Der CDU-Kanzlerkandidat hat mit AfD und FDP eine Abstimmung knapp verloren. Rotgrün feiert einen mit Angela Merkels Hilfe errungenen Pyrrhus-Sieg, und der AfD wird es am Ende nützen. Die Sachpolitik ist völlig vergessen.
Was war das für eine Aufführung mit Überlänge gestern im Reichstag: Tragikomisches und absurdes Staatstheater rund um eines der drängendsten Probleme Deutschlands. Also genau dort, wo man sich das Funktionieren einer sachorientierten und professionellen parlamentarischen Demokratie wünschen würde. Andererseits sollte der Staatstheaterkritiker hier auch gnädig sein beim Blick auf den Versuch des CDU-Kanzlerkandidaten, einfach mal einen wichtigen Gesetzentwurf im Parlament abzustimmen, auch ohne dass vorherige Kartellabsprachen funktioniert hätten. Das ist eigentlich viel demokratischer, als die sonst gewohnte Bundestags-Routine.
Doch woran lag es, dass Friedrich Merz am Ende gescheitert ist? Fragt er sich jetzt insgeheim, ob er doch besser zurückgerudert wäre, wie sonst noch jedes Mal, wenn er mit unbedachten Worten den Eindruck erweckte, er würde nun doch zaghaft damit beginnen, seine Partei aus der geistigen Gefangenschaft der Merkel-Ära zu befreien?
Ob sich Friedrich Merz jetzt wie ein Kapitän im Rettungsboot fühlt, nachdem sein Schiff leckgeschlagen ist? Verfolgt von einem Seeungeheuer, das den veränderten Kurs seines Schiffes mit einem Fluch belegt hat?
Die sogenannte Brandmauer schützt bekanntlich die Macht von Rotgrün und eröffnet den Linksaußenparteien Machtoptionen. SPD und Grüne haben sich mit ihrer Gefolgschaft und allen fördermittelfinanzierten Vorfeldorganisationen an diese komfortable Lage gewöhnt: Mindestens eine der beiden Parteien sitzt sicher in der Regierung, solange diese Mauer hält oder die Wähler vielleicht für eine ganz böse Zäsur sorgen.
Für die AfD, gegen die sich die Brandmauer ja angeblich richtet, ist sie wie die tragende Wand eines Gewächshauses. Vor dem rauhen Wind eigener Verantwortung geschützt, sorgt jede Politik, die die Bürger bedrückt, wie Dünger für ihr Wachstum. Und von diesem Dünger liefern die Regierungsparteien der letzten zehn Jahre reichlich.
Das Allerheiligste der großen Vorgängerin
Nur für die CDU ist diese Brandmauer ein Gefängnis. Die relative Umfragestärke der letzten Monate ist trügerisch, denn sie kann daraus politisch nichts machen. In den Brandmauergrenzen bleibt sie – allenfalls etwas gedämpft – zur Umsetzung rotgrüner Politik gezwungen.
Kein Wunder also, dass Friedrich Merz in dieser Woche zweimal wenigstens an der Brandmauer kratzen wollte. Er tat dies nur zögernd und zaghaft. Beim ersten Mal, am Mittwoch, hatte er dabei einen sichtbaren kleinen, wenn auch nur symbolischen Erfolg, denn der Bundestag hatte mit CDU-, AfD- und FDP-Stimmen nur eine Absichtserklärung ohne praktische Folgen beschlossen. Aber es ging um die Migrationspolitik, mithin das Allerheiligste der großen Vorgängerin Angela Merkel.
Am Freitag stand dagegen ein CDU-/CSU-Gesetzentwurf zur Zuwanderungsbegrenzung auf der Tagesordnung. Dessen Beschluss gegen Rotgrün wäre noch ein stärkeres Signal gewesen. Zwischen diesen beiden Bundestagssitzungen hatten viele Beobachter spekuliert, dass Merz wieder das tun könnte, was man von ihm kannte: Zurückrudern.
Dafür sprach, dass er sich nach seinem Mittwochs-Erfolg beinahe dafür entschuldigte, selbigen mit Hilfe der AfD errungen zu haben. Er sagte, dass er eine Mehrheit mit der AfD ja nicht gewollt hätte, sondern ihm eine Mehrheit zusammen mit der SPD lieber gewesen wäre und appellierte an die "demokratische Mitte", sie solle seinem Gesetzentwurf stattdessen zu einer Mehrheit verhelfen.
Konnte man Merz also wieder zum Zurückrudern drängen? Organisiert von Gruppen der fördermittelfinanzierten "Zivilgesellschaft", wurde seit Mittwochabend vor der CDU-Zentrale in Berlin und verschiedenen Parteibüros in anderen Städten gegen den neuen Merz-Kurs demonstriert, als ginge es darum, Deutschland damit vor einer neuen Machtergreifung der Nationalsozialisten zu bewahren. Machte das auf die CDU-Führung nicht ein bisschen Eindruck?
Viel wichtiger war noch, dass sich Angela Merkel zu Wort meldete, die gemeinsame CDU-AfD-FDP-Mehrheit für einen CDU-Antrag über Eckpunkte künftiger Asylpolitik als schweren Fehler ihres Nachnachnachfolgers im Parteivorsitz geißelte und "empfahl", stattdessen eine Übereinkunft mit Grünen und SPD zu suchen. Das erinnerte sicher nicht nur Friedrich Merz an jenen Februartag vor fünf Jahren, als Angela Merkel aus Südafrika dekretierte, dass die mit den Stimmen von CDU, AfD und FDP erfolgte Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten rückgängig zu machen wäre.
"Demokratische Mehrheit organisieren"?
Würde Merz da standhalten? Offenbar glaubten viele Akteure, sie könnten ihn auch diesmal wieder zum Einknicken bringen. Und am Freitagmorgen gab es einige Nachrichten, die nahelegten, Friedrich Merz würde nach der Ansage von "Mutti" brav einknicken und zurückrudern, quasi als Pendant zum "rückgängig machen". Es schien auch, als wäre ein Weg gefunden worden, die Abstimmung am Freitag ausfallen zu lassen. Vielleicht verdient diese parlamentarische Staatstheater-Aufführung noch einmal eine genauere rückblickende Würdigung.
Noch vor Beginn der Debatte über das Zustrombegrenzungsgesetz trat der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr vor die Presse und erklärte, dass er eine Rücküberweisung in den Innenausschuss beantragen werde. Das solle zeigen, dass man nicht mit der AfD stimmen wolle, sagte er. Zwar wäre seine Fraktion inhaltlich für das Gesetz, aber nicht mit einer Mehrheit, die die AfD einschließt. Mit einer Rücküberweisung hätte man bis zur allerletzten Plenarsitzung am 11. Februar Zeit, doch noch einen Kompromiss mit Grünen und SPD zu finden, denn ein solches Gesetz sollte doch bitte mit einer Mehrheit der "demokratischen Mitte" beschlossen werden. Die FDP sehe es als ihren Auftrag, diese Mehrheit zu organisieren. Besser konnte er zum Auftakt des folgenden Schmierentheaters nicht zusammenfassen, dass es hier nicht mehr um den Inhalt des Gesetzes ging, nicht mehr um Migrationsprobleme, sondern nur noch um den konsequenten Ausschluss der AfD-Mandatsträger von möglichst allen Entscheidungen.
Und wie reagierte Friedrich Merz? Nahm er das als Einladung zum Zurückrudern an? Als die Debatte über das Zustrombegrenzungsgesetz aufgerufen wurde, beantragte der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion jedenfalls sofort eine halbstündige Unterbrechung der Plenarsitzung. Die CDU/CSU-Fraktion hätte etwas zu klären. Bei einer halben Stunde Sitzungsunterbrechung blieb es nicht. Statt einer dramatischen Abstimmung wurden es am Ende vier Stunden des dramatischen Wartens. Würde es zur Rücküberweisung kommen? Würde Merz einknicken? Gäbe es dafür von Rotgrün eine gesichtswahrende Belohnung?
Während der Sitzungsunterbrechung sprach Merz nicht nur mit seiner Fraktion. Es gab separate Gespräche, zuerst mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich und dann mit den beiden Grünen-Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann und Katharina Dröge. Auch die anderen Fraktionen, außer die AfD, versammelten sich zu Beratungen.
"Sündenfall" und "Tor zur Hölle"
Kurz vor der Fortsetzung der Plenarsitzung trat der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr erneut vor die Presse und erzählte empört, dass er jetzt noch einmal vergeblich
versucht hätte, ein gemeinsames Agieren der "demokratischen Mitte" zu erreichen. Sein Angebot an Grüne und SPD wäre es gewesen, dass man das Zustrombegrenzungsgesetz jetzt gemeinsam in den Innenausschuss zurücküberweisen könne, um es dann am 11. Februar ebenfalls mit einer gemeinsamen Mehrheit zu beschließen. Im Gegenzug hätte er angeboten, dass seine Partei auch dem rotgrünen Gesetzentwwurf zur europäischen Asylpolitik zu einer Mehrheit verhelfen würde. Doch das sei abgelehnt worden. Dürrs Fazit: SPD und Grüne sind offensichtlich nicht bereit zu einer Wende in der Migrationspolitik. Die sei glasklar für das Gesetz, nur nicht ganz so glasklar, wenn die Mehrheit dafür auch an der AfD hängt. Letztlich war ja dann auch das Ergebnis entsprechend: 16 der 90 FDP-Abgeordneten haben nicht mit abgestimmt, fünf haben sich enthalten und zwei dagegen gestimmt. Das waren entscheidende Größenordnungen, da die Ablehnung des Antrags bekanntlich mit nur elf Stimmen Vorsprung erfolgte.
Aber zurück zur freitäglichen Staatstheateraufführung. Den Reigen der Debattenredner eröffnete der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der mit großkalibrigen Textbausteinen kam, als er Friedrich Merz zurief: "Der Sündenfall wird Sie für immer begleiten aber das Tor zur Hölle können wir noch schließen." Der Warnung vor dem Fegefeuer, wenn man erneut mit der AfD stimmt, folgte die Forderung: "Ziehen Sie die Brandmauer wieder hoch." Einem unvorbereiteten Zuschauer hätte sich bei dieser Rede wohl kaum erschlossen, dass es in dem Gesetzentwurf weder um Hölle, Sündenfall oder die AfD ging, sondern um die Bewältigung der Migrationskrise.
Da konnte Friedrich Merz dann auch leicht kontern, indem er darauf verwies, dass sowohl die Entschließung vom Mittwoch als auch der in der Debatte zur Rede stehende Gesetzentwurf in der Sache richtig seien und es bedauerlich wäre, dass es der SPD offenbar nur um Parteipolitik und nicht um den Inhalt, also die Eindämmung der illegalen Einwanderung, gehe. Dass der Bundestag angesichts der Opfer schwerster Straftaten von Asylbewerbern nicht über ein solches Gesetz entscheiden könne, wäre den Bürgern kaum vermittelbar.
Der auf Merzsches Zurückrudern eingestellte Zuschauer war schon von dessen Standfestigkeit nach den stundenlangen Kugelrunden und Fraktionssitzungen überrascht. Doch dann kam – zwar zaghaft, aber immerhin klar – auch noch klare Kritik an der Zuwanderungspolitik der Merkel-CDU. Die CDU, so Merz, trage eine gehörige Mitverantwortung dafür, dass die AfD im Bundestag sitze. Allerdings für ihren dramatischen Zustimmungszuwachs in den letzten Jahren machte Merz die Asyl- und Einwanderungspolitik der Ampel-Regierung verantwortlich. Dabei war die doch nur die Fortsetzung von Merkels Asyl- und Zuwanderungspolitik.
Zur emotionalen Inszenierung dieses Bundestagsstücks – das zeigte sich bei diesen beiden ersten Reden – gehörte es auch, die eigenen Redner im Plenum mit donnerndem Applaus und stehenden Ovationen zu begleiten. Manchmal hätte man wirklich vergessen können, dass es hier eigentlich "nur" um einen Gesetzesentwurf gehen sollte.
"Schande vom Mittwoch korrigieren"
Für die Grünen sprach Annalena Baerbock, nicht der Kanzlerkandidat. Wenig verwunderlich, ging es auch in ihrer Rede eher am Rande um den Inhalt des zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurfs. Sondern: "Es geht darum, wie wir die Schande vom Mittwoch einigermaßen korrigieren können."
Und dann löste sich die Debatte vollends vom ursprünglichen Inhalt, denn Rotgrün und Schwarzgelb begannen den erbitterten Streit darum, an wem denn die Kungelrunden während der Sitzungsunterbrechung gescheitert wären. Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU, Thorsten Frei, und Annalena Baerbock bezichtigten sich gegenseitig lautstark der Lüge. Baerbocks Argumente bewegten sich dabei auch auf dem Niveau der Aussage, dass sie es gewohnt sei, dass Männer, wenn sie nicht mehr weiter wüssten, einem Lügen vorwerfen.
Wolfgang Kubicki schlüpfte in seine Rolle als Klartext-Beauftragter seiner Partei. Er fragte die Bundesregierung, was sie eigentlich gegen die Angriffe auf CDU-Zentralen täte, erinnerte an die Dringlichkeit eines Kurswechsels in der Migrationspolitik und hielt Rotgrün vor: "Was sie hier seit Mittwoch aufführen, ist Schmierentheater". Gerade die Spezialdemokraten würden dafür an der Wahlurne womöglich einen hohen Preis zahlen müssen.
Bernd Baumann von der AfD sagte Erwartbares über die Unzuverlässigkeit der CDU, wenn es um Migrationspolitik und auch generell die Abkehr von rotgrüner Politik gehe. Aber zum Schluss wollte er wohl mit dem Pathos-Niveau von Rolf Mützenich gleichziehen, als er rief. "Dauerhaft erlösen kann Deutschland nur die AfD."
Auch Innenministerin Nancy Faeser meldete sich zu Wort, um zu behaupten, der CDU-Gesetzentwurf würde gegen Europarecht verstoßen und berief sich dabei auf Angela Merkel. Ihr Genosse Lars Klingbeil versuchte es am Schluss noch einmal dramatisch:
"Vielleicht sind diese Minuten die letzte Chance, die wir haben."
Die Rotgrünen, die sich laut Mützenich bereits am Höllentor wähnten, konnten bekanntlich am Ende jubeln. Mit elf Stimmen Vorsprung wurde der Gesetzentwurf abgelehnt. Wie schon geschildert, fehlten die meisten Stimmen bei der FDP, obwohl mancher Beobachter wohl auch den ersten Gedanken hatte, dass Merz hier ein Opfer der Merkelianer in der Partei geworden wäre. Aber in seiner Fraktion gab es keine Nein-Stimmen und keine Enthaltungen, allerdings erschienen zwölf Unionsabgeordnete nicht zur Abstimmung. Das sind bei 196 Fraktionsmitgliedern nicht allzu viele, aber auch zwölf Stimmen hätten dieses knappe Ergebnis drehen können.
Zum Zurückrudern zu weit hinausgefahren
Die Jubler von Rotgrün – vor allem von der SPD – dürften einen Pyrrhus-Sieg errungen haben. Dass sie Anträgen zu einem Kurswechsel in der Migrationspolitik die Zustimmung verweigern, die laut Umfragen sogar eine Mehrheit der SPD-Anhänger richtig finden, ist im Wahlkampf bestimmt nicht hilfreich. Gewinner in Wählerstimmen dürfte hingegen die AfD sein, wahrscheinlich in größerem Umfang, als wenn das Gesetz, dem sie geschlossen zugestimmt haben, gestern beschlossen worden wäre.
Viele Wähler stimmen schon vor allem deshalb für die AfD, weil sie den politischen Verantwortungsträgern signalisieren wollen, dass es insbesondere in der Migrationspolitik dringend einen Kurswechsel braucht. Nach der gestrigen Parlamentsaufführung, in der es mehr um die AfD, als um das Thema ging, dürften noch mehr Bürger es für angeraten halten, auf diese Weise ihre Wünsche deutlich zu machen.
Und Friedrich Merz? Hat er nun verloren? Wird die CDU deshalb an Zustimmung verlieren? Das lässt sich noch nicht sagen, denn es kommt auf den Auftritt der Partei an. Zeigt sie sich zerrissen? Lässt sie nun ab vom Merkel-Kurs? Das bleibt abzuwarten.
Aber Friedrich Merz ist davon nun zu weit abgewichen, um noch in den sicheren Hafen zurückrudern zu können. Seine politische Zukunft hängt jetzt davon, ob er es schafft, souverän auf eigenem Kurs zu fahren oder es wenigstens so aussehen zu lassen. Und auch davon, ob er seine Partei aus dem Brandmauer-Gefängnis befreien kann.
Und all jene, die die AfD nicht mögen oder gar Angst vor ihr haben, sollten erkennen, dass ihnen eine Brandmauer nicht hilft, hinter der die Partei immer stärker wird. Es hilft nur, sich wieder nach den Wünschen und Bedürfnissen des Souveräns, also der Bürger zu richten, als selbige nach eigenen Wünschen umerziehen zu wollen. Das zahlt sich in Wählerstimmen aus. Die dänischen Sozialdemokraten sind dafür ein gutes Beispiel.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.