Mit dem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ wurde Milan Kundera weltberühmt. Nun ist der tschechisch-französische Schriftsteller im Alter von 94 Jahren gestorben.
Irgendwann im Herbst 1988 saß ich im Delphi-Filmpalast am Zoo, bequem auf einem cordgepolsterten Klappsessel. Ich saß also an diesem wahrhaft denkwürdigen Ort, wo schon Teddy Stauffer seinen verführerischen Swing gespielt hatte, als der schon offiziös anrüchig war wie heutzutage ein Rammstein-Konzert, und das „Delphi“ noch kein Kino, sondern eine heiße Jazzbühne. Mein Kommilitone Peter, links von mir, stöhnte schon bei der Werbung: Meine Güte, was für schöne Frauen! Dabei handelte es sich nur um die Bacardi-Werbung. Die folgenden guten zwei Stunden gab es auch solche zu sehen, die freche Lena Olin und die zarte Juliette Binoche, beide umgarnt und, neben einer Reihe von Gelegenheitsbekanntschaften und Hausfrauen, auch regelmäßig beschlafen von Daniel Day-Lewis.
Er, der Neurochirurg, war unangenehm aufgefallen bei seinem Staat, der damaligen Tschechoslowakei, weil er Dubček und Svoboda – „Freiheit“ – besser fand als den Einmarsch der Roten Armee in sein Land 1968. Neben diesem bunten Reigen – „Zieh’ dich aus, ich bin Arzt“ – und der verzwickten Liebesgeschichte mit gleich zwei Frauen, davon die eine „an seinem Bett gestrandet“, sah ich Letztere auch als Fotografin, die den Prager Frühling in Schwarzweiß einfängt; Juliette Binoche als vermeintlich harmlose, intellektuelle Rebellin, großartig geschnitten in historische Aufnahmen rollender Panzer, wütend-hilfloser, rotzfrecher Demonstranten, mitten hinein in die Hoffnung und den Untergang all dessen, was sie sich als Sozialismus mit menschlichem Antlitz ersehnt hatten; alsdann gezwungen in Ergebenheitsadressen gegenüber der offiziellen Regierungslinie.
Und so findet sich der Neurochirurg, eben noch fröhlich pfeifend an Schädeldecken sägend, mit Berufsverbot belegt und als Fensterputzer wieder. Nur das schüchterne Mädchen mit der Kamera wird er nicht mehr los, er muss sich allmählich, darunter sogar deutlich mehr leidend als unter seinem sozialen Absturz, verabschieden von der unerträglichen Leichtigkeit seines Seins.
Kitsch oder Leben?
Ich studierte damals Medizin, und ich fand den Film großartig. Milan Kundera, Autor des gleichnamigen Buches, soll ihn gehasst haben; es war eben kein Autorenfilm. Auch Stanislaw Lem hatte, fast zwanzig Jahre zuvor, die Verfilmung seines Romans „Solaris“ durch Andrej Tarkowskij gehasst, obwohl der Film genial ist.
Autoren haben ihre eigenen Bilder im Kopf, Regisseure andere; das ist nicht zu ändern. Und dass Bücher allein deshalb besser sind als Literaturverfilmungen, weil Bücher ihren Lesern die eigenen Bilder im Kopf lassen – eine Binsenweisheit. Schwerer schon wiegt der latente Vorwurf des Kitsches, so wie ihn Paul Ingendaay zum Tode Milan Kunderas in der FAZ mitschwingen lässt, gar der der Pseudo-Philosophie. Ja, auch ich fand „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ nicht extrem tiefgründig.
Erzählt wird die komplizierte, gar nicht philisophische, banale Geschichte eines unpolitischen, leichtlebigen Casanova, der gleich doppelt an seine Grenzen stößt, an jene der Frauen und an jene der Politik. In beiden Fällen muss er sich für die eine entscheiden. Mehr nicht. Aber eben auch nicht weniger. Nicht jeder, der mit Frauen und mit Autoritäten konfrontiert ist, muss ein Philosoph sein, ein Soziologe, ein Politiker. Nur, sich entscheiden zu müssen, das bleibt ihm dennoch nicht erspart: Politik ist das, was die einfachen Leute trifft, selbst die nicht ganz so einfachen Chirurgen, die einfache Leute sein wollen. Ja, die Zeiten ändern sich, und manchmal schnell, und dann ist ein jeder gezwungen, Stellung zu beziehen: so oder so.
Eine banale Wende
Die „Wende“ 1989 überraschte mich, den Medizinstudenten, ausgerechnet an einem Krankenhaus in London. Deutschland wirkte aus der Entfernung unwirklich, besonders vor dem uralten Fernseher eines aus den 1930er Jahren stammenden, unverändert und unrepariert original möblierten, billigen Hotels. Mit David, einem australischen Freund, Theater- und Literaturwissenschaftler, leidenschaftlichem Puppenspieler, diskutierte ich, Abend für Abend, über Geschichte, Politik und – Milan Kundera, den er gelesen hatte wie ich.
Niemand von uns konnte wissen, wie die DDR des Erich Honecker und des Erich Mielke reagieren würde auf die Montagsdemonstrationen in Leipzig, auf die Überfüllung der bundesdeutschen Botschaft in Prag. Schon wieder Prag, das Prag des Milan Kundera, gut zwanzig Jahre zuvor. Dass alles ein friedliches Ende nahm, sofern man das windige Überleben der Verbrecher von der SED bis heute denn „friedlich“ nennen kann, denn es gibt auch kalte Kriege im Innern, konnte ich nicht wissen; und ich kehrte in ein anderes Berlin zurück als jenes, das ich von Kindesbeinen an kannte, war gar gezwungen, Stellung zu beziehen, denn nicht alle waren glücklich über das nahende Ende der DDR, nicht alle dachten auch an Kurt Schumacher. Ich schon.
Und es nervte mich, weil Milan Kundera schon ein Jahr zuvor genau diesen Nerv getroffen hatte, beiläufig, banal, durch die hinterhältige, absichtliche Einfachheit seines Protagonisten. Es gibt nicht nur eine Banalität des Bösen, hinter der ganz anderes lauert, jederzeit zum Sprung bereit wie eine Raubkatze. Was hätte ich gegeben, darüber unpolitisch denken zu können. Ich konnte es nicht, und Milan Kundera, dessen Film ich gesehen hatte, und dessen Bücher ich sofort danach gekauft und verschlungen und geliebt hatte, trägt Mitschuld daran.
Unpolitisch gedacht
Vor fünfzehn Jahren sagte mir eine Kollegin, sie interessiere sich nicht für Politik. Du Glückliche, sagte ich. Ich wünsche dir, dass nie eine Zeit kommt, in der die Politik sich für dich interessiert; denn wenn du dich für Politik interessierst, nennt man das Demokratie, und wenn die Politik dich lässt, nennt man es Rechtsstaat; aber wenn die Politik sich plötzlich für dich interessiert, gegen dich, wie nennt man das?
Mein Dank an Milan Kundera, der gestern, vierundneunzigjährig, in Paris verstorben ist.