Von Marco F. Gallina.
Mit der Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik stimmten Medien wie Parteien neuerlich Töne an, die nur Extreme kannte: da war die Rede von einem „großem Schub“ für die europäische Einigung (Laschet), sowie davon, die Zusammenarbeit „nochmal eine Stufe“ weiterzuentwickeln (Maas). Die AfD indes unterstellte Merkel den Ausverkauf deutscher Interessen, Le Pen befürchtete eine deutsche „Vormundschaft über das Elsass“.
Ein Manko bei der Unterzeichnung des Vertrags ist vermutlich nicht zuletzt die Berichterstattung: viel wird von Angela Merkels und Emmanuel Macrons Aufenthalt in Aachen erzählt, statt darüber zu informieren. Der geriet sich schon deswegen auffällig, weil es sich De Gaulle und Adenauer als Grundsteinleger deutsch-französischer Freundschaft nicht nehmen ließen, ein Bad in der Menge zu nehmen oder wenigstens eine Autorundfahrt mit offenem Dach anzuschließen. Tempi passati! Offensichtlich beruhte die Aachener passegiata allein auf einem kurzen Salut vor dem Rathaus. Von Protesten der Gelbwesten war ebenso die Rede wie – laut Focus-Informationen– der Ruf nach der Guillotine. Wir erinnern uns: die EU ist ein „demokratisches“ Friedensprojekt (Macron). Ironische Symboliken.
Ähnliches gilt für den Inhalt. Von einem Vertrag für eine demokratischere EU würde man einige Artikel über Transparenz und Demokratie erwarten: Fehlanzeige. Tatsächlich wird das Wort „Demokratie“ auf keiner der 16 Seiten erwähnt. Dasselbe gilt übrigens für das Adjektiv „demokratisch“, das Substantiv „Freiheit“ taucht zweimal im Vertragstext auf („in dem Bekenntnis zu den Gründungsprinzipien, Rechten, Freiheiten und Werten der Europäischen Union“ bzw. „entschlossen, für ihre Völker einen gemeinsamen Raum der Freiheit und der Chancen sowie einen gemeinsamen Kultur- und Medienraum zu schaffen“). Das erinnert an den Global Compact on Migration, in dem die Worte „kontrollieren“ und „begrenzen“ nicht auftauchen. Mit Sicherheit können solche Anhaltspunkte kein abschließendes Urteil ersetzen, zeigen aber bereits eine gewisse Orientierung auf.
Schwerpunkt: Sicherheit
Der Vertragstext ist übrigens kein streng gehütetes Staatsgeheimnis, sondern für jeden Bürger hier nachzulesen. Seine übersichtlichen Artikel machen ihn auch weder zu einer anspruchsvollen noch langen Lektüre. Dennoch hat man bei einigen Journalisten wie Politikern den Verdacht, dass diese den Vertrag entweder nicht richtig lesen wollen, nicht richtig lesen zu können, oder den Pakt überhaupt nicht gelesen haben. Wichtig ist dabei auch die richtige Kontextualisierung: denn dem Vertragstext von 2019 geht eine Resolution des Deutschen Bundestags und der Französischen Nationalversammlung aus dem Jahr 2018 voraus. Sie ist hier nachzulesen.
Die damaligen Aufforderungen der Legislative wurden von der Exekutive nun aufgenommen und in ein Vertragswerk gegossen. Dabei ist unübersehbar, welche Schwerpunkte die Bundesregierung und das französische Pendant übernommen haben, welche sie umformulierten, welche sie abschwächten oder stärkten. Einige Themen wurden dabei aufgeweicht und ihnen die Härte der Ursprungsfassung genommen – ohne den Inhalt zu ändern.
Einer der interessantesten Unterschiede zwischen der Resolution und dem Vertrag betrifft die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es ist dieser Aspekt, der bei einigen Kritikern – insbesondere von der linken Seite – vorkam. Während die Sicherheitspolitik in der Resolution von 2018 erst zwischen Punkt 13 und 15 auftaucht, beginnt bereits der erste Artikel des Vertrags von 2019 mit einem Bekenntnis zu einer vertieften Außen- und Sicherheitspolitik. Kapitel 2 ist diesem Themenkomplex umfassend gewidmet. Im Grunde ist diese Entwicklung eine sehr logische: denn die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft war eine Notlösung nachdem die Europäische Verteidigungsgemeinschaft nicht zustande gekommen war.
DE als militärisches Back-Up für FR
Während die EVG historisch ein Projekt war, das von Deutschland befördert, von Frankreich jedoch abgelehnt wurde, ist diese Priorisierung im Vertrag sicherlich eher französische als deutsche Handschrift. Das wird an einer Passage wie Artikel 4.3 deutlich: „Beide Staaten verpflichten sich, die Zusammenarbeit zwischen ihren Streitkräften mit Blick auf eine gemeinsame Kultur und gemeinsame Einsätze weiter zu verstärken.“
Zwar betrifft der Verteidigungsfall die jeweiligen Territorien, wie in 4.1 geregelt; der obige Satz dürfte sich aber vornehmlich auf Auslandseinsätze beziehen. Da Frankreich im Gegensatz zu Deutschland immer noch als Garantiemacht mancher ehemaliger Kolonien gilt und im Notfall strategische Interessen durchsetzt – siehe Libyen, siehe Mali – ist eine solche Regelung mit Sicherheit für die Franzosen vorteilhafter als für die Deutschen.
Dennoch sollte man auch bei einer offensichtlichen Übervorteilung differenziert bleiben. Die Bundeswehr hat ihre strategische Ausrichtung geändert. Sie will etwas anderes sein als sie ist und solange dieser Transformationsprozess gewollt ist – nämlich hin zur Berufsarmee und Task-Force statt reinem Verteidigungsblock in der Norddeutschen Tiefebene – wird diese Politik auch konsequent verfolgt. Dass die deutschen Auslandseinsätze teils lächerliche Umstände begleiten, dass beispielsweise deutsche Soldaten nach Afghanistan mit freundlicher Unterstützung der Amerikaner eingeflogen werden, man auf Linienflüge umsteigt oder wochenlang auf einen Flug warten muss, weil das militärische Transportflugzeug laut Wehrbericht bereits ein berüchtigter Kandidat für Defekte ist – geschenkt.
Aber wäre es da nicht besser, wenn die Franzosen mit ihren jahrzehntelangen Erfahrungen den deutschen Jungs wenigstens etwas unter die Arme greifen können, wenn aus der Heimat mal wieder kein Material eintrifft, oder man in Somalia einen Quartiermeister sucht, weil Krankheiten die örtliche Kaschemme überlaufen? Da Deutschland keine Anzeichen zeigt, sich aus seinen Einsätzen zurückziehen zu wollen, ja, sogar damit liebäugelt, „mehr Verantwortung zu übernehmen“, sollte der Pointu vielleicht ganz froh drum sein, wenn der Tulemong ihm den Rücken schützt.
„Stabilisierungsoperationen in Drittstaaten“
Eine womöglich weit wichtigere Maßnahme, deren Deutung ein weites Spektrum von Möglichkeiten enthält, findet sich in Artikel 6:
„Im Bereich der inneren Sicherheit verstärken die Regierungen beider Staaten weiter ihre bilaterale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus und der organisierten Kriminalität sowie im Bereich der Justiz, der Nachrichtendienste und der Polizei. Sie führen gemeinsame Maßnahmen im Hinblick auf Aus- und Fortbildung und Einsätze durch und richten eine gemeinsame Einheit für Stabilisierungsoperationen in Drittstaaten ein.“
Das liest sich auf den ersten Blick vernünftig, aber es fehlt wenigstens ein Passus dazu, wann eine solche „gemeinsame Einheit“ zu „Stabilisierungsoperationen“ eingesetzt werden darf – und vor allem, ob ein Drittland dem zustimmen muss, bevor es zum Einsatz kommt, oder ob Deutschland, Frankreich oder EU das von oben herab entscheiden. Es ist auffällig, dass es hierzu keinerlei Aussagen gibt. Der Einsatzbereich der Einheit wird damit nicht konkret umrissen. Eine Zusammenarbeit von Polizei und Spionage bzw. die Einrichtung einer deutsch-französischen Task-Force gegen Terrorismus und die Mafia ist prinzipiell begrüßenswert; wenn es dabei jedoch nicht bleiben sollte, sondern sie auch gegen bürgerkriegsähnliche Situationen in EU-Staaten eingesetzt werden soll, befeuert das die Sorge einer EU-Sicherheitspolizei, die losgelöst von nationalen Organisationen in Drittstaaten eingreifen kann, um EU-Recht und EU-Verwaltung durchzusetzen. Es ist erschreckend, wie wenig Details, wie wenig Absichten, wie wenig Relevantes hier steht, das solche Szenarien im Keim ersticken könnte, wo es sich hier doch um ein sehr delikates Thema handelt.
Neuerliche Schwammigkeit
Ein ähnlicher Punkt betrifft die Wirtschaft. Hier übernimmt der Vertrag die Resolution in großen, wenn auch nicht allen Teilen (Artikel 20.1):
„Beide Staaten vertiefen die Integration ihrer Volkswirtschaften hin zu einem deutschfranzösischen Wirtschaftsraum mit gemeinsamen Regeln. Der Deutsch-Französische Finanz- und Wirtschaftsrat fördert die bilaterale Rechtsharmonisierung, unter anderem im Bereich des Wirtschaftsrechts, und stimmt die wirtschaftspolitischen Maßnahmen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik regelmäßig ab, um so die Konvergenz zwischen beiden Staaten zu befördern und die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften zu verbessern.“
Neuerliche Schwammigkeit macht den Artikel zu einem weit auslegbaren Paragraphen. „Bilaterale Rechtsharmonisierung“ und „Konvergenz“ der Wettbewerbsfähigkeit sollen Maßnahmen sein. Darunter kann sich ein weites Feld von weiteren Möglichkeiten der Vereinheitlichung verbergen. Konkret hieß das in der Resolution noch so (Punkt 6):
„spricht sich für die Verwirklichung eines deutsch-französischen Wirtschaftsraums aus mit einheitlichen Regelungen vor allem im Bereich des Unternehmens- und Konkursrechts. Ein wichtiger Schritt dahin ist die Angleichung der Bemessungsgrundlage der Körperschaftsteuer und ein stärkeres Bemühen um Konvergenz. Gemeinsam setzen sie sich für eine entsprechende Harmonisierung der Regelungen zur Vollendung des europäischen Binnenmarkts ein;“
„Harmonisierung“ gleich „Körperschaftssteuer“?
Es scheint naheliegend, dass sich Vorschläge wie die Körperschaftssteuer nicht verflüchtigt haben, sondern nun unter „Harmonisierung“ zusammengefasst werden. Wie auch bei anderen Beispielen wird deutlich, dass der Freiraum, der im Vertragstext gelassen wird, später womöglich durch alle möglichen Interpretationen gefüllt werden kann. Das ist schon deswegen bezeichnend, weil der originale Freundschaftsvertrag zwischen De Gaulle und Adenauer sehr konkrete Entscheidungen wie die Förderung von Jugendwerken oder Ministertreffen umriss.
Kritiker mögen hier neuerlich ein deutsches Opfer vermuten, vergleicht man die schwächelnde französische Wirtschaft mit der hiesigen und bedenkt man, wie stark Frankreich auf seine staatlichen Investitionen angewiesen ist, um diese zusammenzuhalten. Kaum ein Jahr ist vergangen ohne einen Defizitriss in Paris. Der Vorwurf, der Deutsche sei wieder einmal nur Zahlmeister des Kontinents, geht aber deswegen fehl, weil Deutschland seit anderthalb Jahrzehnten die Devise fährt, über immer größere Summen sich gewissermaßen politische Macht „zu kaufen“. Ein solcher „Ausverkauf“ der Wirtschaft gilt demnach als würdiges Opfer auf dem Altar der vereinten Union.
Der Höhepunkt dieser „Offenheiten“ steht uns aber noch bevor. Bereits die Resolution von 2018 hatte für Aufmerksamkeit gesorgt bezüglich der Forderung beider Parlamente in Punkt 5:
„fordert die Regierungen auf, den Eurodistrikten eigenständige Kompetenzen zu übertragen und ggf. Ausnahme- und Experimentierklauseln im jeweiligen nationalen Recht einzuführen; wünscht in dieser Hinsicht, dass die auf Länder oder Regionalebene notwendigen und angesiedelten Befugnisse mutatis mutandis auf die Eurodistrikte übertragen werden;“
Der Wiedergänger dazu findet sich im Vertrag von 2019 (hier Artikel 13.2) in dieser Ausführung:
„Zu diesem Zweck statten beide Staaten unter Achtung der jeweiligen verfassungsrechtlichen Regeln der beiden Staaten sowie im Rahmen des Rechts der Europäischen Union die Gebietskörperschaften der Grenzregionen sowie grenzüberschreitende Einheiten wie Eurodistrikte mit angemessenen Kompetenzen, zweckgerichteten Mitteln und beschleunigten Verfahren aus, um Hindernisse bei der Umsetzung grenzüberschreitender Vorhaben, insbesondere in den Bereichen Wirtschaft, Soziales, Umwelt, Gesundheit, Energie und Transport zu überwinden. Sofern kein anderes Instrument es ihnen ermöglicht, Hindernisse dieser Art zu überwinden, können auch angepasste Rechts- und Verwaltungsvorschriften einschließlich Ausnahmeregelungen vorgesehen werden. In diesem Fall kommt es beiden Staaten zu, einschlägige Rechtsvorschriften einzubringen.“
Die EU wird zur administrativen Gewalt
Explizit bleibt also die Absicht bestehen, eigene Gebietskörperschaften wie Eurodistrikte mit Kompetenzen auszustatten. Damit verwirklicht sich das, was bereits seit einiger Zeit angekündigt wurde: die Transformation von nationalstaatlichen Territorien hin zu supranationalen Territorien. Die Antwort auf die Frage, was geschieht, wenn sich Deutschland und Frankreich nicht zu einer gemeinsamen Lösung durchringen können, steht zwischen den Zeilen bereits fest: es ist die Europäische Union. Die EU wird damit zu einer administrativen Gewalt.
Damit hat der Vertrag ein dreifaches Zusammenwachsen Deutschlands und Frankreichs zur Folge: in militärischer, in wirtschaftlicher und administrativer Hinsicht. Es sind dies die Schlüsselschnittstellen bei einer Staatswerdung. Der Aachener Vertrag bietet damit die Blaupause für ein mögliches Aufgehen der beiden größten Nationalstaaten in Europa – allerdings nur, wenn die jeweilige Politik diesen Text zur Gänze ausnutzt. Eine pro-europäische Fraktion kann auf Grundlage des 2019er-Vertrags die Errichtung einer EU-Polizeieinheit, einen franko-alemannischen Wirtschaftsraum oder auch eine Abkopplung von Territorien unter EU-Gewalt vorantreiben.
Die Schwammigkeit und Offenheit mancher Passagen lassen dies ebenso zu, wie den Vertragstext als reine Empfehlung abzutun: denn welche Kompetenzen beispielsweise einem Eurodistrikt um Straßburg gegeben wird, liegt immer noch im reinen Ermessen der jeweiligen Nationalstaaten. Heißt: es braucht weiterhin die Zustimmung beider Länder dafür, sich selbst entmachten zu wollen. Derzeit besteht jedoch kein Zweifel daran, dass Macron wie Merkel angesichts „populistischer“ Strömungen und Parteien sowie des Brexits fest dazu entschlossen sind, den Weg in den EU-Superstaat zu gehen.
Marco F. Gallina ist als freier Autor für verschiedene Blogs tätig, darunter sein eigener: www.marcogallina.de