Von Dieter Prokop
Im Mai ist Europawahl – und ein Abstieg von CDU und SPD wie bei den Wahlen 2017/2018 ist voraussehbar. Zu erwarten ist auch, dass danach wieder ein unerklärlicher, mystischer „Trend“ dafür verantwortlich gemacht wird oder „falsche Kommunikation“ oder eine „fehlende Kommunikationsoffensive“.
Aber die Ursache ist die Flüchtlingspolitik. Die Folge der Willkommenspolitik war die Spaltung der Bevölkerung in zwei große Teile. Der eine Teil befürwortet zwar die Hilfe für Asylberechtigte, Kriegsflüchtlinge und Katastrophenopfer als selbstverständlich, ist jedoch darüber verärgert, dass illegal Eingereiste, die nicht asylberechtigt und keine Kriegsflüchtlinge sind, einen Anteil an den Sozialsystemen erhalten. Der andere Teil der Bevölkerung möchte die Sozialsysteme mit allen Menschen auf dem Globus teilen. Aber es ist ein Rechtszustand, dass soziale Leistungen von der Bevölkerung eines Staates für die Bevölkerung dieses Staates durchgesetzt wurden. Die Sozialsysteme sind ihr soziales Eigentum, und Eigentum ist seit der französischen Revolution ein Menschenrecht.
Die offizielle Politik der CDU und SPD unterscheidet nicht zwischen politisch Verfolgten, also Asylberechtigten, und den Anderen. Alle sind für sie „Geflüchtete“ oder gar „Einwanderer“. Was die nicht politisch Verfolgten objektiv nicht sind. Wenn zum Beispiel ein Familienclan aus der afrikanischen Mittelschicht seinem fünften Sohn zu hohen Zinsen ein Darlehen gibt, damit er den Schreckensweg nach Europa antritt und dann Geld nach Hause schickt, dann ist jener kein politisch Verfolgter, kein „Geflüchteter“ und kein „Einwanderer“.
Und was die Sozialleistungen für die eigenen Bevölkerungen betrifft, die arm, arbeitslos etc. sind, so hat die EU hier selbst Reformbedarf. In manchen EU-Staaten gibt es nicht einmal eine Arbeitslosenversicherung. Es wäre ein Fortschritt, wenn, wie Macron es fordert, das europaweit institutionalisiert würde – aber das würde zunächst die Einrichtung von Arbeitslosenhilfen und effektiver, korruptionsfreier Sozialämter in den südlichen EU-Südstaaten durch jene selbst voraussetzen. Ein nur schwer lösbares Strukturproblem.
Rückblick: Image-Mätzchen zur Bayernwahl
Die CSU hatte seit 2015 die Probleme einer „grenzenlosen“ Flüchtlingspolitik thematisiert, also den Ärger eines großen Teils der Bevölkerung aufgegriffen. Warum verlor die CSU dann so viele Wählerinnen und Wähler? Weil es ein Unterschied ist, ob man Politik als realitätsbezogenes Handeln betreibt oder als Imagestrategie. Söder praktizierte viel Imagewerbung: Wortprägungen wie „Asyltourismus“ und Bilder, in denen Söder das Kreuz wie ein Vampirjäger vor sich hält: „Weiche, Satan!“ Demokraten wollen aber keine Vampirjäger und Kreuzritter.
Politiker müssen über die Sachfragen – die sie meistens ausgezeichnet kennen – keine trockenen Vorträge halten. Es zahlt sich nicht aus, wenn sie den Wählerinnen und Wählern nur „Narrative“ bieten. Aber Politik ist nicht nur Imagepflege, sondern auch realitätsbezogenes Handeln: Bundesinnenminister Seehofer versuchte es mit seinem Masterplan. Jedoch hatte er nicht berücksichtigt, dass deutsche Grenzkontrollen den nächsten spektakulären deutschen Alleingang bedeutet hätten. Dabei war schon die deutsche Willkommenspolitik zu viel Alleingang.
Man kann auch nicht Andere als „Populisten“ beschimpfen – also einem fiktiven „Volk“ schmeichelnd – und zugleich sich selbst zwecks Imagepflege populistischer Mittel bedienen. Populistisch war nicht nur Söders Vampirjäger-Gehabe, auch Merkels „Wir schaffen das!“: darin, dass ein fiktives großes WIR konstruiert wurde. Aber wer ist dieses WIR? Das „deutsche Volk“ ist, wenn man sachlich bleibt, nichts anderes als die deutsche Bevölkerung: alle Personen mit einem deutschen Pass. Und Feindbilder sind in der Bevölkerung nicht so beliebt, wie das Carl Schmitt glaubte und PEGIDA suggeriert. Das WIR ist nicht mehr und nicht weniger als die Bevölkerung – und das ist nicht mehr und nicht weniger als ein Rechtszustand. Auf den Rechtszustand richten sich nicht nur Gefühle, sondern auch der Verstand und die Interessen der Bevölkerung. Die Interessen richten sich auch in Bezug auf die „Flüchtlingskrise“ auf wirtschaftliche Fragen, nämlich die der Kosten für die Bevölkerung. Jeder Bürgermeister in den deutschen Städten, nicht nur in Tübingen, weiß darüber Bescheid.
Wenn die Leute aus Protest statt CDU und SPD die AfD wählen, nützen Beschimpfungen nichts, und wenn das noch so „soziologisch“ daherkommt, mit Schlagwörtern wie „Globalisierungsverlierer“, „Modernisierungsgegner“ etc.. Und wenn die CDU/CSU die AfD (und die SPD die LINKE) demonstrativ als Koalitions- und sogar als Gesprächspartner ausschließen – bundesweit oder landesweit –, dann wählen jene Wähler, die den großen Parteien eins auswischen wollen, eben unter den kleineren Parteien die mit einem klaren Profil. Die Grünen hatten zwei klare Profile: die „Welt ohne Grenzen“, und das machte sie für jenen Teil der Bevölkerung attraktiv, der an eine „Welt ohne Grenzen“ glaubt. Und die klaren Umweltziele: Ein ökologisches Bayern erschien manchen Wählerinnen und Wählern immer noch besser als ein Bayern der alten Kreuzrittersleut. Insofern war der Aufstieg der Grünen in Bayern sowohl eine Glaubenswahl als auch eine Protestwahl von Leuten, die der CSU wegen ihrer Werbemätzchen nicht trauten.
Migration als staatliches Arbeitsbeschaffungs-Programm
Warum wagt keine der (ehemaligen) „Volksparteien“, den Unterschied auch nur zu erwähnen? Den Unterschied zwischen einerseits den Asylberechtigten und andererseits den illegal Eingereisten, die „Asyl“ gesagt hatten, ohne politisch verfolgt zu sein und im Rahmen langwieriger Gerichtsverfahren Sozialhilfe für sich und ihre Familien beanspruchen?
Eine der strukturellen Ursachen für die Weigerung, Unterschiede zu machen, sind die Umverteilungskämpfe, wie sie nicht zuletzt auch entstanden, weil neoliberale marktradikale Politik bereits seit den 1980er Jahren Stellen und Investitionen kürzte („schlanker Staat“). Die Folge: Der deutsche Willkommens-Hype wurde ein staatliches Geld- und Posten-Beschaffungsprogramm für Sozialarbeiter, Lehrer, Psychologen, Rechtsanwälte, Pflegeberufe, Bauarbeiter, Vermieter, Immobilienhaie und auch für Weiterbildungs-Institutionen aller Art und nicht zuletzt für die NGOs, die Nichtregierungsorganisationen. Sie alle sind das Wählerpotenzial für die Grünen – aber nicht für die großen „Volksparteien“, denn von denen erwartet man mehr als Klientelpolitik. Weshalb auch das Eintreten der SPD für „Soziales“ der Partei keine Stimmen einbrachte. Von den Volksparteien erwartet man ein staatspolitisches Denken wie bei Willy Brandt (oder Helmut Kohl).
Allerdings muss man hier zwischen dem gewollten Ziel und der Lösung unterscheiden.
Das gewollte Ziel ist – jedenfalls für den einen großen Teil der Bevölkerung – einfach: Asyl und Sozialhilfe aller Art für politisch Verfolgte: JA. Die Einwanderung gut ausgebildeter und der Sprache mächtiger Fachkräfte: JA, Subventionierung von Nicht-Asylberechtigten, arbeitslosen, nicht ausgebildeten Nicht-Fachkräften und Sozialmigranten: NEIN – das ist alles, was dieser Teil der Bevölkerung von den „Volksparteien“ will.
Das neue deutsche „Fachkräfte-Einwanderungsgesetz“ scheint deren Wunsch zu erfüllen. – Jedoch darf man vermuten, dass es unter „Fachkräften“ auch den unausgebildeten Hilfsarbeiter versteht, der mit ein paar Kursen zur „Fachkraft“ gemacht wird. Jeder abgelehnte Asylbewerber erhält damit, statt zur Rückreise verpflichtet zu sein, einen Aufenthaltstitel und wird damit – mit beschönigenden Begriffen spart man nicht – zum „Erwerbsmigranten“. Es wird mit diesem „Spurenwechsel“ der Status einer „Beschäftigungsduldung“ eingeführt. Der „Erwerbsmigrant“ wird nach zwei Jahren in eine Aufenthaltserlaubnis überführt und erhält eine „Ausbildungsduldung“ – wobei mit „Ausbildung“ keine Fachausbildung gemeint ist, sondern Schnellkurse für Niedriglohn-Arbeitskräfte, Hilfsarbeiter, wie sie die Industrie gern hätte, weil angeblich kein deutscher Arbeitsloser diese Jobs übernehmen will. (Was ja an den Niedriglöhnen liegt.)
Europäischer Grenzschutz?
Die Lösung ist jedoch eine komplizierte, weil europarechtliche Angelegenheit. Das berührt die Schengen- und Dublin-Vereinbarungen, deren Rechtsstaatlichkeit erhalten bleiben muss, aber doch in anderer Form institutionalisiert werden könnte. Und das berührt das Problem des europäischen Grenzschutzes. Die Kanzlerin sprach darüber Anfang Juni 2018 in einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung:
"[...] vor allem müssen wir die illegale Migration von vornherein reduzieren. Dazu wollen wir vor allem mit Transitländern Vereinbarungen über die Bekämpfung der illegalen Migration schließen. Mit den Herkunftsländern sprechen wir darüber, wie wir Menschen ohne Aufenthaltsrecht in Europa besser in ihre Heimat zurückführen können, und im Gegenzug wollen wir legale Formen der Migration fördern können, insbesondere zu Studium oder Ausbildung, beziehungsweise im Rahmen der Fachkräftezuwanderung." Und: "Wir brauchen einheitliche Verfahren an den europäischen Außengrenzen. Und die europäische Grenzschutzagentur Frontex muss mittelfristig eine echte europäische Grenzpolizei mit europäischen Kompetenzen werden. Das heißt, die europäische Grenzpolizei muss das Recht haben, an den Außengrenzen eigenständig zu agieren." (3.7.2018: 3 f.)
Bekämpfung der illegalen Migration und eine europäische Grenzschutzpolizei – das war bei der Willkommenskanzlerin überraschend. Sie benannte die notwendigen – allerdings nur langfristig und mühsam erreichbaren – Lösungen. Aber sie konnte sich nicht dazu entschließen, das Ziel zu benennen. Ein deutliches JA und NEIN hätte ihr großes WIR („Wir schaffen das") gefährdet. Die Hegemonie über die Definition des WIR wurde der AfD überlassen, in der Fanatiker dieses fragwürdige WIR dann völkisch-nationalistisch einfärbten.
Gäbe es ein deutsches Einwanderungsgesetz nach dem Vorbild des kanadischen – das nur qualifizierte, sprachkundige Personen ins Land lässt, die einen Arbeitsvertrag haben –, könnte das die Bundesrepublik angesichts der Grundfreiheiten des EU-Binnenmarkts – der Warenverkehrs-, Dienstleistungs-, Niederlassungsfreiheit, der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Kapitalverkehrsfreiheit – kaum realisieren, es sei denn, deutsche Grenzkontrollen würden eingeführt. Der freie EU-Binnenmarkt ist jedoch unantastbar.
Das strukturelle Dilemma besteht also darin, dass ein vernünftiges und allseits akzeptables Einwanderungsgesetz nur EU-weit möglich ist und es zudem hierfür der Kontrolle der Außengrenzen der EU bedarf. – Aber eine europäische Grenzschutzpolizei müsste in die Souveränität der EU-Außengrenzstaaten eingreifen. Und es müsste viel Geld in diese Staaten fließen, was wiederum das Strukturproblem impliziert, dass eine EU-Staatsanwaltschaft – die eben erst institutionell etabliert wurde – den Gebrauch beziehungsweise Missbrauch dieser Gelder kontrollieren müsste. Denn Korruption und schwerfällige Bürokratien sind das Problem in den südlichen Außengrenzstaaten der EU. So ist der europäische Grenzschutz das eigentliche Strukturproblem.
In der nächsten Folge morgen: „Das Publikum ist nicht dumm; es bietet seinerseits dem Wahnsinn Trotz, der auf seine Kosten lebt." (Voltaire)
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Dieter Prokop ist Professor em. für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Er schrieb mehrere Bücher über Europa. Sein neuestes Buch heißt „Europas Wahl zwischen Rhetorik und Realität“.