Die Migrationswende von Cem Özdemir hat Kritik von allen Seiten ausgelöst. Viel beachtet wurde der offene Brief von Michael Kyrath an den Minister. Özdemirs Statement war dennoch wichtig – denn viele integrierte Migranten denken wie er.
Cem Özdemir bekommt Feuer von vielen Seiten. Wie meist in solchen Fällen ist dies ein Zeichen, dass er vieles richtig macht. In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat der Bundeslandwirtschaftsminister (Jahrgang 1965), dessen Eltern kurz vor seiner Geburt aus der Türkei eingewandert waren, die Zuwanderungspolitik der Bundesregierung und vor allem deren Vorgängerregierung deutlich kritisiert. Er fordert „Instrumente, die ganz bewusst vor den nationalen Grenzen steuern und ordnen – etwa Asylverfahren in Drittstaaten und an Außengrenzen sowie weitere Migrations- und Rücknahmeabkommen“. Sprich: Mehr Abschiebungen, weniger reinlassen. Und: Er will die deutsche Leitkultur anerkannt wissen.
Der Beitrag hat, falls der Faden dieses wohlgemerkt grünen Politikers mit Migrationshintergrund in vernünftiger Weise aufgegriffen wird, das Zeug, der Debatte um die illegale, unkontrollierte Zuwanderung einen entscheidenden Schub in die richtige Richtung zu geben. Leider wäre so ein Schub vielen Protagonisten des Diskurses ein Dorn im Auge. Um diese Chance und ihre Bremser soll es hier in diesem Beitrag gehen.
Anlass für Özdemirs Beitrag war, wie er andeutet, die zunehmend unangenehmen Erfahrungen seiner Tochter, einer Abiturientin: „Wenn sie in der Stadt unterwegs ist, kommt es häufiger vor, dass sie oder ihre Freundinnen von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert werden.“ Dabei ist Özdemir selbst klar, dass es oft nicht bei Anmache bleibt. Auch er erwähnt „von Flüchtlingen verübte Straftaten wie Mord und Vergewaltigung“, begangen oft von einschlägig polizeibekannten jungen Männern, die ihre Identität fälschten.
Kritik von beiden Seiten
Kritik bekam Özdemir auf seinen Essay hin nicht nur von seinen Parteikollegen, die in ihrer Mehrzahl so gut wie gar nichts an der derzeitigen Migrationspolitik ändern wollen. Denen offene Grenzen bzw. das Postulat völliger Abwesenheit von Grenzen heilig sind. Immer nach dem Motto: „Niemand ist illegal!“ Alle dürfen hereinkommen (und – unausgesprochen, aber selbstverständlich – sich dann versorgen lassen). Ihnen passt die ganze Richtung von Özdemirs Beitrag nicht.
Doch Kritik kommt auch von anderswo her. Sehr berechtigt wird dem Regierungsangehörigen jetzt, im Oktober 2024, auch vorgehalten, dass er seine Stimme in dieser Richtung längst vorher hätte erheben müssen. Und nicht erst nachdem die Kriminalität so vieler (nicht aller, nicht einmal mehrheitlicher!) Migrationshintergründler derart unübersehbar und überproportional manifest wurde, dass sie auch durch die gequältesten statistischen Tricks nicht mehr aus der Welt zu schaffen ist. Nur zu verständlich daher und wichtig war in diesem Zusammenhang der offene Brief eines Vaters, bei dessen Tochter es nicht bei der Anmache blieb. Sie wurde im Zug von einem staatenlosen Palästinenser erstochen.
„Im Gegensatz zu Ihrer Tochter, lieber Herr Özdemir, kommt unsere Tochter nicht mehr nach Hause!“, schreibt der Vater. Und: „Es hat sich auch keiner Ihrer Parteifreunde in unserem Fall derart exponiert, wie Sie es jetzt für Ihre Tochter tun.“ Sein Vorwurf: „Vor Kurzem wären solche Forderungen in Ihren Augen noch rechtsradikal und damit indiskutabel gewesen. Doch kaum trifft es Sie selbst, nachdem Ihre Tochter belästigt wurde, dreht sich Ihre Meinung um volle 180 Grad. Willkommen in der realen Welt der normalen Bürger, Herr Minister!“ Der offene Brief wurde hier in der Achse des Guten veröffentlicht.
Warum sollen bestens integrierte Menschen mit Migrationsgeschichte nicht die gleichen Probleme sehen?
Özdemirs Beitrag kommt spät, aber er steht nun im Raum, von ihm, dem türkischstämmigen prominenten Politiker. Wir erinnern uns: Vor den Landtagswahlen in den drei östlichen Bundesländern verfolgten uns Presse, Funk und Fernsehen mit einem Stakkato immer ein und derselben Warnung: Sollten die Parteien AfD und BSW stark abschneiden, hieß es, so würden viele bis alle Fachkräfte mit Migrationshintergrund, seit Jahren gut integrierte Zugewanderte, aus eben diesen Ländern oder gleich ganz aus Deutschland wegziehen. Der Grund: Sie würden angeblich befürchten, dass sich die migrationskritische Stimmung im Land dann gegen sie richten würde. Die vermeintliche Folge: Der Standort Deutschland sei in Gefahr. Einzelne Unternehmen oder ganze Wirtschaftsverbände stießen ins selbe Horn, plakatierten, warben entsprechend, mischten im Wahlkampf mit.
Was dabei auffiel: Auf entsprechende Stimmen oder gar Umfragen unter den Betroffenen beriefen sich jene Medien bei dieser Behauptung so gut wie nie. Es blieb bei der Erwartung, die sich offenbar allein auf ein Bauchgefühl stützte. Womöglich auch auf dem Willen, selbst am Wahlkampf gegen Rechts teilzunehmen? Aber stimmte diese Behauptung denn überhaupt?
Verdrängt jedenfalls wurde von all jenen, die diese These mal einfach so aufstellten, unter anderem eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zum Thema. Die stellte im Juni, also lange vor den jüngsten Wahlen, fest, dass besonders Sahra Wagenknechts BSW, die in ihrer Stimmungsmache gegen die herrschende Migrationspolitik der AfD in nichts nachsteht, vor allem bei türkischstämmigen Wählern ankommt. Der Tagesspiegel berichtete seinerzeit darüber und fand dies „überraschend“.
Warum eigentlich? Warum sollen bestens integrierte Menschen mit Migrationsgeschichte, gesetzestreu, fleißig, womöglich auch auf Wohnungssuche, mit heranwachsenden Töchtern, nicht dieselben Probleme mit unkontrollierter, illegaler Zuwanderung in die Sozialsysteme und die Sozialwohnungen haben, die inzwischen die öffentliche Debatte bestimmen wie kaum etwas anderes – gerade wegen multipler Probleme, die die Gesellschaft wie die öffentliche Hand, Polizei und Justiz, besonders aber die Kommunen inzwischen allesamt und für alle sichtbar weit über ihre Kapazitäten belasten?
"Klasse kämpft da gegen Unterklasse"
Und dann kam Özdemir. Und Constanze von Bullion, ihres Zeichens Kommentatorin der Süddeutschen Zeitung. Sie, die – wie ihr Blatt insgesamt – jener politisch brav-korrekten Meinungsfraktion zuzuordnen ist, die wie erwähnt schon alle Migranten beziehungsweise Nachfahren früherer Migranten auf gepackten Koffern saß, gibt sich nicht nur „überrascht“ wie der Tagesspiegel. Nein, sie gibt ihrem Kommentar in der SZ vom 5. Oktober, in dem sie sich mit Özdemirs FAZ-Beitrag auseinandersetzt, gleich die Überschrift: „Es ist befremdlich, wenn Politiker mit Einwanderungsbiografien auf Geflüchtete schimpfen“.
Ist es die Rache dafür, dass sie von solchen Stimmen aus diesem Lager überrascht ist, eines Besseren belehrt wurde? Was aber gibt der Schreiberin das Recht, ausgerechnet die Migrantenszene in ihrer Meinungsfreiheit zu begrenzen? Bullion selbst fallen nun gleich eine Handvoll weiterer Politiker mit Migrationsgeschichte ein, die ähnlich wie Özdemir denken. Wagenknecht selbst wie auch viele ihrer Parteigängerinnen, die sie namentlich aufführt, aber auch die stellvertretende CDU-Vorsitzende Serap Güler. Sie alle sollen sich da am besten raushalten.
Grundsätzlich will von Bullion all diesen das Recht auf Mitsprache nicht ganz verweigern, aber bitte mit der richtigen Stoßrichtung. „Die Art aber, wie politische Spitzenkräfte ihre Einwanderungsbiografien jetzt in Szene setzen, um noch weniger Unterstützung für Geflüchtete zu organisieren, ist befremdlich. Denn sie sind viele.“ Wenn es doch nur weniger wären, möchte man da anfügen… Sind sie aber nicht.
Bullion unterstellt ihnen gesellschaftliche Abgrenzung „nach unten, gegen neue, oft weniger gebildete Immigranten, mit denen sie und ihre Kinder nicht verwechselt werden wollen.“ Es ginge da ihrer Ansicht nach „vor allem um die Absicherung eines harten sozialen Aufstiegs. Klasse kämpft da gegen Unterklasse. Sie darf das. Aber sie sollte es auch so benennen.“ Dieses reichlich populistische Argument, den abgesicherten hohen Politikern zu unterstellen, sie wollten sich lediglich nach unten abgrenzen, setzt die SZ-Kommentatorin als Schlusspointe ihres Kommentars.
In der Lebenswirklichkeit ständig bestätigt
Dass neben den unterschiedlichen Lebensmodellen, ja, auch Lebensleistungen auch durchaus kulturelle, auch religiöse Differenzen, Vorbehalte zwischen den „alteingesessenen“ Migranten und den Millionen, die jetzt zumindest zunächst ohne jede Arbeitsperspektive ins Land strömen, auch dass etwa Türken und Araber bisweilen ein gespanntes Verhältnis haben, spielt in dieses Thema auch mit hinein, soll hier aber nicht weiter vertieft werden. Außer acht bleiben sollten diese Aspekte allerdings auch nicht, wenn es um die Aufnahmekapazitäten und Befriedungspotenziale der Gesellschaft geht. So oder so: Wer hier unbedingte gegenseitige Solidarität der verschiedenen Subkulturen automatisch voraussetzt, ist bestenfalls blauäugig.
Die Liste prominenter Einwanderer, Kinder oder Enkelkinder von Einwanderereltern, die sich kritisch mit den derzeitigen immer noch weitgehend offenen Grenzen auseinandersetzen, ließe sich beliebig verlängern. Jeder kann sie sich mit ein paar Klicks selbst zusammenstellen. Ein Tipp: Sieben der zehn BSW-Bundestagsabgeordneten haben einen Migrationshintergrund. Doch die Suche allein nach Prominenz hierbei führt zu nichts.
Es gibt überhaupt keinen Grund, dem normalen, „gemeinen“ Bundesbürger mit Migrationsbezug eine gesunde Skepsis gegenüber der unkontrollierten Migration abzusprechen. Wer genau hinhört, sieht dies – auch unabhängig von Erhebungen wie der von der Böckler-Stiftung – in der Lebenswirklichkeit ständig bestätigt, im Freundeskreis, in der nahen und fernen Verwandtschaft.
Hier hört der Autor dieser Zeilen von seinem türkischen Friseur ganz spontan: „Es gibt zu viele Ausländer hier, na gut, ich bin ja selbst einer, aber es ist so.“ Da erzählt ihm der Chef eines mittelständischen Familienunternehmens, der als Verbandschef gleichzeitig den weiten Überblick hat, dass seine Beschäftigten, immerhin aus einem Dutzend Ländern, zum großen Teil sehr skeptisch der Versorgungsmentalität bei der heutigen Immigration gegenüberstehen.
"Geht's noch kartoffeliger?"
Dass auf diese Weise die Kästchen, die man doch vor den Wahlen in Ostdeutschland so schön geordnet sah, nicht etwa jetzt durcheinander geraten, sondern sich als seit langem bereits irreleitende Schimäre entpuppen, erfüllt nach Özdemirs prominentem „Outing“ Viele offenbar mit Zorn. Anabel Schunke hat in der „Weltwoche“ ein paar Statements zusammengetragen: „So schreibt etwa Özgür Özvatan, seines Zeichens Forscher am staatlich geförderten Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung, auf X: ‚Geht's noch kartoffeliger?‘ ‚Özdemirs Sorge um die Tochter wegen ‚illegaler Migranten‘, so Autorin Annika Brockschmidt, sei ‚das sexistischste, rassistischste Klischee schlechthin‘, und Historiker Jürgen Zimmerer sieht in dem Grünen-Politiker gar ‚das Gesicht der völkischen Wende in der Bundesrepublik‘, das für höhere Ämter in der Politik ‚nicht geeignet‘ sei. Mit solchen Narrativen unterstütze Özdemir letztlich ‚die Rechten‘ und falle Migranten in den Rücken, so die linke Aktivistin Daniela Sepehri. Das ist das Totschlagargument schlechthin. Wenn sämtliche Verharmlosungen des Nationalsozialismus nicht mehr ziehen, hilft immer noch der Verweis darauf, dass irgendetwas ‚den Falschen‘ in die Hände spielt.“ Soweit Anabel Schunke.
Migrationskritik aus dem Özdemir-Spektrum überraschend? Nein, gar nicht.
Die Kritiker, die es jetzt besonders befremdlich finden, dass auch aus diesem Spektrum der Bevölkerung „überraschenderweise“ die unkontrollierte Migration kritisiert wird, merken gar nicht, wie sie selbst dem Rassismus, der Spaltung der Gesellschaft, der Diskriminierung Vorschub leisten. Sie finden nichts dabei, dass sie ganz offensichtlich deren ansonsten allseits anerkannte Lebensleistung diskriminieren, wenn sie sie auf eine Stufe stellen mit denen, die heute in die Sozialsysteme einwandern und automatisch davon ausgehen, dass sie sich mit denen solidarisieren müssten gegen die „Urdeutschen“, die dieser Art Zuwanderung so kritisch und angeblich rassistisch gegenüberstehen. Dadurch stellen sie sie, nur weil sie einst selbst eingewandert sind, außerhalb der übrigen, bundesdeutschen Gesellschaft.
Die Kinder der „Gastarbeiter“ täten der Gesellschaft und ihrem Frieden einen Dienst, wenn sie sich, sofern auch sie sich ähnlich positionieren wie Özdemir, in dieser Weise durchaus öffentlich verstärkt zu Wort melden. Sie sind genauso betroffen von dem Wildwuchs der unkontrollierten Migration wie alle anderen, auch wenn das manche Aktivisten aus propagandistischen Gründen nicht wahrhaben wollen. Schließlich können sie sowohl den hiesigen Verantwortlichen (zu denen sie oft genug selbst zählen) als auch den Neumigranten als Vorbild dienen und genau das in der gesellschaftlichen Diskussion mit ganzem Gewicht in die Waagschale werfen.
Dazu müssten ihre Stimmen allseits akzeptiert werden. Dass es „befremdlich“ sei, wenn auch sie – gerade sie – sich entsprechend äußern, wollen wir dann nicht mehr hören und lesen. Sie dürfen das ganz besonders.
Der Beitrag von Özdemir zeigt, dass er in der Hinsicht von seinen „Landsleuten“ im Land viel hält, hierbei auf sie setzt, wenn er sich jetzt, im Vorgriff auf den Wahlkampf (es gibt keinen Grund, ihm dies vorzuwerfen) in dieser Weise äußert. Er geht davon aus, dass die „Türken“ beim Daimler ähnlich denken wie er.
Ulli Kulke ist Journalist und Buchautor. Zu seinen journalistischen Stationen zählen unter anderem die „taz“, „mare“, „Welt“ und „Welt am Sonntag“, er schrieb Reportagen und Essays für „Zeit-Magazin“ und „SZ-Magazin“, auch Titelgeschichten für „National Geographic“, und veröffentlichte mehrere Bücher zu historischen Themen.