Friedrich Merz möchte den Medien gefallen und wäre gern auch bei den Bürgern populär, doch beides geht nicht. Jetzt sorgt der Meister des Zurückruderns allerdings für eine spannende Bundestagsdebatte mit offenem Ausgang.
Der Mordanschlag eines afghanischen Asylbewerbers in Aschaffenburg war eine Zäsur. Wenn inzwischen auch in einer Provinzstadt mitten am Tage für eine Kindergartengruppe der Spaziergang im Stadtpark lebensgefährlich ist, wie will man dann noch den Kollateralschäden der ungesteuerten, aber steuergeldfinanzierten Massenzuwanderung ausweichen?
All das sollte nach dem Willen der alten und der neuen Regierungsparteien im Wahlkampf möglichst keine Rolle spielen, weil davon – so hieß es – nur die AfD profitieren könne. Doch der abgelehnte und ausreisepflichtige afghanische Asylbewerber Enamullah Omarzai machte das mit seiner Mordtat in Aschaffenburg unmöglich. Nun ist das Thema in aller Munde.
Die CDU hatte das heikle Themenfeld von Asyl bis Zuwanderung in den letzten Jahren weitgehend gemieden. Zu sehr ist die Massenmigration mit der mächtigen CDU-Langzeitkanzlerin Angela Merkel verbunden. Friedrich Merz wusste zwar, als er Parteivorsitzender wurde, dass viele bürgerliche und konservative Wähler von ihm eine Abkehr vom Kurs der Merkel-Jahre erwarteten, doch er scheut den Bruch mit den Merkelianern in der eigenen Partei, vor denen er immer wieder einknickt. Eigentlich ist es nichts Neues, dass der CDU-Vorsitzende mit klaren Worten kurz etwas Populäres fordert, um nach schlechter Presse und Unmut bei Rotgrün sofort wieder zurück zu rudern.
Auf den ersten Blick folgen auch die Auftritte des CDU-Kanzlerkandidaten nach dem Aschaffenburg-Anschlag diesem Muster. Allerdings übertrifft sich Friedrich Merz in der Schnelligkeit des Wechsels zwischen Vorstoß und Zurückrudern inzwischen selbst so sehr, dass vielleicht etwas Unerwartetes herauskommt. Wie das so ist, wenn man zwei Dinge, die sich widersprechen, zugleich tun will. Er will zeigen, dass er im Sinne der Mehrheit der Bürger ein Umsteuern in der Migrationspolitik einläutet, aber andererseits möchte er auch der Wächter an der Brandmauer zur AfD bleiben, so wie es die meisten ihn interessierenden Medienschaffenden fordern.
Die fünf Punkte des Kandidaten
Nach dem Anschlag in Aschaffenburg hatte er zunächst klare Forderungen aufgestellt und versprochen, was er alles als Kanzler tun werde. Sofort würde er alle deutschen Grenzen kontrollieren und jeden abweisen, der ohne Papiere kommt bzw. seinen Asylantrag beim EU-Nachbarn hätte stellen müssen. Das gab viel Kritik von Grünen und SPD sowie Zustimmung von der hinter die Brandmauer verbannten AfD. Merz wurde auch medial schon ein wenig in die rechte Ecke gestellt. Aber da die Mehrheit der Bevölkerung eine Wende in der Asylpolitik fordert und solche Forderungen lange Zeit nur aus der rechten Ecke kamen, konnte ihm das im Wahlkampf eigentlich nur nützlich sein.
Und dann kündigte er an, Eckpunkte seiner Asylpolitik noch vor der Wahl im Bundestag zur Abstimmung zu stellen. Wie eine Mehrheit dafür zustandekomme, wäre ihm egal, ließ er verlauten. Da folgte erst recht ein Sturm der Empörung, ganz so, als wäre die Brandmauer zur AfD damit schon gefallen. In normaleren Zeiten hätten die hysterischen Reaktionen von SPD und Grünen Kopfschütteln ausgelöst. Der Vorwurf, dass es die Demokratie gefährde, wenn eine Fraktion im frei gewählten Parlament einen Antrag stellt und alle Abgeordneten stimmen darüber ab, ohne dass man vorher schon das Ergebnis kennt, ist eigentlich ziemlich absurd. Aber da die Medien diese Hysterie aufnahmen und Friedrich Merz – wie seine große Vorgängerin Angela Merkel – den Medien gefallen will, ruderte er zurück.
Allerdings ruderte er nicht ganz zurück, sondern nur ein bisschen. Keinen entsprechenden Antrag zu stellen, kam für ihn nicht infrage, weil er auch bei den Bürgern gern populär wäre, und unter denen stimme die Mehrheit seinem Vorstoß zu, sagten Umfragen. Sogar die Mehrheit der SPD-Anhänger würde demnach seinen fünf Punkten zustimmen. Also formulierte seine Fraktion, dass der Bundestag folgendes beschließen möge:
„1. Dauerhafte Grenzkontrollen: Die deutschen Staatsgrenzen zu allen Nachbarstaaten müssen dauerhaft kontrolliert werden.
2. Zurückweisung ausnahmslos aller Versuche illegaler Einreise: Es gilt ein faktisches Einreiseverbot für Personen, die keine gültigen Einreisedokumente besitzen und die nicht unter die europäische Freizügigkeit fallen. Diese werden konsequent an der Grenze zurückgewiesen. Dies gilt unabhängig davon, ob sie ein Schutzgesuch äußern oder nicht. In unseren europäischen Nachbarstaaten sind sie bereits sicher vor Verfolgung, einer Einreise nach Deutschland bedarf es somit nicht.
3. Personen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, dürfen nicht mehr auf freiem Fuß sein. Sie müssen unmittelbar in Haft genommen werden. Die Anzahl an entsprechenden Haftplätzen in den Ländern muss dafür signifikant erhöht werden. Der Bund wird die Länder dabei unterstützen und schnellstmöglich alle verfügbaren Liegenschaften, darunter leerstehende Kasernen und Containerbauten, zur Verfügung stellen. Die Zahl der Abschiebungen muss deutlich erhöht werden. Abschiebungen müssen täglich stattfinden. Abschiebungen auch nach Afghanistan und Syrien werden regelmäßig durchgeführt.
4. Mehr Unterstützung für die Länder beim Vollzug der Ausreisepflicht: Der Bund soll die Länder auch weiterhin beim Vollzug der Ausreisepflicht – etwa durch Beschaffung von Reisepapieren und der Umsetzung von Rückführungen – unterstützen. Diese Unterstützung muss weiter ausgebaut werden. Überdies werden Bundesausreisezentren geschaffen, um Rückführungen zu erleichtern. Die Bundespolizei muss die Befugnis erhalten, bei im eigenen Zuständigkeitsbereich aufgegriffenen, ausreisepflichtigen Personen auch selbst und unmittelbar Haftbefehle für Abschiebehaft oder Ausreisegewahrsam beantragen zu können.
5. Verschärfung des Aufenthaltsrechts für Straftäter und Gefährder: Ausreisepflichtige Straftäter und Gefährder sollen in einem zeitlich unbefristeten Ausreisearrest bleiben, bis sie freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren oder die Abschiebung vollzogen werden kann. Aus diesem Arrest ist die freiwillige Ausreise ins Herkunftsland jederzeit möglich. Nicht mehr möglich darf hingegen eine Rückkehr nach Deutschland sein.“
Zu große Dosis Demokratie?
Allerdings beklagten all die Medienschaffenden, die der Kollege Claudio Casula so treffend als das Kommentariat bezeichnet, dass Friedrich Merz doch versprochen hatte, nichts anzustoßen, was im Bundestag nur mit der AfD eine Mehrheit bekäme. Die Stimmen der in freier Wahl gewählten AfD-Abgeordneten dürfen ja nach der Überzeugung selbsternannter Musterdemokraten bei keiner demokratischen Mehrheitsbildung entscheidend sein. Das wollte der CDU-Kanzlerkandidat berücksichtigen, auch wenn das die Notwendigkeit vorheriger, vielleicht nicht so ganz musterdemokratischer Absprachen voraussetzt. Auch dass der Bundestag auf diese Weise de facto nichts ohne die Zustimmung von SPD und/oder Grünen hätte beschließen können, schien für Merz unproblematisch zu sein. Keine „Zufallsmehrheiten“ solle es geben, sondern stattdessen Abstimmungen nach Drehbuch. Einen CDU-Gesetzesantrag zur Zuwanderungsbegrenzung ließ er stoppen, weil der ohne Rotgrün und vielleicht mit FDP und AfD eine Mehrheit hätte bekommen können.
Ob es im konkreten Fall eine solche Mehrheit gibt, hängt auch von der Zahl der anwesenden Abgeordneten ab. Die Wähler hatten zur letzten Bundestagswahl für eine sehr knappe Mitterechts-Mehrheit gestimmt. Wenn alle 733 Abgeordneten anwesend sind, dann werden 367 Stimmen für einen Mehrheitsbeschluss gebraucht. Zählt man die Stimmen der CDU-, AfD-, FDP- und der sieben über die AfD-Liste gewählten, aber mittlerweile aus der AfD-Fraktion ausgeschiedenen Abgeordneten zusammen, kommt man auf 369. Das ist ziemlich knapp. Da kann man auch an einzelnen Abweichlern scheitern. Dennoch will Merz nach der Medien-Kritik, er schleife die Brandmauer, nicht um die AfD-Stimmen werben.
Stattdessen versicherte der CDU-Chef treuherzig, dass er an der Aus- und Abgrenzung dieser Abgeordneten festhalten wolle. Es werde auch weiterhin keine Zusammenarbeit mit der AfD geben, aber wenn deren Mandatsträger dem eigenen Antrag zustimmen, wäre das noch keine Zusammenarbeit. Aber schon der Verzicht auf Vorabsprachen und eine Abstimmung ohne Drehbuch sind für manche der rotgrünen Staatsschauspieler eine zu große Dosis Demokratie.
Da wollte Merz sie auch nicht überfordern und seine anhaltende AfD-Abneigung noch einmal unterstreichen. Zu diesem Zwecke, ließ er in den Antrag noch ein paar Gemeinheiten für die AfD hineinschreiben, die es ihr normalerweise unmöglich machen müsste, für diesen Antrag zu stimmen.
Denn sie würde auch folgendem Absatz akzeptieren:
„Wer die illegale Migration bekämpft, entzieht auch Populisten ihre politische Arbeitsgrundlage. Die AfD nutzt Probleme, Sorgen und Ängste, die durch die massenhafte illegale Migration entstanden sind, um Fremdenfeindlichkeit zu schüren und Verschwörungstheorien in Umlauf zu bringen. Sie will, dass Deutschland aus EU und Euro austritt und sich stattdessen Putins Eurasischer Wirtschaftsunion zuwendet. All das gefährdet Deutschlands Stabilität, Sicherheit und Wohlstand. Deshalb ist diese Partei kein Partner, sondern unser politischer Gegner.“
Vom Zurückrudern zurückrudern?
Wenn die AfD diesem Antrag dennoch zustimmen würde, könnte ihnen jeder Konkurrent und Medienschaffende vorhalten, sie hätte sich selbst zum politischen Gegner erklärt.
Wenn Merz nun aber die AfD vergrämt, welches Signal sendet er dann eigentlich als Wahlkämpfer? SPD und Grüne werden seinem Fünf-Punkte-Plan trotz AfD-Bashing kaum zustimmen. Er stünde vielleicht am Ende allein mit der FDP als Verlierer und Zurückruderer zugleich da. Sollte er vorher lieber vom Zurückrudern zurückrudern? Oder rettet ihn doch die AfD und vielleicht auch das Wagenknecht-Bündnis?
Stand Dienstagnachmittag sah es so aus, als würden die AfD-Abgeordneten die CDU-Kröten schlucken, auf dass vielleicht ein Mitterechts-Mehrheitsbeschluss die Brandmauer erschüttere, aber kann man sich darauf verlassen? Muss er vielleicht sogar Abweichler in der eigenen Fraktion mehr fürchten?
Ein wenig verwirrend ist es, dass – Stand Dienstagabend – die Abstimmung dieses Antrags nicht auf der Tagesordnung für die Plenarsitzungen dieser Woche zu finden ist. Muss die noch aktualisiert werden? Wurde die Debatte über den Antrag verschoben? Oder zurückgezogen?
Auf der Tagesordnung steht hingegen ein anderer CDU-Antrag zur Abstimmung, der mit Mitterechts-Mehrheit beschlossen werden könnte, nämlich jener Entwurf eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes, den die CDU wegen der Brandmauer im parlamentarischen Verfahren angehalten hatte. Der hat die erste Lesung und die Behandlung im Innenausschuss schon hinter sich und kann tatsächlich noch schnell in der Restlaufzeit des aufgelösten Bundestages im Plenum abgestimmt werden. Das könnte dann das erste Bundesgesetz werden, das mit einer Mehrheit unter Einschluss der AfD verabschiedet wird.
Aber bis zur Abstimmung ist ein Merzsches Zurückrudern noch jederzeit möglich. Vielleicht aber auch ein weiterer Schritt zu mehr Entschlossenheit? Das kommt auch auf die Medien an, auf deren Signale Merz reagiert, aber merkwürdigerweise kein eigenes setzt, obwohl es sich anbietet. In Aschaffenburg sahen sich alle Medien gezwungen, wieder einmal ein deutliches Schlaglicht auf die blutige Schattenseite der verfehlten deutschen Zuwanderungspolitik zu werfen. Der CDU-Kanzlerkandidat hat darauf reagiert und immerhin zunächst etwas mehr Vorstoß gewagt, als er hernach zurückgerudert ist. Vielleicht, weil er gemerkt hat, dass die Vorstöße – egal was die Medien senden oder schreiben – in der Bevölkerung populärer sind.
Staatstheater-Aufführung mit Unterhaltungswert
Vielleicht kann Merz, um die Notwendigkeit eines Umsteuerns bei den Asylregeln zu betonen, auch noch auf einen anderen Fall verweisen. Mitten in der politischen Debatte über die Notwendigkeit einer Asylwende wurde am Montag gemeldet, dass im brandenburgischen Beelitz mit Christoph Rosenschon ein junges engagiertes CDU-Mitglied von einem geduldeten Asylbewerber aus Guinea getötet wurde. Nach allem, was über Rosenschon derzeit berichtet wird, gehörte der 26-Jährige zu den Parteimitgliedern, die sich nicht zu schade sind, im Wahlkampf Plakate aufzuhängen und all die anderen praktischen Notwendigkeiten anzugehen, die allgemein kaum Beachtung finden. Hat der Große Vorsitzende der CDU zu diesem Tötungsdelikt auch schon seine Anteilnahme und Betroffenheit erklärt oder wartet er noch auf größere Medienpräsenz?
Immerhin stehen in dieser Sitzungswoche im Deutschen Bundestag zwei Abstimmungen an, deren Ausgang nicht von vornherein feststeht. Das allein ist schon ein seltener Moment. Doch außerdem geht es trotz des ewigen Vor- und Zurückruderns des CDU-Kanzlerkandidaten auch um eine Bresche in der Brandmauer. Und darum, ob es nur ein folgenloses Zusammenstimmen von CDU, AfD und FDP gibt oder ob am Ende auch ein Gesetz steht. Eines traut man selbst dem Zurückruderer Merz nicht zu: dass er alle Anträge zurückzieht und es zu keiner Abstimmung kommt. Andererseits: Wie viele Dinge sind in den letzten Jahren geschehen, die man kurz zuvor noch für undenkbar hielt?
Also, warten wir ab, welche Staatstheateraufführung uns im Reichstag in den nächsten drei Tagen geboten wird. Immerhin geht es in dieser Parlamentswoche auch um den Antrag zum AfD-Verbot, es gibt eine Regierungserklärung des Bundeskanzlers, der Wirtschaftskrisenminister gibt eine Regierungserklärung zum Jahreswirtschaftsbericht ab und über all das wird auch debattiert.
Es wird also viel zu kommentieren geben, und vielleicht kümmern sich die Damen und Herren Abgeordneten auch um einen hinreichenden realsatirischen Unterhaltungswert.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.