Dieter Prokop, Gastautor / 17.01.2019 / 06:29 / Foto: Lisa Risager / 21 / Seite ausdrucken

Migration: Es geht ums soziale Eigentum (3)

Von Dieter Prokop

Ist also die „Identitätspolitik“, die „Politik der Lebensformen“ die eigentliche strukturelle Ursache des „Welt ohne Grenzen“-Hypes? – Nein. Denn Francis Fukuyama erklärt nicht, woher diese „Identitätspolitik“ kommt. „Jede marginalisierte Gruppe stand vor der Wahl ...", schreibt er – aber wer oder was gab ihnen diese Wahl? Meine These: Die „Identitätspolitik“ ist geprägt von den Strukturen und Interessenlagen der Werbung. Auch Wahlkampf ist nichts anderes als Werbung, und die meisten Politikberater kommen aus der für die Werbung arbeitenden Markt- und Meinungsforschung.

In der Werbung geht es um die „punktgenaue“ Ansprache von Zielgruppen als „Milieus“. „Milieus“ sind von der Markt- und Meinungsforschung im Auftrag der Medien oder der Werbeagenturen zwecks Akquisition von Werbegeldern konstruierte Gruppen mit speziellen „Wertorientierungen“ oder auch „Lifestyles“. Die Werbewirtschaft suggeriert ihren Auftraggebern, dass diese „Wertorientierungen“, diese „Lebensformen“ („Lifestyles“), in denen die Leute angeblich voll und ganz aufgehen, ihre „Identität“ ausmachen. So, als hätten die Leute keinerlei Verstand im Kopf, der sie dazu veranlasst, über den Tellerrand ihrer (von den Marktforschern mittels vorgegebener Statements selektiv abgefragten) Milieu-Werteprovinz zu blicken.

Im Internet sind die Leute durchaus in der Lage, über den Rand ihrer „Filterblase“ zu blicken. Sie tun das, wenn es um ihr eigenes Haushaltsbudget geht oder um die Schulen ihrer Kinder. Aber die Werbeleute machen ihre Auftraggeber, die werbungbetreibenden Unternehmen – und die Parteien – glauben, dass die Adressaten von Werbung, wenn man nur deren „Wertorientierungen“ punktgenau anspricht, das Beworbene, ob Waren oder Parteien, automatisch kaufen beziehungsweise wählen.

Heute spricht man gern von „Microtargeting“. „Targeting“ bedeutet: mit Pfeil und Bogen oder einer Pistole auf eine Zielscheibe schießen. „Microtargeting“ meint, dass die Werbung, wenn sie zum Beispiel Facebook-Mitteilungen auf jeden Häuserblock speziell ausrichtet, also „Filterblasen“ schafft, dort dann tatsächlich ganz raffiniert jeden Menschen zum Kaufen oder Wählen beeinflussen könne. Das kann sie aber nicht. Auch das „Mikro-Zielen“ ist nur der Versuch einer Manipulation, mehr nicht.

Was hat das mit der „Identitätspolitik“, der „Politik der Lebensformen“ zu tun? Wenn für die Werbewirtschaft und damit auch für die Werbung betreibenden Unternehmen und Parteien die Lifestyles das Allerwichtigste sind, nehmen dann eben die Schlauen unter den Umworbenen die Chance wahr, ihre jeweiligen Lifestyles als das Allerwichtigste zu propagieren. Diese schlauen, politisierten „Milieus“ wollen keine „Targets“, keine passiven Zielscheiben sein, sondern sie drehen die Manipulationsabsicht um und betrachten jetzt die Politiker und die Öffentlichkeit nun selbst als Zielscheiben ihrer Identitätspolitik und verlangen vom Staat Anerkennung, „Respekt“ und Privilegien: Sonderrechte, Staatsgeld und Posten.

Gefahren imperativer Identität für die Demokratie

Problematisch ist daran natürlich nicht, dass Minderheiten sich gegen Diskriminierung wehren. Sie haben in Demokratien einen Anspruch auf Rechtsgleichheit (so wie die politisch Verfolgten einen Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit haben). – Problematisch ist jedoch, dass die Minderheits-Milieus, um ihr „Target“, ihr „Ziel“ punktgenau zu treffen – nämlich für sich Privilegien herauszuholen –, sich moralisch als „Opfer der Anderen“ oder als Advokaten „der Opfer“ inszenieren. Sie schaffen damit für sich eine Art quasi-religiöse „imperative Identität“.

Ein die Frage der „Migration“ betreffendes Beispiel hierfür ist der stereotyp wiederholte Satz „Im Mittelmeer ertrinken Menschen!". Er richtet sich an die Gefühle aller Menschen, entweder aus (verständlicher, berechtigter) moralischer Empörung oder auch, um Gefühle zu instrumentalisieren. Zugleich setzen gerade jene, die scheinbar so hochsensibel eine „Welt ohne Grenzen“ propagieren, mit erstaunlicher Intoleranz Grenzen, ja Mauern gegenüber Andersdenkenden, die sie als Ketzer, ja Teufel darstellen.

Und da es viele Gläubige gibt, die quasi-religiös an das „gemeinsame Menschsein“ glauben und sich eine „Welt ohne Grenzen“, die beste aller Welten, ersehnen (und zugleich Mauern gegen Andersdenkende setzen); und da das „Zurückzielen“ oder propagandistische „Zurückschießen“ mit Opfer- und Teufels-Mythen arbeitet – hat es auch mehr Wirkung als die als unglaubwürdig geltende Werbung. So entsteht dann ein Publikum, das glaubt, partikulare Interessen auch am Rand oder außerhalb von Rechtsverhältnissen durchsetzen zu können, ja aus moralischen Gründen zu müssen.

Aber hat denn die Bundesregierung, die die „Willkommenskultur“ so massiv unterstützte, sich nicht strikt an die europäischen Gesetze gehalten, an die Genfer Flüchtlingskonvention und Schengen und Dublin? Ja, das hat sie. Sie ignorierte allerdings das Grundgesetz, das wegen der Deutschland umgebenden sicheren Nachbarstaaten (sicher in Bezug auf politische Verfolgung) sogar die Abweisung von Asyl-Beantragenden ermöglichen würde. (s. GG Art. 16a, Abs. 2, Abs. 3) Auch dieses „Ignorieren“ hielt sich strikt an die Gesetze. Denn die Bundesregierung handelte unter Bezug auf das „Selbsteintrittsrecht“ im Dublin-Abkommen: auf das Recht, Asyl-Beantragende aufzunehmen, selbst wenn man von sicheren Staaten umgeben ist. (s. Dublin-Verordnung III, Artikel 17)

Das Recht darf nicht Unmögliches verlangen

Das „Selbsteintrittsrecht“ wurde mit einem „humanitären Imperativ“ legitimiert, um im August/September 2015 den über die Balkanroute anstürmenden Hunderttausenden zu helfen. (Im Fernsehen hatten sich die Kameras nicht auf die unzähligen arbeitslosen jungen Männer konzentriert, sondern auf weinende Mütter und Kinder. Immer mal konnte auch ein arbeitsloser junger Mann ein Statement abgeben, und er sagte dann in seiner Landessprache: „Ich möchte in Deutschland studieren.") Aber wer bis heute von „Geflüchteten“ spricht und in der Öffentlichkeit nicht genau zwischen den unterschiedlichen Gruppen der illegal Eingereisten unterscheidet, der macht letztlich Politik zur Caritas. Ob diese Art von „imperativer Identität“ legitim ist, das ist hier die Frage.

Denn: Demokratie gibt es nur, wenn Alle, auch Alle aus den „Milieus“, den Werteprovinzen und Filterblasen, die Tellerränder ihrer „Identitäten“ überschreiten und im Rahmen des für alle gleichen, demokratisch konstituierten Rechtszustands agieren und, wo nicht vorhanden, auch um ihre Rechte kämpfen – um gleiche Rechte, also nicht um Anerkennung und Respektierung von „Identitäten“ mittels Privilegien, Staatsgeldern und Sonderrechten. Nur so, durch die Sachlichkeit des Rechtszustands, kann vermieden werden, dass Imagepolitik und Moralpolitik über den Rechtszustand gestellt werden.

Für das „gemeinsame Menschsein“ aller auf dem gesamten Globus und die „Welt ohne Grenzen“ – für die Propagierung dieser Ideale mag der Papst die Kompetenz haben, aber nicht der demokratische Rechtszustand. Denn bekanntlich darf das Recht Unmögliches nicht verlangen.

Ende

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Dieter Prokop ist Professor em. für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Er schrieb mehrere Bücher über Europa. Sein neuestes Buch ist „Europas Wahl zwischen Rhetorik und Realität“.

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Andreas Rühl / 17.01.2019

Es koennte etwas dran sein an der Idee, dass Politik und Politiker zunehmend sich selbst als produkte verstehen, die die zu verkaufen haben. Und wir Donald draper weiß, verkauft man ein Produkt, indem man den Käufer vorgaukelt, dass er etwas kauft, was ihn freier, gluecklicher, selbstzufriedener macht. So wie du bist, ist es okay. Es ist alles gut, es wird alles gut. Und so weiter. Insofern sind in der Tat die gruenen derzeit die geschicktesten selbstvermarkter, weil sie genau diese botschaft ihren waehlern vermitteln. Wer das Kreuz bei gruen setzt, ist nicht nur für eine bessere Welt. Er ist selbst Teil dieser Welt und bestätigt sich das auch noch selbst. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Man denkt an eine weitete Szene aus Mad Men. Draper entwickelt den Werbespruch it’s toasted fuer Zigaretten. Die Leute von lucky wenden ein, dass jeder Hersteller seinen Tabak roestet. Nein, sagt draper, der Tabak der anderen ist giftig. Rückkehr zur interessengeleiteten sachpolitik scheint mir vor dem Hintergrund eine Illusion zu sein.

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