Jahrzehntelang existierte ein Bewusstsein für den Zivilschutz. Diese Zeiten sind passé. Vielerorts sind die Sirenen abgeschafft, man verlässt sich auf Internet, Handy, Fernsehen. Das ist riskant.
Früher war alles besser? Nein. Nur manches. Die alte Bundesrepublik lebte in ständiger Bedrohung. Sie war wechselseitig. Der Warschauer Pakt stand bis an die Zähne bewaffnet jenseits der innerdeutschen Grenze, vertreten vor allem durch die Nationale Volksarmee, die als eine der besttrainierten und schlagkräftigsten Armeen galt, dazu durch Einheiten der Roten Armee mit starker, auch taktisch-atomarer Bewaffnung. Dies hielt beiderseits der Grenze das Bewusstsein für Zivilschutz hoch – und trug dazu bei, die Regierung des Kanzlers Helmut Schmidt auf an diesem Punkt paradoxe Weise zu Fall zu bringen; dies war der Beitrag der „Entspannungspolitik“ seiner eigenen Partei.
Lange vor dem NATO-Doppelbeschluss waren schon seit den 1950er Jahren an vielen Orten passive Schutzmaßnahmen üblich, offizielle und sogar private Bunker waren entstanden, und Notfallkrankenhäuser standen oft unterirdisch bereit, so auch hier in Lüneburg. Auf den Einsatz atomarer, biologischer und chemischer Waffen blieb die Bundeswehr ebenso vorbereitet wie Spezialzüge der Feuerwehr und des Bundesgrenzschutzes. Bei der NVA dürfte es nicht anders gewesen sein.
Die Terrorjahre der RAF, des palästinensischen und des braunen Terrors zwischen 1968 und 1991 hielten ferner im Westen das Bewusstsein für die Bedrohung der Demokratie wach. Und auch auf Naturkatastrophen war man zumindest im Westteil des Landes recht gut vorbereitet; Schneekatastrophen 1968 und 1978, Fluten der Elbe 1962, 2002 und 2013 und der Oder 2002 und 2010 wurden trotz aller katastrophalen Folgen bewältigt, seit 1990 in West und Ost gemeinsam, in einem wiedervereinigten Land. Ich selbst erlebte 2002 und 2013, mal als freiwilliger Helfer beim Sandsäcke-Schleppen, mal als Notarzt im Katastrophenschutz, wie auf den Deichen das Gefühl der Gemeinsamkeit und Einigkeit zwischen Bürgerinnen und Bürgern, Feuerwehr, Technischem Hilfswerk, Bundeswehr, Polizei und Rettungsorganisationen stetig wuchs.
Das Ende des Kalten Krieges als Ende des Zivilschutzes
Allerdings scheint die Politik seit dem verkündeten – von mir nie ganz geglaubten – Ende des Kalten Krieges auf Zivilschutz nicht mehr viel Wert zu legen. Das Hilfskrankenhaus Lüneburg war schon lange vernachlässigt und verwahrlost, als es 2008 endgültig zu Lagerräumen umgewidmet wurde. Vielerorts sind die Sirenen abgeschafft. Batteriebetriebene Radios besitzen heute die Wenigsten; alle Welt verlässt sich auf Handy, Internet, Fernsehen – die alle auf funktionierende Stromnetze angewiesen sind.
Der bundesweite „Katastrophen-Warntag“ im September 2020 erwies sich als peinlicher Flop und deckte weitere, teils eklatante Lücken und Fehlfunktionen im Web- und App-basierten Katastrophenschutzsystem auf, und nicht nur die Stadt München fragte sich, ob sie auf „historische Mittel“ zurückgreifen müsste, beispielsweise Sirenen. Bei mir selbst kam am „Warntag“ die Entwarnung auf der App „NINA“ vor der Warnmeldung an, die dafür dann zweimal eintraf. Wie tröstlich. Dafür beglückt dieselbe App mich übrigens täglich mit den geltenden „Corona-Regeln“. Analog lief es besser.
Für die aktuelle Katastrophenlage in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz stellte so auch die hiesige, Lüneburg-nahe Freiwillige Feuerwehr Deutsch Evern ihre verbliebene analoge Funktechnik zur Verfügung, weil vor Ort digitale Relaisstationen überlastet, gar beschädigt und außer Funktion sind; und im 2-m-Band kann man wenigstens ein kleines Funknetz auch ganz ohne Relais aufbauen. Dort, wo noch ein 4-m-Relais steht, geht der Funk über Gegensprechen im Unterband wie seit den 1950er Jahren und läuft auch im Notfall ohne funktionierende Server und EDV, sobald wenigstens das Relais Strom hat. Die alten Handfunkgeräte und Fünfton-Meldegeräte können auf den Einsatzfahrzeugen am Generator des Verbrennungsmotors aufgeladen werden, solange Diesel und Benzin lieferbar sind. – Und was bitte geschieht, wenn alles digitalisiert und auf Elektromobilität umgestellt ist?
Warnungen ohne Konsequenzen
Und was ist mit den angeblich so enorm weiterentwickelten Frühwarnsystemen? Wieso haben sie so offensichtlich nicht oder verspätet funktioniert? Wieso waren offizielle Stellen gewarnt, die Bürgerinnen und Bürger aber nicht, auch jene, die jetzt tot sind oder verletzt? Spätestens ihre Angehörigen werden diese Fragen noch jahrzehntelang stellen. Und genau das ist richtig und wichtig.
Dass nämlich, um bei allen Aktualitäten zu bleiben, weder pandemische Szenarien noch erhebliche Überflutungen für Deutschland auszuschließen waren, darauf weist das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) nicht erst seit gestern hin. Wer Näheres lesen wollte, konnte es sogar als Mitglied der Regierung und als Bundestagsabgeordneter tun. Der entsprechende Bericht des BBK aus dem Jahre 2012 steht weiter offen zur Verfügung. Er geht sogar auf beide Themen ein! Inzwischen wissen wir aus eigener Erfahrung, dass diese Warnungen keinerlei Konsequenzen nach sich gezogen haben. Das Land taumelte sehenden Auges in beide Krisen; und nun versuchen sich verschiedene Politikerinnen und Politiker mit durchaus wechselnder Performance an wahlkampftauglichen Ausschlachtungen der Notsituation.
Darüber kann man nicht schweigen und nicht damit zufrieden sein; aus meiner Sicht kann man es noch nicht einmal durch entsprechende Stimmabgabe an jene honorieren, die uns derzeit regieren und auch nicht an jene, die den Bevölkerungs- und Zivilschutz durch blauäugiges, pseudo-ökologisches Ausdünnen der kritischen Infrastrukturen noch weiter gefährden oder gar beseitigen wollen.
Mögen mich die Sirenen locken…
Einst lockten die antiken Sirenen den Odysseus und seine Mannschaft in die Gefahr; und er ließ der Mannschaft die Ohren verstopfen und sich selbst an den Mast binden, um ihren betörenden Gesang hören und gefahrlos ertragen zu können. Heute ist es anders. Der Sirenengesang kommt von jenen, die, anstatt Zivilschutz und Katastrophenhilfe zu organisieren, zuerst das Klima, dann die EU, den Multilateralismus und möglichst alle Migrationswilligen „retten“ und dabei möglichst viel Funktionierendes – von Grenzen über die Innere Sicherheit bis hin zu kritischen Infrastrukturen – aufs Spiel setzen oder gar beseitigen wollen.
Dafür sind die modernen Sirenen weitgehend verschwunden. Mein kleiner Ort besitzt noch eine; und sie wird wöchentlich am Sonnabend um 12.00 Uhr getestet. Sie ertönt als Ruf für jeden Einsatz der Feuerwehr und steht auch für den Zivil- und Katastrophenschutz bereit. Und auch die analoge Funktechnik wird aus dem Notfalleinsatz hierher zur Freiwilligen Feuerwehr zurückkehren und erneut liebevoll gewartet werden.
Nein, früher war nicht alles besser, all das kann heute die schlechtere Lösung sein. Sie ist und bleibt dennoch die Siegerin, wenn die gepriesene „bessere“ Technik versagt, allem offiziösen Gerede von Digitalisierung zum Trotz. Allein schon für diese Erkenntnis bin ich dankbar. Und für das Erklingen der Sirene, hier vor Ort. Auch die Politik sollte sich im Rahmen ihrer Weltrettung zuerst darauf besinnen.