Es sollte in Sachsen keinen „Ministerpräsidenten von Gnaden der AfD“ geben, sagte eine linke Abgeordnete. Und weil Michael Kretschmer (CDU) schon im Koalitionsvertrag eine Abhängigkeitserklärung nach links abgegeben hat, hat ihn eine Landtagsmehrheit im zweiten Anlauf gewählt.
Eines muss man dem wiedergewählten Ministerpräsidenten zugestehen: Dass er noch in diesem Jahr zum Ministerpräsidenten gewählt würde, darauf hätten noch vor einigen Wochen wohl nur ganz Wenige größere Beträge gewettet. Da lag die Vermutung näher, dass im nächsten Jahr wieder gewählt werden müsste, weil kein Ministerpräsident eine Mehrheit zusammen bekäme, weil das höchste politische Prinzip in Deutschland die Unverletzlichkeit der sogenannten Brandmauer zur AfD zu sein scheint. Aber Kretschmer trat mit seiner CDU-SPD-Minderheitskoalition an und gewann jetzt tatsächlich im zweiten Wahlgang.
Ähnlich wie sein Kollege und Parteifreund Mario Voigt in Thüringen steht er nun einer potenziellen Allparteien-Kooperation vor. In seinem Fall wäre das allerdings unnötig gewesen. Er hätte, mit der stärksten Fraktion im Rücken, dem Landtag auch eine alleinige CDU-Minderheitsregierung anbieten können. Die hätte wenigstens eine Chance zur mindestens teilweisen Umsetzung jener bürgerlichen Politik gehabt, die Kretschmer im Wahlkampf versprach. Er hätte sich seine Mehrheiten – je nach Sachlage – sowohl links als auch rechts suchen können. Er hätte für seine Politik mit allen Stimmen der frei gewählten Abgeordneten rechnen können und müssen, auch jenem Drittel, die sächsische Bürger mit ihrer Stimmabgabe für die AfD in den Landtag entsandt haben. Er hätte dafür allerdings die heilige Brandmauer praktisch infrage stellen und heftigen Gegenwind von seinem CDU-Bundesvorsitzenden, vielen führenden Parteifreunden, etlichen Ministerpräsidentenkollegen und nicht zuletzt vielen Medien aushalten müssen. Dafür bringt Kretschmer – wie jeder wusste – nicht die nötige Statur und Festigkeit mit. Eine eigene Haltung gegen Widerstände zu vertreten, das gehört erkennbar nicht zu seinen Kernkompetenzen. Stattdessen kann er umstandslos zwei verschiedene Meinungen zu einem Thema vertreten.
Statt also einen vielleicht für den Freistaat besseren, aber für ihn unbequemen Weg in die eigene Amtsnachfolge zu wählen, setzte er auf das aus der Merkel-CDU weitergeführte Politik-Muster: Mehrheiten werden nur links gesucht. Koaliert wird nur mit der SPD, aber in der Koalition vereinbaren die beiden Parteien nicht nur parlamentarischen Gleichschritt, sondern auch die Kungelei mit den anderen linken und grünen Abgeordneten, damit nie mehr ein Antrag Zustimmung mit einer Mehrheit im Landtag findet, zu der es AfD-Abgeordnete brauchte. Die Stimmen der von einem Drittel der sächsischen Wähler entsandten Mandatsträger sollen praktisch wirkungslos gemacht werden.
Mangelnder Mut
Wenigstens soweit das möglich ist, denn bei Entscheidungen, die eine Zweidrittelmehrheit erfordern, braucht auch das informelle CDUSPDBSWGrüneLinke-Bündnis Stimmen aus der AfD oder die des unabhängigen Abgeordneten Matthias Berger. Aber für den politischen Alltag reicht es noch für hinreichende Mehrheiten aus CDU und Linksparteien.
Die CDU beraubt sich so jeder Möglichkeit, auch nur einen kleinen politischen Schritt zu tun, der nicht von mehreren linken Parteien abgesegnet wurde. Dieser Kurs des Ministerpräsidenten Kretschmer sorgte in den letzten Monaten zwar für vernehmliches Grummeln innerhalb der CDU, aber offenbar hatte kaum einer jener Abgeordneten, die einem im persönlichen Gespräch sogar recht deutlich sagen, wie sehr sie den einseitigen Linkskurs ihrer Partei ablehnen, den Mut, bei dieser Abstimmung im Landtag dem eigenen Gewissen statt der Räson einiger Parteifunktionäre zu folgen. Nicht einmal unter der Bedingung einer geheimen Wahl konnten sie sich zum Abweichen von der Parteilinie durchringen.
Dieser mangelnde Mut christdemokratischer Politiker ist ein Anlass, die tatsächliche Handlungsbereitschaft christdemokratischer Bundestagskandidaten genau zu hinterfragen, wenn sie jetzt vernünftige Dinge sagen. Aber das nur am Rande.
Sieg der Angst
Kretschmers Sieg ist zudem zu einem nicht geringen Teil ein Sieg der Angst. Dieser Angst, die viele Landtagsabgeordnete vor einer Neuwahl hatten. Wer mag schon statt fünf gesicherter Jahre als Mitglied des Landtags vor sich zu haben, schon nach wenigen Monaten wieder bei unsicherem Ausgang in den Wahlkampf ziehen? Zumal gerade die linken und grünen Parteien weitere Verluste und damit um Mandate fürchten müssten. Die SED-Erben sitzen nur wegen der Grundmandatsklausel noch in Fraktionsstärke im Parlament. Die Grünen hatten die Fünfprozenthürde nur knapp genommen, und auch die SPD hat nur noch einen recht geringen Abstand zu jener magischen Grenze.
Ebenso müssten manche Wagenknecht-Anhänger Verluste bei Neuwahlen fürchten, denn der Zustimmungs-Höhenflug dieser Bewegung einer alles dominierenden Vorsitzenden ist längst vorbei. Und in der CDU wäre sich auch nicht jeder Abgeordnete des Wiedereinzugs sicher. Das motivierte sicher viele zur Erkenntnis, dass im eigenen Interesse Neuwahlen in jedem Falle vermieden werden müssten, was bedeutet, dass ein Ministerpräsident gewählt werden sollte.
Als der Einzelabgeordnete der Freien Wähler, Matthias Berger, dann seinen Hut in den Ring warf und als Ministerpräsident kandidierte, keimte bei manch sächsischem Bürger, der die scheinbare Alternativlosigkeit CDU-linker Regierungen unerträglich findet, die Hoffnung, dass abtrünnige Abgeordnete aus verschiedenen Parteien, vor allem die Unzufriedenen aus der CDU, und die AfD-Mandatsträger eine Mehrheit für den früheren Oberbürgermeister von Grimma zusammen bekämen.
„Ministerpräsidenten von Gnaden der AfD“
Was für die einen eine Hoffnung war, erschreckte die anderen, also die, die sich anschickten, ihre eigenen Nachfolger zu werden. Und sie taten alles, um diese Mehrheit zu verhindern. Wer Macht und Einfluss hat, hat naturgemäß auch Möglichkeiten, den einen oder anderen schwankenden Mandatsträger in den eigenen Reihen zur Einhaltung der Fraktionsdisziplin zu motivieren.
Und auch den links vom Koalitionspartner SPD stehenden Mehrheitsbeschaffern, war am Ende wohl das Hemd näher als die Jacke. Im ersten Wahlgang bekam Berger – wahrscheinlich aus den Reihen des BSW – noch sechs Stimmen. Im zweiten Wahlgang erhielt Berger neben seiner eigenen noch 38 Stimmen aus der AfD, aber keine mehr von anderen Parteien. Nicht nur die Koalitionsfraktionen haben im zweiten Durchgang offenbar geschlossen für Kretschmer gestimmt, sondern auch immerhin 18 Abgeordnete vom BSW, von den Grünen und/oder aus der Linkspartei.
Die Fraktionsvorsitzende der SED-Erben, Susanne Schaper, hatte sich im MDR-Interview nach der Kretschmer-Wahl auch dazu bekannt, dass es besser war, Kretschmer zu wählen, als einen „Ministerpräsidenten von Gnaden der AfD“.
„Kemmerich-Moment“
Das wurde von der politischen Konkurrenz, aber auch vielen Medien-Meinungsbildnern dem unabhängigen Kandidaten Matthias Berger auch am stärksten angelastet, dass er bereit war, sich mit den Stimmen der AfD wählen zu lassen. Immer wieder wird versucht, ihn auf diese Weise in eine AfD-Nähe zu rücken. Dabei stört die meisten eher links stehenden Parteipolitiker wahrscheinlich vor allem der unideologische pragmatische Politikansatz des Ex-OB, für den nicht die eventuelle Rettung der Welt, sondern der sicht- und abrechenbare Nutzen für Bürger und Gemeinwesen im Mittelpunkt ganz oben auf der Prioritätenliste steht. Wer zusätzlich auch an das Wohl seiner vielen gefühlten Vorfeldorganisationen achten muss, dem ist das sicher suspekt.
Jetzt wussten natürlich plötzlich alle schon immer, dass Berger chancenlos war. Doch bis zum Schluss peinigte sie die Angst vor dem, was die Medien gern den „Kemmerich-Moment“ nannten. Der Schreck nach jenem Moment im Februar 2020, als die Mehrheit der Thüringer Landtagsabgeordneten in der Einsamkeit der Wahlkabine den FDP-Mann Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten wählten, sitzt tief. Das Grummeln in der CDU ist ja – trotz aller Koalition-Parteitagsbeschlüsse – deutlich vernehmbar, wenn man es nicht gerade überhören will. So ganz sicher war sich die Parteiführung daher nicht, ob in diesem Jahr auch in Dresden aus ihrer Sicht zu viele CDU-Mandatsträger im unbeobachteten Moment das Kreuz an der „falschen“ Stelle machen würden. Wer hätte denn diesmal das Rückabwickeln einer solchen Wahl durchsetzen können?
Gut, ein wenig Vorsorge für diesen Fall hatten die Grünen getroffen. Ihr parlamentarischer Geschäftsführer Valentin Lippmann hatte kurz vor der Wahl ein Problem ins Spiel gebracht, das der Landtag 20 Jahre zuvor eigentlich schon entschieden hatte. Wenn es nur einen Kandidaten für das Ministerpräsidentenamt gibt, dann kann der Abgeordnete mit „Nein“ stimmen, wenn er den Kandidaten ablehnt. Im Unterschied zu einer Enthaltung ist das eine Stimmabgabe, was für die Berechnung, ab wann ein Kandidat eine Mehrheit erreicht hat, wichtig ist. Wenn es mehrere Kandidaten gibt, dann fällt die Möglichkeit der Nein-Stimme weg. Die Grünen wollten diese nun auch für diesen Fall einführen und beantragten eine entsprechende Änderung, weil die gegenwärtige Praxis gegen die Sächsische Verfassung verstoßen würde.
Einen vernünftigen Kurs der Mitte hätte das Land bitter nötig
Der Antrag scheiterte, allerdings bekam dieser Grünen-Vorstoß die ausdrückliche Zustimmung und auch die Stimmen der AfD-Fraktion. Was wäre geschehen, wenn der Antrag noch mit weiteren Stimmen eine Mehrheit gefunden hätte? Es wäre doch ein grüner Brandmauerfall gewesen, oder?
Doch – so meine Vermutung – den Grünen ging es nicht so sehr um neue Wahlzettel. Viel wichtiger: Wenn die Wahl nicht in ihrem Sinne ausgegangen wäre, hätten sie vielleicht die Gültigkeit wegen nicht verfassungsgemäßer Stimmzettel anfechten können.
Das wird nun nicht geschehen, und die Sachsen haben eine Regierungszeit von Michael Kretschmer vor sich, in der er wieder nur die gleiche linkslastige Politik machen kann, die er – wie bisher – gelegentlich mit einer Restvernunft simulierenden Sprechblase garnieren wird. Ein paar Wochen vor der Bundestagswahl zeigen jetzt sowohl Voigt als auch Kretschmer immerhin, was CDU-Kandidaten am Ende aus CDU-Wählerstimmen machen können. Sie halten die Brandmauer nach rechts und haben die nach links völlig geschleift. Das verstehen sie offenbar unter einem Kurs der Mitte. Schade, denn einen vernünftigen Kurs der Mitte hätte das Land bitter nötig.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.