Von Jan Henrik Holst.
In der schönen woken Welt darf man nicht die falschen Pronomina verwenden, doch was, wenn es – wie in manchen Sprachen – sogar das „Du“ in maskuliner und femininer Form gibt? Unser Autor ist Sprachwissenschaftler und erläutert, warum Misgender-Vorschriften die Menschen ungleich treffen.
Na, heute schon gemisgendert? Aus Versehen oder mit Absicht? Falls Sie noch nicht wissen, was das ist, haben Sie bei der rasanten Entwicklung der political correctness etwas verpasst. Deren Vertreter bezeichnen damit das Sprechen mit als falsch angesehenen Pronomina. Wenn zum Beispiel ein Mann sich als Frau identifiziert, soll das Pronomen sie verwendet werden und nicht er. Verwendet man dennoch er, dann ist das „Misgendern“. Ebenso soll man dann nicht von einem Mann sprechen. Das dürfe man sich nicht mehr frei aussuchen.
So jedenfalls die politisch Korrekten. Die Sache klingt zunächst wie ein schlechter Scherz, jedoch hat dies zum Teil sogar schon – und da wird es nämlich bitterer Ernst – juristische Folgen. So geschah im Februar dieses Jahres in einem Blog von Julian Reichelt folgendes. Die Journalistin Judith Sevinç Basad bezeichnete eine Person mit dem (anscheinend neuen) Namen Janka Kluge als Mann, obwohl die betreffende Person sich als Frau identifiziert. Daraufhin kam es zu einer Klage, und per einstweiliger Verfügung darf Janka Kluge nicht mehr ein Mann genannt werden. Bei Verstoß gegen die Entscheidung drohen laut RND-Bericht bis zu 250.000 Euro Geldstrafe oder Ordnungshaft. (Siehe auch den Achgut-Artikel von Birgit Kelle).
Gibt man bei YouTube „Misgendering“ ein, gelangt man rasch an Videos, in denen es darum geht, dass Menschen deswegen der Verlust ihres Arbeitsplatzes droht, der Job sogar bereits weg ist, ihnen gewünscht wird, dass die Bullen anrücken (Zitat: „the cops show up“) und ähnliches mehr. Aktivisten wollen erreichen, dass es munter in diese Richtung weitergeht. Es ist auch angekündigt worden, dass mit dem von der Ampelkoalition geplanten Transgendergesetz weiter in diese Richtung marschiert werden wird. Die Regierung will unter Beweis stellen, dass sie außer Auto-, Fleisch- und Heizungsverboten auch Pronomina-Verbote kann. Besonders schlimm liegen die Dinge bereits in Kanada, wo der Psychologe Jordan Peterson sich der Vorschrift verweigert und deswegen unter Beschuss steht.
Was beim Angriff auf die freie Wahl des Pronomens nicht bedacht wird: Derlei Vorschriften und Gesetze werden für Sprecher verschiedener Sprachen ganz unterschiedliche Auswirkungen haben. Die etwa 6.000 Sprachen der Welt sind in Bezug auf das Phänomen Genus, das heißt grammatisches Geschlecht, ganz unterschiedlich beschaffen. Schon Englisch und Deutsch sind nicht gleich, denn deutsch er und sie können sich auch auf Gegenstände, Abstrakta und anderes beziehen (der Apfel, die Freiheit), englisch he und she dagegen nicht. Etwa die Hälfte der Sprachen der Welt kennt überhaupt kein Genus. So zum Beispiel Finnisch: Es unterscheidet nicht einmal das, wo Englisch he und she aufbietet, sondern hat dafür nur ein Pronomen: hän. Man übersetzt also, was Menschen anbelangt, deutsch er als hän ins Finnische und deutsch sie ebenfalls als hän. Im Finnischen lässt sich bei den Pronomina überhaupt nicht misgendern. (Es gibt aber Wörter für „Mann“ und „Frau“: mies bzw. nainen.)
„Du“ existier(s)t doppelt!
Interessanter wird es bei Sprachen, die das Genus an mehr Stellen unterscheiden, als es die typischen europäischen Sprachen – wie Deutsch eine ist – tun. Und das ist bei den sogenannten semitischen Sprachen der Fall. Die beiden bekanntesten Vertreter dieses Zweiges sind Hebräisch und Arabisch. Der berühmte amerikanische Linguist und Ethnologe Edward Sapir urteilte auf der Grundlage seiner Erfahrung mit den sprachlichen Fakten aus aller Welt, dass kaum irgendeine Sprachgruppe der Welt sich so sehr von allen anderen abhebt wie die athapaskischen Sprachen (eine Gruppe nordamerikanischer Indianersprachen), aber auch nahe dran im Ausmaß der Eigenheiten seien die semitischen Sprachen (nach: Die Sprache, 1961, S. 190, deutsche Übersetzung von Sapirs Buch Language, 1921). Englisch und Deutsch unterscheiden Genus im Pronomen der 3. Person (Singular), also he / she, aber nicht in der 2. Person; diese ist auf englisch immer you und auf deutsch (im Singular) du oder Sie – wobei der Unterschied Duzen / Siezen ein anderes Thema darstellt.
Die semitischen Sprachen haben jedoch Genus auch in der 2. Person! Im Hebräischen gibt es ein maskulines Pronomen atá und ein feminines Pronomen at. Oder, weniger fachsprachlich formuliert: Es gibt zwei Formen für „du“; man redet einen Mann (oder einen Jungen) mit atá an und eine Frau (oder ein Mädchen) mit at. Auf arabisch heißt die maskuline Form für „du“ anta und die feminine anti. Im praktischen Sprachuntericht ist es im ersten Moment ungewohnt, diese Unterscheidung zu machen, aber nach einer Weile ist es erlernt. (Beide Sprachen, Hebräisch und Arabisch, kennen keinen Unterschied von Duzen und Siezen. Der Einfachheit halber übersetze ich alle Formen mit „du“. Sie stehen gleichzeitig auch für „Sie“.) Die für das Hebräische genannte Unterscheidung gilt sowohl für Althebräisch (zum Beispiel aus der Thora) als auch für Neuhebräisch (auch Ivrit genannt).
Mit diesem Charakterzug gehören die semitischen Sprachen nur zu einer kleinen Minderheit der Sprachen der Welt. Zu nennen wäre noch ein gewisser Anteil der Sprachen des nördlichen und mittleren Afrikas wie zum Beispiel das Hausa (kai maskulines du, kee feminines du; Jungraithmayr / Möhlig / Storch 2004, Lehrbuch der Hausa-Sprache, S. 77), im Kaukasus das Abchasische (wará maskulines du, bará feminines du; Klimov 1994, Einführung in die kaukasische Sprachwissenschaft, S. 64), die einst im Südosten der USA beheimatete Indianersprache Tunica (ma maskulines du, héma feminines du; Mithun 1999, The languages of Native North America, S. 101f.) sowie noch einige andere.
Ständig ist um die Ecke zu denken...
Was aber bedeutet das in der woken weiten Welt? Logischerweise, dass man beim Sprechen noch mehr falsch machen kann als zum Beispiel mit Deutsch und Englisch. Man kann jemanden misgendern schon alleine dann, wenn man das Wort ausspricht, das auf englisch nur you wäre. „Man muss also beispielsweise im Hebräischen seinen Gesprächspartner taxieren und dann als Mann oder Frau einordnen (oder Junge oder Mädchen).“ (Holst 2023, Das Rekonstruieren von Sprachen, S. 252.) Aber was, wenn dieses Taxieren nicht zur Zufriedenheit des Angesprochenen ausfällt? Wie stellen sich die Propagandisten der juristischen Verfolgung das vor? Die Sache wird überproportional zu einer Verfolgung von Sprechern bestimmter Sprachen. Man kann nur hoffen, dass diese Fehlentwicklung nicht auf die Politiker im Nahen Osten übergreift. Und ferner, dass im Westen nicht von den Falschen eine Fremdsprache verstanden wird. Es kann ja durchaus sein, dass man sich in Europa oder Kanada nicht in der jeweiligen Landessprache äußert. Misgendering-Vorschriften erwischen die Menschen also ungleich; Israelis und Araber sind besonders betroffen.
Schon heute sind oft gedankliche Verrenkungen vonnöten, um zu verstehen, was in den Nachrichten gemeint ist. Bei „Transfrau“ klickt es nach einer Weile: Aha, gemeint ist in Wirklichkeit ein Mann, der Frau sein möchte oder vielleicht sich zu einer hat operieren lassen (so gut es geht). Ständig ist um die Ecke zu denken. Bei he und she kann man sich heutzutage auch nicht mehr sicher sein, um wen es geht. Und zu solch einer Sprechweise soll man also auch noch gezwungen werden.
Misgendern und Beleidigen sind verschieden
Was am Misgendern derart schlimm sein soll, bleibt im Dunkeln. Weitaus höher zu bewerten ist unter demokratietheoretischem Gesichtspunkt, dass jeder sich frei äußern darf – wozu auch die Wahl von Pronomina gehört. Konsultieren wir unsere Lieblingsenzyklopädie. Die englische Wikipedia meint, wie folgt aufklären zu können:
„Deliberately misgendering a transgender person is considered extremely offensive by transgender individuals.“
Nun ja, aber da kann nicht gleich die Umwelt verantwortlich gemacht werden, und man sollte etwas abhärten. Die deutsche Wikipedia kann das aber noch steigern, indem sie behauptet:
„Misgendern erhöht unter Betroffenen die Inzidenz von Depressionen und Suizidalität.“
Jedoch hat, wer an Selbstmord denkt, ein prinzipielles, weitaus größeres Problem. Es ist absurd, einen allzu großen Kausalzusammenhang dazu zu konstruieren, dass ihm gefährliche Pronomina zu Ohren gekommen sind.
Vergleichen wir das Misgendern mal mit dem Beleidigen. Beleidigungen sind ja schon heute justitiabel. Nennt man jemanden ein A...loch, dann unterstellt man ihm schwerwiegende charakterliche Defizite. Ebenso beinhalten andere Schimpfwörter zweifelsfrei negative Zuschreibungen. Solcherlei möchte verständlicherweise keiner über sich hören. (Und selbst dann sollte man übrigens resistent sein und sich nicht gleich aufregen. In allen Fällen sind es nur Schallwellen – darauf wies der Phonetiker Prof. Elmar Ternes in seinen Vorlesungen hin.) Nennt man jedoch jemanden eine Frau, was ist daran Schlimmes? Eine Frau zu sein, ist doch nichts Negatives. Nennt man ihn einen Mann, ist das ebenfalls nichts Negatives. Ob es jeweils zutrifft oder nicht, oder nur nach Meinung mancher zutrifft: Eine Zuschreibung wie „Mann“ oder „Frau“ ist nichts Negatives. Ein Charakterschwein ist dagegen etwas Negatives. Es besteht also ein fundamentaler Unterschied zwischen Misgendern und Beleidigen.
Sprachwissenschaftler ganz unterschiedlichen Typs setzten sich für Redefreiheit ein – um nur einen zu nennen, zum Beispiel Noam Chomsky. Sie sind besorgt über die Entwicklung, nach der dies oder jenes nicht mehr gesagt werden soll. Die Misgendern-Angelegenheit ist zur Zeit ein Beispiel. Jordan Peterson erklärt im oben erwähnten Artikel richtig: „Free speech is not just another value. It's the foundation of Western civilization.“
Jan Henrik Holst ist Sprachwissenschaftler und interessiert sich für Politik, Gesellschaft und den philosophischen Rahmen von Demokratie und Meinungsfreiheit. Er lebt in Norddeutschland und arbeitet unter anderem als Dozent für Sprachen Nordeuropas.