Eigentlich sollte der CDU-Parteitag das Bild einer entschlossenen Union hinter ihrem Kanzlerkandidaten bieten. Das Problem: Trotz populärer Programmpunkte in klarer Sprache verspricht die CDU-Führung ganz konkret nur, wie sie sie nicht durchsetzen will.
Der CDU-Sonderparteitag war als eine Art Krönungsmesse für Friedrich Merz inszeniert worden. Statt des ewigen Zurückruderers wurde Friedrich Merz als der Mann für große Erwartungen, als Hoffnungsträger für die Politikwende inszeniert. Ein Kanzlerkandidat, der nun plötzlich mutig all die populären Forderungen erhebt, wegen derer in den letzten Wahlen zunehmend diese Populisten gewählt wurden. Jetzt sollen deren Wähler ihre Stimme wieder der CDU geben, weil die verspricht, nun endlich mal wirklich den Wählerwillen umzusetzen.
Das schien der Kerninhalt zu sein, der mit dem Sonderparteitag in die Öffentlichkeit kommuniziert werden sollte. Jetzt will die Merkel-CDU endlich keine Merkel-CDU mehr sein, sondern nur noch eine Merz-CDU. Selbst die Merkelianer, die weiterhin entscheidende Posten in der Partei besetzen, applaudierten Merz, der - so die Inszenierung - seine Inhalte klar trotz Gegenwind vertreten würde.
Es gab zur Krönungsmesse keine öffentlichen innerparteilichen Vorwürfe gegen Friedrich Merz mehr, weil dieser eigene Anträge nicht von der Tagesordnung nahm, obwohl die gegen rot-grün nur mit Stimmen von AfD-Bundestagsabgeordneten eine Chance hatten, angenommen zu werden. Merz gab öffentlich den inhaltlich Standhaften, der sich aber dennoch von der AfD abgrenzt.
Der Sonderparteitag schuf einen schönen Rahmen für die neue Merz Darstellung. Auch die Demonstrationen gegen den CDU-Vorsitzenden wegen wiederholter Brandmauerbeschädigung gehörten irgendwie dazu. Dass dies von den Demonstrationsorganisatoren so geplant wurde, will ich damit keinesfalls behaupten, aber in der CDU-Inszenierung stellten diese Demonstrationen wunderbar den Gegenwind dar, gegen den der Kanzlerkandidat sich scheinbar standhaft zeigen konnte. Und das verschaffte Merz nicht nur die Gelegenheit, das Image des Zurückruderers vergessen zu machen, sondern durch diese medienpräsenten Protest-Bilder ließ sich auch leicht übersehen, dass Merz vielleicht doch keine so neue Rolle spielt. Die einen überhörten gern Merzens erneuerte Brandmauerbekenntnisse im Lärm der Straße, die anderen ignorieren sie, weil sie mehr Unterwerfung, also mehr Zurückrudern wünschen, doch den Merkelianern reichte es wohl zur Beruhigung. Das klingt doch für den cleveren Kanzlerkandidaten fast wie eine Win-win-win-Situation, oder?
15 Punkte in merkwürdiger Reihenfolge
Neben dem Krönungsmessen-Theater hatte Merz auch Klarheit versprochen. 15 Punkte sollten auf dem Parteitag noch einmal herausgestellt werden. 15 Punkte, die einen klaren Politikwechsel verkörpern sollen und an deren Umsetzung sich die Regierung Merz umgehend machen würde, hieß es. Das klang in manchem Auftritt vor dem Parteitag beinahe so, als hätte sich Friedrich Merz in die Rolle eines Donald Trump geträumt, der ja bekanntlich gleich nach seinem Amtseid am laufenden Band hochbrisante Dekrete unterschrieben hat.
Bei einigen der 15 Punkte kann man wirklich von einem Politikwechsel sprechen, auch wenn die Reihenfolge etwas merkwürdig anmutet. Ist es nun Zufall und der Eile geschuldet oder soll damit etwas ausgesagt werden? Gerade die in der letzten Woche so stark debattierte Migrationspolitik wurde erstaunlicherweise auf die hinteren Plätze verbannt:
„12. Wir stoppen die illegale Migration und setzen den Fünf-Punkte-Plan von Friedrich Merz um, zum Beispiel mit dauerhaften Grenzkontrollen, Zurückweisungen an den Grenzen und einem zeitlich unbefristeten Ausreisearrest für ausreisepflichtige Straftäter und Gefährder.
13. Wir stehen ein für das Zustrombegrenzungsgesetz: „Begrenzung“ als klares Gesetzesziel, kein Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte und mehr Befugnisse für die Bundespolizei.
14. Wir machen die Express-Einbürgerung der Ampel rückgängig. Der deutsche Pass steht am Ende der Integration und nicht am Anfang.“
Dahinter kommt nur noch:
„15. Wir schaffen das Cannabis-Gesetz der Ampel ab. Unsere Kinder und Jugendlichen müssen vor Drogenkonsum und Sucht geschützt werden.“
Aber davor rangieren zwei Punkte, die wohl kaum wichtiger sind, als die Zuwanderung:
„10. Mit uns kommt die Speicherung von IP-Adressen. Damit bekämpfen wir wirksam sexuellen Missbrauch von Kindern.
11. Wir setzen auf die elektronische Fußfessel. Gewalttäter gegen Frauen müssen gestoppt werden.“
Wartet Deutschland wirklich auf die elektronische Fußfessel? Ist das die wichtigste Maßnahme, um Gewalttäter gegen Frauen zu stoppen?
Und die Speicherung von IP-Adressen kann auch zur Verfolgung deutlich weniger hehrer Ziele missbraucht werden, als die Bekämpfung sexuellen Missbrauchs von Kindern. Aber vielleicht war auf dem Flyer für die 15 Punkte auch nur nicht genug Platz, um all die geplanten feinen Schutzmechanismen zu erläutern.
Keine To-Do-Liste von Dünnbrettbohrern
Ist das angesichts des großen Krönungsparteitags aber nicht vielleicht etwas kleinkrämerisch, an der Reihenfolge herumzudeuteln? Vielleicht. Wenn allerdings irgendwann die Floskel zum Einsatz kommt, dass „wir“ diesen Katalog Punkt für Punkt abarbeiten, dann kann es unter Umständen eine Weile dauern, bis „wir“ bei Punkt zwölf angekommen sind. Denn da wären zuvor auch noch die Punke eins bis neun zu erledigen:
„1. Wir senken die Stromsteuer und die Netzentgelte – für eine Entlastung von mindestens 5 Cent pro kWh. Der Strom muss für alle günstiger werden.
2. Wir starten den Bürokratie-Rückbau: weniger Betriebsbeauftragte, keine Bonpflicht mehr, weg mit der deutschen Lieferkettenregulierung und den Belastungen des Energieeffizienzgesetzes.
3. Wir legen anstelle der täglichen eine wöchentliche Höchstarbeitszeit fest. So ermöglichen wir flexibleres Arbeiten für Beschäftigte und Unternehmen.
4. Wir stellen Überstundenzuschläge steuerfrei. Wer freiwillig mehr arbeiten will, soll mehr Netto vom Brutto haben.
5. Wir führen eine Aktivrente ein. Wer in der Rente freiwillig weiterarbeitet, bekommt sein Gehalt bis zu 2.000 Euro im Monat steuerfrei.
6. Wir reduzieren die Umsatzsteuer auf Speisen in Restaurants und Gaststätten auf sieben Prozent. So entlasten wir die Gastronomie und die Verbraucher.
7. Wir führen die Agrardieselrückvergütung wieder vollständig ein. Denn unsere Landwirte brauchen Entlastung.
8. Wir schaffen das Heizungsgesetz der Ampel ab. Mit dem bürokratischen Reinregieren in den Heizungskeller muss Schluss sein.
9. Wir fangen bei uns selbst an: Wir halbieren die Zahl der Regierungsbeauftragten – für einen schlankeren und effizienteren Staat. Sicherheit für die Menschen in Deutschland“
Unabhängig von der Reihenfolge und dem einen oder anderen vielleicht nicht ganz so drängenden Punkt liest sich das in der Tat nicht wie eine To-Do-Liste von Dünnbrettbohrern. Soll der Wahlbürger wirklich hoffen dürfen, dass es er Merz vielleicht schon im März entschlossen anpackt? Entschuldigen Sie bitte dieses simple Wortspiel, aber so etwas drängt sich einfach zuweilen auf, da ist man als Autor völlig hilflos.
Friedrich der Politikwechsler
Zurück zu Merz im März. Dann ist das Wählervotum schon ein paar Tage bekannt und womöglich weiß man sogar bereits, in wie vielen Berliner Wahllokalen die Bundestagswahl diesmal wiederholt werden muss. Es stellt sich also die Frage, wie Merz dann seine versprochene 15-Punkte-und-noch-viel-mehr-Politik umsetzen will. Viele fragten sich, ob er dazu auf seiner Krönungsmesse etwas sagen würde. Vor Beginn hatte er auf jeden Fall eine Koalition mit der AfD ausgeschlossen. Nicht ganz so rigoros, aber vernehmbar war ein Unwillen, mit den Grünen zusammen zu gehen. Und SPD-Kanzler Scholz hatte ja seinerseits erklärt, dem Merz nie wieder trauen zu können. Aber gut, das kann er bis zum März auch wieder vergessen haben. Vielleicht auch seine Aussage, er würde unter Friedrich Merz nicht Minister werden wollen.
Doch zurück zu dem Mann in der CDU-Hoffnungsträger-Rolle. Manche Spekulations-Experten aus der Medienwirtschaft dachten ja auch noch über eine CDU-Minderheitsregierung nach, die sich Abstimmungsmehrheiten je nach Sachthemen auf der linken oder auf der rechten Seite des Parlaments sucht. Viele warteten gestern auf Signale von Friedrich, dem Politikwechsler, wie er schaffen will, was er verspricht.
Wer mit diesen Erwartungen die Krönungsmesse anschaute, musste allerdings Geduld aufbringen. Es daurte Stunden, bis dessen eigentliche Rede losging. Friedrich Merz kam schon zur formellen Parteitagseröffnung wegen des großen Jubels der Delegierten minutenlang nicht zu Wort. Das Konzept Krönungsmesse schien aufzugehen.
Alle weiteren Reden priesen den klaren und mutigen Politik-Wechsel-Kurs von Friedrich Merz in unterschiedlichen Nuancen. Auch die Bedeutung der Abgrenzung zur AfD, also der Brandmauer, wurde immer wieder betont, nicht ohne auch darauf hinzuweisen, dass Rotgrün deren Wachstum zu verantworten hätte. Dass die große CDU-Vorsitzende und Kanzlerin Angela Merkel eigentlich den Titel der AfD-Geburtshelferin und Amme für sich beanspruchen könnte, blieb hingegen unerwähnt. Eine Krönungsmesse ist auch kein Ort ,an dem Kritik erwünscht ist.
"Steiler Move"
Selbst der CSU-Vorsitzende und gescheiterte Kanzlerkandidatenkandidat Markus Söder schoss nicht quer. Den Versuch, im Bundestag mit den Stimmen von AfD-Abgeordneten eine Mehrheit für einen eigenen Antrag zu bekommen, kommentierte er mit dem schönen Satz: „Letzte Woche war schon ein steiler Move“.
Irgendwie fuhr der Parteitag immer ein wenig zweigleisig. Alle gaben sich mehr oder weniger entschlossen in den Politikwechsel-Inhalten, artikulierten gleichzeitig mehr oder weniger Abgrenzung zur AfD.
Und dann kam endlich die Rede des Kanzlerkandidaten. In der setzte sich die Zweigleisigkeit fort, allerdings machte Merz - um bei der Gleismetapher zu bleiben - auch klar, wo die Prellböcke sind. Das versuchte er allerdings hinter viel Hoffnungsträger-Rhetorik zu verstecken. Der Nimbus des von Demonstranten Beschimpften sollte helfen. „Wir werden angegriffen“ rief er in den Saal, „jetzt kommt es darauf an, Kurs zu halten“. Das sorgte erwartbar für großen Applaus. Wie auch etliche andere Politikwechsel-Sätze.
Wer vom Jubel-Rausch nicht allzu benebelt war, konnte allerdings schon in den Zwischentönen wahrnehmen, dass sich der alte Zurückruderer gar nicht so weit von den Ufern rotgrüner Ideologie entfernt hat. Er bekannte in seiner Rede beispieslweise: „Wir wissen, dass der Weg in die Klimaneutralität unumkehrbar ist!“
Dieses Stichwort nahm er auch zum Anlass, sich von der AfD abzugrenzen und jegliche Zusammenarbeit auszuschließen. Nicht nur Koalitionen, ja nicht einmal das, was er vor nicht allzu langer Zeit noch „Zufallsmehrheiten“ nannte, sollte es geben. Demzufolge auch keine Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten. „Diese Partei steht gegen alles, was unsere Partei in den letzten Jahren und Jahrzehnten in Deutschland aufgebaut hat, sie steht gegen die Westbindung, gegen den Euro, gegen die Nato“, hieß es von ihm. „Es gibt keine Zusammenarbeit, es gibt keine Duldung, es gibt keine Minderheitsregierung.“ Er wolle die AfD zu einer Randerscheinung machen. „Da gibt es kein Wenn und Aber.“
Und immer ist der Wähler schuld
Aber wie will er das machen, wenn er alle Varianten, die ihm einen Politikwechsel ermöglichen, kategorisch ausschließt? Oder hofft er auf ein Merz-Wunder, das ihm zu einer absoluten Mehrheit verhilft? Wer alle Optionen ausschließt, muss doch am Ende zwingend wortbrüchig werden. Aber der Kanzlerkandidat Merz hat ja gar nicht alles ausgeschlossen. Zu Rotgrün hat er zwar eine verbale Distanz aufgebaut, aber hat er wirklich kategorisch Koalitionen nach der Wahl ausgeschlossen? Ja, der Söder hat erklärt, dass man nicht mit den Grünen koalieren könne, aber Merz nicht. Und Söder beherrscht den plötzlichen politischen Positionswechsel noch besser als Merz das Zurückrudern.
Also zeigte der Kanzlerkandidat am Ende nur im Ausschließen eine gewisse Klarheit. Verbal stellte er sich der Frage „Wie wollt Ihr das durchsetzen?“ durchaus. Und eine bemerkenswerte Antwort hatte er darauf auch: „Mit Abstand“. Er meinte damit den Abstand, mit dem CDU/CSU am Wahltag vor anderen Parteien liegen werden. Je größer dieser Abstand sei, desto mehr könne er von seinem Programm umsetzen, sagte er. Die Wähler entschieden genau darüber.
War da nun in einem ganz anderen Gewande schon wieder der Zurückruderer Merz unterwegs? Oder glaubt in den Unionsparteien ernsthaft jemand, solche Aussagen brächten massenhaft Wähler dazu, in der Hoffnung auf einen Politikwechsel CDU/CSU zu wählen?
Da ist es wohl eher wahrscheinlich, dass es jetzt nur darum geht, möglichst gut durch diese Wahlen zu kommen. Wenn Friedrich Merz dann nicht umsetzt, was er versprochen hat, weil er ja Kompromisse mit Rotgrün schließen muss, haben in der Logik seiner Rede die Wähler schuld, die ihm nicht genügend Abstand zur Konkurrenz schenkten.
Oder könnte es ein Wahlergebnis geben, das Merz um des besseren Regierens willen seine Ausschluss-Versprechen vergessen lässt und er sich an der Brandmauer wieder aufgeschlossener zeigt? Wer damit liebäugelt, seine Stimme den Unionsparteien zu geben, weiß also auch nach den Debatten der letzten Woche und der Krönungsmesse derzeit nicht, was er für seine Stimmabgabe bekommt. Aber mit dieser Ratlosigkeit sind potentielle CDU-Wähler nicht allein.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.