Kürzlich fuhr ich von Köln nach Dortmund, um ein Konzert zu spielen. Mein Weg mit öffentlichen Verkehrsmitteln gestaltete sich als Reigen deutscher Eigentümlichkeiten anno 2021.
Von Martina Binnig.
Sonntagmorgen in Köln. Sitze mit meinem Kontrabass in der Straßenbahn auf dem Weg zu einem Konzert. Bin in Gedanken und merke erst spät, dass eine ältere Dame zugestiegen ist, die sich gerade an meinem Kontrabass vorbeiquetscht. Bedaure meine Unaufmerksamkeit, aber da sitzt sie mir auch schon schräg gegenüber, zeigt auf meinen Bass und sagt: „Ein großes Instrument.“ – „Ja, ein Kontrabass“, antworte ich. Ich bin es gewohnt, angesprochen zu werden, wenn ich mit dem Bass unterwegs bin, und lasse mich in der Regel gerne darauf ein. Besonders ältere Menschen, die das Gespräch mit mir suchen, haben erfahrungsgemäß selbst einmal ein Instrument gespielt – sofern sie nicht von mir wissen wollen, ob ich André Rieu kenne oder warum ich nicht lieber Flöte gelernt habe. Tatsächlich: Ehe ich sie meinerseits fragen kann, erzählt sie mir, dass sie früher Geige gespielt habe. Konzerte mit dem Kirchenchor.
Da fällt ihr schlagartig auf, dass sie keine Maske trägt, und sie kramt eiligst eine hervor. Ich winke ab: Die Bahn ist ziemlich leer, und wegen mir muss sie sie nun wirklich nicht tragen. „Alles völlig übertrieben“, kommentiert sie zu meiner Überraschung das Aufsetzen ihrer Maske. Und fährt fort: „Das bringt doch gar nichts. Sogar Ärzte sagen, dass Masken eher schaden als nutzen. Aber man muss zahlen, wenn man sie nicht trägt.“ Ich stimme der Dame, die durchaus als hochbetagt bezeichnet werden könnte, zu: „Ja, man trägt die Maske mittlerweile vor allem, um nicht zahlen zu müssen.“ – „In anderen Ländern“, fügt sie hinzu, „hebt man alle Maßnahmen auf. Und hier?“ Wieder pflichte ich ihr bei: „Das wundert mich auch. Man hat ja jetzt den Vergleich zwischen den Ländern.“ Dann will sie aber doch wissen, was ich heute spiele. „Händel und Telemann“, sage ich, während ich zur Tür gehe, weil ich aussteigen muss. Die Dame nickt erfreut. „Alles Gute“, wünscht sie mir. „Danke, Ihnen auch!“, rufe ich ihr zu.
Am Hauptbahnhof sehe ich, dass mein Zug ausfällt. Hektisches Nachlösen einer Karte für einen ICE, der eigentlich schon weg sein sollte, aber glücklicherweise Verspätung hat. Nur gut, dass die Abfahrtzeiten der Deutschen Bahn bloß noch ungefähre Schätzungen sind. Das Fahrtziel des Zuges war am Automaten und in der App bis Dortmund angegeben; auf der Anzeigentafel am Bahnsteig steht jedoch Hagen als Endstation, und ich muss in Dortmund umsteigen. Also frage ich am Infopoint einen Bahnbeamten, ob der Zug nun nur bis Hagen oder doch weiter bis Dortmund fahre. Seine lakonische Antwort: „Das wüssten wir selbst auch gerne.“ Die Einfahrt des Zuges nach Hagen (!) wird über Lautsprecher angekündigt. Ich beschließe, dennoch einzusteigen, denn die Richtung stimmt ja wenigstens schon mal. Eine Minute später folgt allerdings die Durchsage einer Gleisverlegung: Mein Zug fährt nicht etwa nur auf dem gegenüberliegenden Gleis ab, sondern auf einem weiter entfernten.
Das heißt: Kontrabass auf den Rücken schnallen, Treppe runter rennen, Treppe hoch rennen, in den Zug, der gerade eingefahren ist, springen, in der 1. Klasse gelandet sein, mit dem Bass durchs Bordrestaurant und in die 2. Klasse wanken bis zu einem Kontrabass-geeigneten Platz. Geschafft. Eine eindringliche hohe Stimme aus dem Lautsprecher erinnert mich sofort daran, meinen „medizinischen Mund- und Nasenschutz“ während der gesamten Fahrt zu tragen. Immerhin: Der Zug fährt tatsächlich nach Dortmund, und der Anschluss klappt sogar auch, weil der nächste Zug ebenfalls 40 Minuten Verspätung hat. Jetzt nur noch das Konzert spielen. Erholung pur.
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet als Musikerin, Musikpädagogin und Musikwissenschaftlerin. Außerdem war sie als freie Journalistin tätig, darunter fünfzehn Jahre lang für die Neue Osnabrücker Zeitung.