Kolja Zydatiss / 23.03.2019 / 06:03 / Foto: Zoran Veselinovic / 43 / Seite ausdrucken

Michael Jackson und die Exorzisten

Zwei erwachsene Männer erheben in der TV-Dokumentation „Leaving Neverland“ schwere Missbrauchsvorwürfe gegen Michael Jackson, und erschreckend viele Menschen sind bereit, ihre Darstellung völlig unkritisch zu übernehmen. Große Radiosender in Kanada, den Niederlanden, Australien und Neuseeland wollen Jacksons Lieder nicht mehr spielen. Der Rapper Drake hat einen Song mit einem Gesangsabschnitt des verstorbenen Popstars aus dem Programm seiner Europatournee gestrichen, und das Modelabel Louis Vuitton will von Jackson inspirierte Produkte aus dem Sortiment nehmen. Eine Folge der Zeichentrickserie „Simpsons“, in der Michael Jackson eine Rolle sprach, soll nicht mehr ausgestrahlt werden, und der Produzent ist überzeugt, dass der Sänger nur mitwirkte, um sich das Vertrauen der Kinder zu erschleichen.

Einige Journalisten lassen allen Anschein von Objektivität fallen. In der Zeit fragt sich eine Autorin, was Jacksons Missbrauch „mit dem Leben der betroffenen Menschen angerichtet hat“. „Michael Jackson missbrauchte seine Opfer in den Achtzigerjahren“, schreibt ein Welt-Redakteur. „Wie Michael Jackson Familien bezirzte, zerriss, wegwarf“, titelt Spiegel Online. „Manche [seiner] Songs klingen mit ihren schlüpfrigen Lyrics angesichts der aktuellen Erkenntnisse sogar ganz besonders creepy“, heißt es beim Stern-Ableger Neon.

Müsste es nicht „mutmaßlich“ heißen? „Vorwürfe“ statt „Erkenntnisse“? Denn der „King of Pop“ mag ein sehr seltsamer Mensch gewesen sein, der sich auf seinen Tourneen und auf seiner zum Vergnügungspark ausgebauten Neverland Ranch mit einem Tross kleiner Jungen umgab und mit diesen zum Teil sein Bett teilte. Doch eindeutige Beweise dafür, dass der Sänger seine mögliche pädosexuelle Neigung in Form von sexuellem Kindesmissbrauch auslebte, gibt es schlicht und einfach nicht.

Im August 1993 erhob der amerikanische Zahnarzt Evan Chandler Vorwürfe, sein minderjähriger Sohn Jordan sei von Michael Jackson sexuell missbraucht worden. Tonbandmitschnitte enthüllten später Chandlers Plan, den Sänger persönlich wie beruflich vernichten zu wollen. Auch Jordan Chandlers Beschreibung von Jacksons Genitalien erwies sich als unzutreffend (unter anderem behauptete der Junge, Jackson sei beschnitten gewesen, was nicht stimmte). Der Popstar beteuerte öffentlich seine Unschuld, einigte sich jedoch außergerichtlich mit den Chandlers auf eine Abfindung, um Tourausfälle und Albumverschiebungen durch einen mehrjährigen Prozess zu vermeiden. Das Ermittlungsverfahren wurde 1994 eingestellt. Nach dem Suizid seines Vaters im Jahr 2009 hat Jordan Chandler die Anschuldigungen gegen Jackson zurückgenommen.

In allen Anklagepunkten freigesprochen

Im Jahr 2003 gab der Teenager Gavin Arvizo in einer TV-Dokumentation an, dank Michael Jacksons Hilfe seine Krebserkrankung besiegt zu haben. Während des Interviews nahm er die Hand des Sängers und lehnte sich an dessen Schulter. Jackson erzählte, dass er sein Bett gerne mit Kindern teile. Der Bezirksstaatsanwalt von Santa Barbara nahm den Film zum Anlass, einen Strafantrag gegen Jackson zu stellen. Gegenüber der kalifornischen Kinderfürsorge stritt die Familie Arvizo zunächst jede Form von Missbrauch ab. Monate später änderten die Arvizos jedoch ihre Geschichte und behaupteten, Michael Jackson habe sie auf der Neverland Ranch gefangen gehalten. Dabei sei Gavin mehrfach sexuell missbraucht worden. Während des Gerichtsverfahrens verstrickte sich die Klägerfamilie in Widersprüche und gab zu, in einem früheren Verfahren um sexuelle Belästigung unter Eid gelogen zu haben. Im Juni 2005 wurde Jackson in allen Anklagepunkten freigesprochen. Er starb 2009 als freier Mann.

Im eingangs erwähnten Dokumentarfilm „Leaving Neverland“ kommen nun zwei weitere mutmaßliche Opfer Michael Jacksons, Wade Robson und James Safechuck, zu Wort. An der Glaubwürdigkeit der beiden Männer kratzt die Tatsache, dass sie im Missbrauchsprozess von 2004/2005 zugunsten Jacksons ausgesagt hatten. Robson versicherte sogar unter Eid, der Popstar habe ihn niemals angerührt. Noch 2009 sagte Robson, mittlerweile ein erfolgreicher Choreograph, über Jackson: „Seine Musik, seine Bewegung, seine inspirierenden, ermutigenden Worte, seine bedingungslose Liebe werden für immer in mir leben. Er wird mir unermesslich fehlen.“ Auf die Idee, aus dem Nachlass von Jackson Entschädigungen zu fordern, kamen die beiden Männer erst 2013. Ihre Klagen wurden aufgrund von Verjährungsfristen abgewiesen.

Die Beweislage gegen Michael Jackson ist also recht dünn. Dass „Leaving Neverland“ trotzdem einen solchen Zirkus ausgelöst hat, hat wohl nicht nur mit dem allgemeinen menschlichen Interesse an den (Un)Taten der Reichen und Berühmten zu tun. In den letzten Jahren haben die Themen sexueller Missbrauch und sexuelle Belästigung erheblich an Bedeutung gewonnen. In Kreisen, die noch vor wenigen Jahren Ronny aus der Plattenbausiedlung für sein „Todesstrafe für Kinderschänder“-T-Shirt verachtet hätten, gilt es heute als irgendwie „progressiv“, den Behauptungen angeblicher Opfer grundsätzlich Glauben zu schenken.

Den Höhepunkt dieses Denkens bildete die sogenannte #MeToo-Kampagne, die auch Robson und Safechuck inspiriert haben soll, mit ihren Anschuldigungen gegen Michael Jackson an die Öffentlichkeit zu gehen. Der Hashtag wurde durch die Schauspielerin Alyssa Milano populär, die im Oktober 2017 Frauen dazu aufrief, ihn zu verwenden, um auf das vermeintlich horrende Ausmaß sexueller Belästigung und sexueller Übergriffe aufmerksam zu machen. In den folgenden Monaten entwickelte sich die Hashtag-Bewegung zu einer bis heute andauernden Hexenjagd, bei der immer mehr Männer sexuellen Fehlverhaltens bezichtigt und medial hingerichtet wurden, manchmal ohne genau zu wissen, was ihnen eigentlich vorgeworfen wurde. Mindestens vier Selbstmorde sind zumindest teilweise auf die durch #MeToo entfachte Hysterie zurückzuführen. „Believe all women“ – glaube allen Frauen – lautet ein Slogan der Aktivisten. Glaube allen Frauen – und zum Teufel mit Rechtsstaat und Unschuldsvermutung?

Vormodernes, magisches Denken

Doch auch wenn Jackson all die schrecklichen Dinge getan hätte, die ihm vorgeworfen werden. Welchen Sinn soll es haben, seine Lieder nicht mehr im Radio zu spielen? Oder die Musik von R. Kelly, dem ebenfalls der Missbrauch Minderjähriger vorgeworfen, aber nicht nachgewiesen wurde, von Streaming-Plattformen wie Spotify oder Apple Music zu entfernen? Oder Kevin Spacey, dem ein Schauspieler-Kollege vorwirft, ihn als Minderjährigen sexuell belästigt zu haben, nachträglich aus dem Film „Alles Geld der Welt“ herauszuschneiden? Ein Song kann nicht pädophil sein, ein Spielfilm kann niemanden sexuell belästigen – das ist vormodernes, magisches Denken.

Tatsächlich scheint es bei dieser zeitgenössischen Form der Bücherverbrennung wohl vor allem um eine Art rituelle Abgrenzung vom „absoluten Bösen“ zu gehen. Der Begriff geht auf Chantal Delsol zurück, die ihn ursprünglich auf Geschehnisse anwandte, die gemeinhin als moralisch verurteilenswert gelten, etwa die südafrikanische Apartheid oder der Holocaust. Bereits 1996 konstatierte die französische Kulturkritikerin in ihrem Buch „Icarus Fallen“, dass die Postmoderne uns nicht zu moralischen Relativisten gemacht hat. Der Wegfall des traditionellen (christlichen) Sinn- und Wertesystems habe im Gegenteil eine Gesellschaft geifernder Moralisten hervorgebracht, die in ständigen Empörungsritualen ihr „korrektes Denken“ zur Schau stellen.

Auch der britische Soziologe Frank Furedi hat sich mit der gegenwärtigen moralischen Orientierungslosigkeit beschäftigt. Furedi zufolge sind Pädophilie und Kindesmissbrauch sogar die einzigen Themen, bei denen es in unserer postreligiösen, postideologischen Gesellschaft einen moralischen Konsens gibt, weshalb sie in der medialen Debatte unverhältnismäßig viel Raum einnehmen.

Ein weiterer Aspekt, der in der Missbrauchsdebatte eine wichtige Rolle spielt, ist der Wandel unseres Menschenbildes. Lange war im Westen ein robuster Individualismus wichtig, der Dickhäutigkeit und Selbstkontrolle würdigte. Auch extrem negative Erfahrungen galten als prinzipiell überwindbar, vielleicht sogar als etwas, aus dem man gestärkt hervorgehen kann. Dieses Modell hat ausgedient. Menschen gelten heute grundsätzlich als fragil und leicht traumatisierbar. Begriffe wie „Selbstwertgefühl“ oder „Burn-out“ zeichnen ein Bild der Verletzlichkeit; Ausdrücke wie „fürs Leben gezeichnet“ oder „emotionale Schäden“ beschwören die Hilflosigkeit des Individuums. Das neue Denken zeigt sich nicht zuletzt auch in der aus dem angloamerikanischen Raum einsickernden Marotte, Missbrauchsopfer als Missbrauchsüberlebende zu bezeichnen, so als würden Missbrauchsopfer grundsätzlich dazu tendieren, sich umzubringen.

Was können wir also aus dem aktuellen Rummel um Leaving Neverlandlernen? Der Film und ähnliche aktuelle Werke wie „Surviving R. Kelly“ und „Untouchable“ (über das sexuelle Fehlverhalten des Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein) zeugen von einer gesellschaftlichen Fixierung auf Trauma und Opfererfahrungen. Hinzu kommt moralische Orientierungslosigkeit, die Suche nach einem gemeinsamen normativen Rahmen. Vor diesem Hintergrund muss jemand wie Michael Jackson mehr sein als ein psychisch kranker Mann, der sich möglicherweise an Kindern vergangen hat. Wir brauchen eine Personifizierung des Bösen, einen Teufel, der gemeinschaftlich ausgetrieben werden kann. Noch machen nicht alle bei diesem modernen Exorzismus mit. Für jeden Radiosender, der Jacksons Songs aus dem Programm nimmt, gibt es einen, der weiter „Smooth Criminal“ spielen wird. Für jeden Medienbericht, der jegliche kritische Distanz vermissen lässt, gibt es einen sachlichen. Noch.

Dieser Beitrag erscheint auch in Novo.

Foto: Zoran Veselinovic flickr CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons

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Niko Maris / 23.03.2019

Vielen Dank für den besonnenen Kommentar, speziell bei Michael Jackson muss hervorgehoben werden dass ihn das FBI seit den 90ern durchgehend beobachtete, alles wurde auf den Kopf gestellt und NICHTS belastendes gefunden. Es ist befremdlich mit welcher Gier M. Jackson zerstört werden soll, auch nach seinen Tod. Wer oder was steht dahinter? “The Ghost of Jealousy”?

S. Meyer / 23.03.2019

M. E. soll das von den wirklichen Pädophilenringen ablenken, genau wie die plötzlichen uralten Aufdeckungen in der katholischen Kirche. Warum gibt es keine große mediale Aufklärung zu Pizzagate und Rotterham? Oder zu den über 25 ermordeten Zeugen im Fall Dutroux? Gibt es wirklich keine pädophilen Imame oder Politiker? Während die Hintergrundeliten schlimmste Verbrechen begehen, jagt die Presse die ungefährlichen Toten…

Frank Stricker / 23.03.2019

Nach den vielfältigen Ergüssen über Chanel und Karl Lagerfeld , wird nun Michael Jackson hier auf der Achse thematisiert. Gibt es nächste Woche vielleicht einen Einblick in die heimlichen Tagebücher von Sarah Lombardi oder Frauke Ludowig ? Für solche Banalitäten gibt es “Bunte” , “Closer”  oder “neue Post”.  Stattdessen hätte ich mir hier einen Artikel über den sich zuspitzenden Machtkampf in der SPD gewünscht . Der “Schulz-Zug” rollt wieder frontal auf “Parlamentskreis Pferd”  Nahles zu. Wäre schön hier was dazu von den entsprechenden Experten zu hören……..

Johannes Schuster / 23.03.2019

Das Narrativ hat den Vorzug, daß es ohne juristische Kenntnisse auskommt und ohne einen rechtsstaatlichen Rahmen: Die Verurteilung im Unterhaltungsformat. Und wenn es über Tote hergeht ist der Prozess ohne Einspruch für alle Couleur leicht gezogen. Wenn ein Herr Goebbels Inhalte ohne juristischen Wert transportierte, wurde es Geschichte, heute ist ein ähnliches Prinzip Mode und füllt die Kassen. Wer nur korrekt ist braucht kein Recht, er hat sich bereits ein jedes angemaßt.

Karl Halbritter / 23.03.2019

Weiter gedacht, aber das können die Initiatoren von solchen Dingen wie #meetoo nicht, könnte das noch ganz andere Auswirkungen haben. Nicht nur, dass nun keine Songs mehr gespielt werden, die von Jackson sind. Einen Schritt weiter könnte es sogar passieren, dass keine Dokus mehr gesendet werden dürfen, über Menschen, die Schlimmes gemacht haben! Auch Berichte über solche dürfen dann nicht mehr gebracht werden. Man stelle sich das vor. Der Focus, der Spiegel, N-TV, der Sender von WELT könnten plötzlich keine Sendungen mehr mit dem Österreicher mit dem kleinen Bärtchen unter der Nase bringen?! Eine ganze Industrie wird eingestellt werden müssen!

Andrea Nöth / 23.03.2019

Es handelt sich nicht lediglich um eine “Marotte”, Missbrauchsopfer als Missbrauchsüberlebende zu bezeichnen. Sie tendieren tatsächlich dazu, sich umzubringen. Auf die eine oder andere Weise. Selbstverletzendes Verhalten kann auch durch exzessives Saufen, Rauchen, Fallschirmspringen, Überarbeitung, Sport, etc. zum Tod führen. Magersucht oder mit dem Messer die Arme aufschneiden, ist auch eine “Spielart”, die es zu ‘überleben’ gilt. Das muss nicht immer der ‘publikumswirksame’ Tod durch Erhängen sein. Manche Opfer erkennen erst nach vielen Jahren und dem ersten Selbstmordversuch was mit ihnen los ist oder ihnen passiert ist. Die Psychiatrie hat diesen Zusammenhang erkannt.

Gilbert Brands / 23.03.2019

Woran merkt eine #MeToo-lerin, dass sie sexuell belästig wird? Sie kann den Mann sehen!

J. Polczer / 23.03.2019

“Das neue Denken zeigt sich nicht zuletzt auch in der aus dem angloamerikanischen Raum einsickernden Marotte, Missbrauchsopfer als Missbrauchsüberlebende zu bezeichnen, so als würden Missbrauchsopfer grundsätzlich dazu tendieren, sich umzubringen.” Nun sie tendieren nicht immer unbedingt dazu sich umzubringen, aber sie machen es sich und anderen Menschen, namentlich ihren Kindern und Ehepartnern, manchmal sehr schwer. Das Zusammenleben mit diesen Menschen kann eine sehr starke Belastungsprobe werden und tiefe Risse innerhalb der Familie können auftreten. Es mag zwar sein, dass heutzutage ein zu starke Betonung auf den reinen Opferstatus gelegt wird, aber leider verschwinden diese dummen Erfahrungen nicht einfach, sondern prägen einen Menschen. Über “mee too” werde ich mich nicht großartig äußern: Nur so viel dazu : Es gibt sexuellen Missbrauch immer noch in unserem schönen Lande, ob die ewigen Verweigerer es nun wollen oder nicht. Sexuelle Nötigung ist leider auch nicht ein reines Kavaliersdelikt und in manchen Fällen heißt “Nein”, immer noch “Nein”.

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