne es zu wissen. Es ist ein Akt staatlicher Unmenschlichkeit. In D geht es gerade noch. Ich fürchte aber, wenn wir nur unter betroffenen Älteren abstimmen ließen, ginge das gegen die Freiheit aus. Sie klammern am Leben. Sonst würden sie auch diese ganzen Medikamente nicht dauerhaft nehmen wollen, voilà. Sie hocken im Schnitt, hieß es mal, 16mal im Jahr in irgendeiner Praxis - der Lebensinhalt. Man muss ein Gleichgewicht hier finden. Ein wenig Freiheit mehr, ein wenig Schutz, basteln. So kann man das nicht lassen. Bis nach Ostern vielleicht, aber länger nicht.

Bernhard Freiling / 05.04.2020

“........Abschaffung der Grundrechte, für die sie über Jahrhunderte hinweg kämpfen mussten.” Kein Deutscher in der Bundesrepublik hat um seine Grundrechte jemals kämpfen müssen. Er bekam sie als Geschenk nach WW2 von den westlichen Besatzungsmächten. Ansatzweise gekämpft hierfür haben nur unsere Brüder und Schwestern aus der ehemaligen DDR. Ansatzweise deshalb, weil es auch dort vordringlich um den Lebensstandard und die DM ging. Da waren “die Grundrechte” eher zufälliges Nebenprodukt. Wegen denen alleine wäre auch dort hochwahrscheinlich Niemand auf die Straße gegangen. ++ “...erwirb es um es zu besitzen”. Viele werden dem Verlust der Grundrechte gar nicht nachtrauern - sie mußten nie Anstrengungen unternehmen um in deren Besitz zu kommen.

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