Rainer Bonhorst / 08.05.2010 / 00:28 / 0 / Seite ausdrucken

Mit Oma zur Urne

Was in England lange erwartet und von einigen befürchtet wurde, scheint nun unabwendbar zu sein: Die Parlamentswahl hat gezeigt, dass das Königreich dringend eine Wahlreform braucht. Ja, sicher, es geht auch um den vom Direktwahlsystem zu einem europäischeren Proportionalsystem. Als dringenderes und vielleicht auch schneller zu erreichendes Reformziel empfiehlt sich aber, erst einmal zu lernen, wie man eine Wahl so organisiert, dass alle, die wählen wollen, dies auch können.

Tausende britischer Wähler haben feststellen müssen, dass dies eine Aufgabe ist, die die Organisationskraft vieler Wahlhelfer übersteigt. Die betroffenen Wahlberechtigten standen stundenlang im Regen und fanden am Ende keinen Einlass in die Wahllokale, weil diese abends um 22 Uhr pünktlich schlossen. Andere fanden sich mit dem Problem konfrontiert, dass im Wahllokal nicht ausreichend Wahlzettel vorhanden waren. Die vielen tausend, die sich auf die eine oder andere Weise um ihr Wahlrecht betrogen sahen, waren “not amused”.

Eine der nicht amüsierten Wählerinnen sagte, die Wahlen in Afghanistan seien besser organisiert gewesen als die in ihrem englischen Wahlkreis. Wird dieser Hinweis britische Wahlorganisatoren veranlassen, vor Ort in Afghanistan hilfreiche Erfahrungen zu sammeln? Whrscheinlich nicht. Die Haushaltslage im Königreich ist so angespannt, dass solche Fernreisen nicht zu vertreten sind. Ähnlich muss man die Äußerung eines anderen Wählers werten, dem nach langem Warten die Wahllokaltür vor der Nase zugeschlagen wurde. Er sagte: “In der Dritten Welt können die das besser.” Das mag man so sehen. Aber die meisten Länder der dritten Welt, vom Sudan bis Neuguinea, sind nicht leichter oder kostengünstiger zu erreichen als Afghanistan. Sie kommen als Ort des Lernens nicht in Frage.

Wie es scheint, müssen die Briten daheim und ohne fremde Hilfe versuchen, ein System zu entwickeln, das es ihnen ermöglicht, nicht nur allen Wähler Zugang zur Wahlurne zu bieten sondern auch genügend Wahlscheine zur Verfügung zu haben. Wie dies zu bewerkstelligen ist, soll schon bald in intensiven Beratungen der zuständigen Stellen erörtert werden.

Dies wird in England vor allem deshalb als überfällig empfunden, da das Königreich keine neue sondern eine der ältesten Demokratien der Welt ist. Schon im Jahr 1265 wurde das erste gewählte Parlament zusammengerufen. Damals war allerdings der Andrang noch nicht so groß, weil nur diejenigen wählen durften, die über Grundbesitz im Pachtwert von jährlich 40 Shilling verfügten. Im Laufe der Jahrhunderte ist das Wahlrecht dann dramatisch ausgeweitet worden. Die letzten Wählerneuzugänge größerem Ausmaßes gab es in der zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als Englands Frauen das Wahlrecht erhielten. Offenbar hat die Organisation mit diesem Wachstum an Wahlberechtigten nicht ganz Schritt gehalten.

Den Briten, die ihr Parlament als die Mutter der Parlamente und ihr System als die Mutter der Demokratie betrachten, ist die Pannenserie dieser Wahl ziemlich peinlich. Andererseits haben sie das Vergnügen, auf viele Jahrhunderte wachsender demokratischer Mitspracherechte zurückzublicken. Man könnte ihnen den Titel einer Großmutter, wenn nicht gar einer Urgroßmutter der Demokratie zusprechen. Und im hohen Alter wird man, auch wenn’s peinlich ist, halt ein bisschen wackelig.

Sollten die Briten neidisch auf uns hervorragend organisierte Deutsche blicken? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Wir in Deutschland haben gerade mal 65 Jahre Erfahrung mit ununterbrochener Demokratie, also nicht einmal ein Menschenalter. Vorher hatten wir es mit einer anderen, deutlich größeren Peinlichkeit zu tun. Wer weiß wie wir einmal organisatorisch dastehen werden, wenn unsere Demokratie das Alter erreicht, das die britische heute hat.   

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