Friedrich Merz spielt ein riskantes Spiel. Er will in der Migrationspolitik demonstrativ umsteuern, gleichzeitig die AfD demütigen, um Brandmauerwächter zu bleiben und seine künftigen rotgrünen Koalitionspartner vorführen. Am Ende droht die Rolle des Königs Ohneland.
Friedrich Merz hat sich bislang nicht gerade als ein Macher positioniert, noch nicht einmal als ein besonders brillanter Redner. Bislang hat es ausgereicht für ihn, sich vorsichtig und schrittweise vom Kurs der Angela Merkel abzusetzen, ohne ihr im Nachhinein wehzutun. Bislang war es genug für ihn, seinen Finger in die Wunden der zerbrochenen Ampelkoalition zu legen und auf die eigene Mehrheit mit einer oder mehreren der ehemaligen Ampel-Parteien zu hoffen. Und so schlingert das Land auf den Wahltermin zu, in vier Wochen.
Die normative Kraft des Faktischen
Nun diktiert nicht nur das Programmatische, die behutsame Kurskorrektur, den Kurs des Wahlkampfes, sondern auch das Tagesgeschehen. Insolvenzen und Abwanderungstendenzen in Industrie und Produktion erinnern an die frühen 1980er Jahre unter der SPD-geführten Regierung des Helmut Schmidt, ebenso wie der neue kalte und heiße Krieg gegen die Interessen und die Aufrüstung Russlands an jenen damaligen gegen die Sowjetunion. An dieser Stelle mag es genügen, sich an die Blaupause von damals zu halten, die eigene Haltung als Transatlantiker zu betonen, die eigene vorsichtige Annäherung an die USA des Donald Trump zu versuchen und sich als Protagonisten eines westlichen Bündnisses zu präsentieren, das die eigene Identität erneut durch wirtschaftliche und militärische Stärke wiederzuerlangen sucht.
Das mag schwieriger sein als damals. Dennoch dürfte sich Friedrich Merz dabei nicht allzu weit entfernt wissen von der SPD und sogar den Grünen, die auf ihrem letzten Parteitag der Aufrüstung grundsätzlich bereits zugestimmt haben; während ihn, Merz, Meilen, ja, Welten trennen von der Auffassung der AfD oder des BSW, den möglichst schnellen Ausgleich mit Russland auch zu Lasten und gar auf Kosten der Ukraine zu suchen und Frieden dort so schnell wie möglich anzustreben.
Hier ergeben sich mit AfD und BSW die geringsten Schnittmengen. Es sind Schnittmengen, die CDU und SPD im Osten des Landes nur mit umständlichsten Präambeln und Absichtserklärungen zum Schein erzeugen konnten, um dort Landesregierungen zu bilden oder tolerieren zu lassen, die ohne das BSW nicht handlungsfähig wären. Und so hält das Tagesgeschehen Einzug auch in den Bundestagswahlkampf, wenn auch auf anderem Sektor. Und dort sind die Schnittmengen mit AfD und BSW unübersehbar, zum Leidwesen des Friedrich Merz.
Vorhang auf: die Migration
Deutschland hat so viele Einwohner wie nie zuvor: über 83 Millionen. Dieser Zuwachs ist allein durch die Migration seit 2015 zustande gekommen. Nur die Rechnung „mehr Menschen – mehr Manpower – mehr Knowhow - mehr Produktion“ ist nicht aufgegangen. Stattdessen schrumpft die deutsche Produktivität das zweite Jahr in Folge. Doch mehr als das: Die Morde von Magdeburg und Aschaffenburg haben das zweite große Thema der Hinterlassenschaft Angela Merkels schonungslos offengelegt, von dem Friedrich Merz sich distanzieren muss, um ein glaubhafter Kanzler werden zu können: das Versagen der deutschen Migrationspolitik im Hinblick auf die innere Sicherheit. Und für dieses Problem gibt es keine Blaupause. Am ehesten mag Friedrich Merz noch an den „Asylkompromiss“ des Helmut Kohl denken. Denn eine Situation wie damals gilt es sicher nicht nur aus Sicht des Friedrich Merz zu verhindern. Und ist es zynisch, wenn ich heute nüchtern feststelle, dass damals ausländerfeindliche Stimmungen und Ausschreitungen den Ausschlag gaben, während heute wieder und wieder Migranten die innere Sicherheit Deutschlands durch Gewalttaten gefährden?
In beiden Fällen handelte und handelt die Politik als eine Getriebene; und das angeblich rassistische Deutschland von heute reagierte lange friedlicher, toleranter und leidensfähiger als das damalige. Zu einfach war und ist es für alle Beteiligten und Unbeteiligten, zur Tagesordnung überzugehen, Beileid zu bekunden und Bestürzung, um anschließend nichts zu tun. Vor Bundestagswahlen wird das schwieriger. Hier muss ein künftiger Kanzler sich als Macher präsentieren, erst recht, wenn ein Donald Trump in den USA binnen weniger Tage ähnliche Probleme per Dekret angeht. Der „weiche Stil“, die feingliedrig-elegante Gebärdensprache, löst weder die Probleme noch wirkt er tatkräftig genug, ihre Lösung wenigstens zu versprechen.
Allerdings hat der kantige Stil, die Renaissance des Realismus, längst Einzug gehalten in den Diskurs. Selbst die AfD möchte zwar keinen Austritt mehr aus der EU, aber ihre tiefgreifende Reform bleibt ihr Ziel, weg vom Zentralismus Brüssels hin zur Autonomie der Nationalstaaten, und in den Niederlanden, in Italien, Ungarn und sogar im Polen nach der PiS hat dieses Bestreben starke Befürworter; auf Emmanuel Macron in Frankreich ist schon kein Verlass mehr. Sich auf eine rein europäische Regelung der Migration zurückzuziehen, hat ohnehin seit 2015 keinerlei Erfolge nach sich ziehen können, und selbst ein Andeuten des Abwartens bis zum Sankt Nimmerleinstag kann ein Friedrich Merz sich im Vorfeld der Bundestagswahlen daher nicht leisten.
Den Hut aufhängen
Was also läge näher, als seinen Hut nicht nur in den Ring zu werfen, sondern ihn so weit oben aufzuhängen, dass alle darunter hindurchgehen müssen? Ein wenig ist Merz dabei auch ein Getriebener nicht nur des Tagesgeschehens, sondern auch der AfD. Hat ihm doch Alice Weidel, die Kanzlerkandidatin der AfD, in einem offenen Brief eine Lösung der Migrationspolitik in Zusammenarbeit angeboten.
Und nun beginnt der Schlingerkurs des Friedrich Merz. Erst ließ er verlautbaren, das Angebot sei „vergiftet“. Dann kündigte er einen eigenen Gesetzentwurf an, noch vor den Bundestagswahlen, und wessen Zustimmung dieser finde, sei nicht von Bedeutung. Ich erspare mir die Aufgeregtheiten von Seiten der Grünen, Luisa Neubauers und des Bundesgesundheitsministers, die den „Faschismus“ und das Zusammengehen mit „Nazis“ in den Startlöchern wähnen, und konzentriere mich lieber auf die Tagespolitik: Über sechzig Prozent der Wahlberechtigten wünschen sich laut dem Demoskopie-Institut Insa eine nachhaltige Veränderung der deutschen Einwanderungspolitik im Sinne der inneren Sicherheit; sie alle sind Wahlberechtigte, auf die Friedrich Merz nicht verzichten kann. Also gilt es, ein starkes Zeichen zu setzen.
Es wäre nicht weniger als sensationell, wenn Friedrich Merz seinen Geßlerhut so hoch hängen könnte, dass er diese Mehrheit erzielen könnte, mit SPD, Grünen, FDP und mindestens Teilen der AfD. Groll, gar Wut und Hass seiner potentiellen Koalitionäre aus SPD und Grünen wären ihm sicher, aber auch deren Angst vor der Missgunst der Wahlberechtigten an der Urne. Und so geht es auch der AfD: Soll sie jetzt eine Sache torpedieren, die sie selbst mit vorgeschlagen hat? Denn die Brandmauer möchte Friedrich Merz ja stehen lassen; nur eben nicht in dieser einen Sache. Dass die AfD gekniffen hätte, als es wirklich ernst wurde, könnte sie am Wahltag Stimmen kosten. Und so scheint die AfD auch bereits Zustimmung zu signalisieren. Die SPD hingegen will einen eigenen Gegenvorschlag vorlegen.
Der Geßlerhut ist die Zwickmühle
Fürs erste klingt das Vorgehen des Friedrich Merz nach einem genialen Plan: Beweise Macht vor den Wahlen, fordere Zustimmung - egal, wie die Sache ausgeht. Hänge deinen Geßlerhut auf und zwinge alle, ihn zu grüßen. Es bleibt nur ein kleines Problem: Sich einer „Zufallsmehrheit“ auszusetzen, die Friedrich Merz sicher auszuschließen versprach, bedeutet nun für ihn, sich eben dieser Zufallsmehrheit des deutschen Bundestages zu stellen, die eben nicht nur die AfD, sondern auch die SPD und die Grünen einschlösse. Das kann man für mutig halten; aber es ist ein Vabanque-Spiel, es kann auch völlig schiefgehen. Ein künftiger Kanzler, der das eben noch mit Verve Vorgetragene vor den Wahlen grandios vergeigt, sieht nicht aus wie ein Macher, nicht wie der große Friedrich, sondern wie ein König Ohneland.
Nun ist es also an AfD, SPD und Grünen, den „Macher“ zum König zu machen und sich selbst zu blamieren oder – auflaufen zu lassen und lieber alle zu blamieren, aber allen voran: Friedrich Merz.
Merz spielt mit den anderen Parteien „du oder ich“, und das könnte sehr wohl nach hinten losgehen. – Tagespolitik Ende: So oder so ist es danach am nächsten Kanzler, auch das Migrationsproblem Deutschlands im Hinblick auf die innere Sicherheit zu lösen, ganz egal, was bei des Friedrich Merz geplantem Showdown herauskommt. Der Geßlerhut ist die Zwickmühle. Dessen sollten sich auch die Wahlberechtigten am 23. Februar klar sein. Und Friedrich Merz.
Dr. med. Jesko Matthes war Alumnus der Studienstiftung des Deutschen Volkes, immunologische Promotion über Tumornekrosefaktor- und Lymphotoxin-Messung, auch in virustransfizierten Zelllinien maligner Lymphome. Notarzt mit LNA-Qualifikation. Er ist Arzt und lebt in Deutsch-Evern.